Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Auch ich möchte mich mit den Hauptargumenten auseinandersetzen, die gegen direkte Demokratie auf Bundesebene ins Feld geführt werden.
Herr Richter, die Auffassung, direkte Demokratie bedeute die Abwertung des Parlaments oder die Förderung von Populismus und Polemik, ist schlichtweg falsch. Parlamentarier werten ihre demokratische Arbeit gerade dadurch ab, dass sie ihrem Souverän, dem deutschen Volk, die Mündigkeit absprechen, unmittelbar über Fragen zu entscheiden, die es bewegt. Ist denn der Sächsische Landtag durch die Ermöglichung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden etwa in seiner Parlamentsfunktion abgewertet?
Liebe Kollegen! Fühlen Sie sich als Parlamentarier zweiter Klasse, weil es in Sachsen Volksentscheide gibt? Haben Sie daher keine Angst davor, auch auf Bundesebene den Bürger als Partner an der legislativen Gewalt zu beteiligen, und sehen Sie es vielmehr als Bereicherung und Belebung für unsere Demokratie an, wenn der Wähler über die Bundestagswahlen hinaus die Möglichkeit eines Korrektivs erhält.
Das Argument, dass Kontrolle und Ausgleich bereits durch die parlamentarische Opposition in ausreichendem Maße stattfinde, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Wie soll eine effektive Kontrolle aus dem Parlament selbst heraus vonstatten gehen, wenn wichtige Gesetzesvorhaben selbst von den Parlamentariern nicht mehr verstanden werden oder gar in Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht werden, wie es beispielsweise bei den Rettungsmaßnahmen für kriselnde Euro-Staaten geschah?
Ja, wir haben einen Antrag gestellt, dass sich die Landesregierung auf Bundesebene für Volksentscheide einsetzen soll. Deswegen spreche ich natürlich über die Gesetzesvorhaben, die auf Bundesebene kritisch waren und eine Korrektur durch einen Volksentscheid hätten gut gebrauchen können.
Der Mangel an Ausgleich zwischen Parlamentshaltung und Volksmeinung wird gerade am Beispiel der Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene offensichtlich, wenn sich drei Viertel der Bundesbürger für direkte Demokratie aussprechen, aber die Politik sich verweigert.
Den Bürgern den Sachverstand abzusprechen, um komplexe politische Sachverhalte richtig zu verstehen, ist auch ein fragwürdiges Argument, das trotzdem immer wieder ins Feld geführt wird; denn wenn man die Talkshow-Auftritte mancher Politiker betrachtet, scheint es mit deren Sachverstand mitunter auch nicht so sehr weit her zu sein.
Sollten Sie den Bürgern den grundsätzlichen Sachverstand, ja, das gesunde Urteilsvermögen absprechen, stellen Sie damit die Demokratie als solche in Frage. Wenn allerdings eine Familienministerin morgen Arbeitsministerin und übermorgen Verteidigungsministerin werden kann, scheinen Kompetenz und Sachverstand auch bei den Politikern nicht unbedingt das entscheidende Kriterium zu sein.
Direkte Demokratie bedeutet auch nicht, dass finanzstarke Lobbyisten noch mehr Einfluss auf die Politik nehmen können. Finanzstarke Lobbyisten beeinflussen bereits heute Parlamentarier und sogar Ministerien im Sinne ihrer Partikularinteressen. Doch dies geschieht häufig genug hinter verschlossenen Türen und ist für die Öffentlichkeit nicht sichtbar. Direktdemokratische Elemente oder die bloße Befürchtung, diese oder jene Entscheidung könnte zum Gegenstand eines Volksentscheides werden, zwänge die Politik zu mehr Transparenz in ihren Entscheidungsprozessen.
Die direkte Demokratie bedeutet nicht, dass den Medien der sogenannten vierten Gewalt in unserem Staat noch mehr Macht zufließen würde. Die Beeinflussung der Bürger durch Medienkonzerne ist auch heute bereits Realität. Doch in den Zeiten des Internets und der sozialen Medien schwindet diese Macht zusehends. Vertrauen wir doch einfach dem Urteilsvermögen des Wählers, denn immerhin hat er auch Sie gewählt. Oder war seine Entscheidung etwa durch Medienkonzerne fehlgeleitet und damit falsch?
Wir halten es für verschmerzbar, wenn Volksentscheide gegen neue Gesetze das politische Geschäft etwas langsamer und teurer machen. Die Kosten, die unserem Land durch allerlei Verschlimmbesserungen aus taktischen oder ideologischen Motiven der Parteien in der Bundesgesetzgebung entstanden, sind nicht geringer. Man denke dabei nur an den Flickenteppich der verschiedenen Gesundheitsreformen.
Wenn man schon argumentiert, die Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen könne durch eine geringe Beteiligung infrage gestellt werden, sollte man dann
vielleicht auch die Parlamentswahlen annullieren, wenn weniger als 50 % der Wahlberechtigten zur Urne gegangen sind.
Dass Gesetze, die mit Steuererhöhungen verbunden sind, keine Mehrheiten bekommen würden, ist empirisch falsch. Trotzdem wird auch dieses Argument immer wieder ins Feld geführt. Auch die Schweizer haben schon für Steuereinführung und Steuererhöhungen gestimmt. Dem ist allerdings eine genaue Erklärung der Sachverhalte vorausgegangen. Die dafür notwendige Zeit sollten sich die Politiker auch nehmen. Doch dass das Volk eine Klientelpolitik à la Hotelsteuer betreiben würde, diese Gefahr sehe ich allerdings überhaupt nicht.
Wenn sich Menschen noch weniger als bislang in Parteien engagieren, weil sie durch direkte Demokratie selektiv ihre Interessen durchsetzen können, stellt auch dies keinen Verlust für unsere Demokratie als Ganzes dar. Es ist verständlich, wenn Parteien Angst haben, noch mehr Mitglieder und damit noch mehr Einnahmen zu verlieren.
Aber viel wichtiger als die Zahl von Parteimitgliedern ist doch etwas anderes: Statt steigender Politikverdrossenheit würden durch direkte demokratische Elemente die Menschen wieder Interesse an den Möglichkeiten gewinnen, Demokratie bewusst und aktiv mitzugestalten. Der Mehrwert für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung könnte kaum größer sein, um sinngemäß Willy Brandt zu zitieren: Wir sollten endlich mehr Demokratie wagen!
Meine Damen und Herren! Gibt es weiteren Redebedarf aus den Reihen der Fraktionen? – Das ist nicht der Fall. Jetzt frage ich die Staatsregierung, ob das Wort gewünscht wird. – Bitte sehr, Herr Staatsminister Gemkow.
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anders als die Sächsische Verfassung folgt das Grundgesetz der Idee einer reinen repräsentativen Demokratie. Nur für den Fall der Neugliederung des Bundesgebietes sieht das Grundgesetz die Durchführung von Volksentscheiden vor.
Und abgesehen davon, dass das äußerst selten vorkommt: Ein echter Fall der Volksabstimmung ist das nicht; denn zur Abstimmung bei Länderneugliederungen ist immer nur der jeweils betroffene Teil der Bevölkerung angesprochen.
Warum wurden Elemente der direkten Demokratie eigentlich nicht weitgehend im Gesetz verankert, und welche Argumente gab es in der Gründungsphase unserer Republik, die Bürger von der direkten Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung auszunehmen? Ein großer Teil der Skepsis des Parlamentarischen Rates Ende der Vierzigerjahre, 1948/49, gegenüber Elementen der unmittelbaren Demokratie ist damals auf die Erfahrungen aus der
Weimarer Zeit zurückzuführen. Damals hatten gerade extremistische politische Gruppierungen versucht, ihrer Position mithilfe von Volksentscheiden zu mehr Gehör zu verhelfen. Theodor Heuss bezeichnete die Volksgesetzgebung in einer Sitzung des Parlamentarischen Rates damals sogar als „Prämie für jeden Demagogen“.
Nachdem sich Teile der Bevölkerung in den Jahren zuvor, in den Dreißiger-, Vierzigerjahren, empfänglich für die Hetze der Nationalsozialisten gezeigt hatten, waren solche Bedenken zu dieser Zeit vielleicht nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Heute, fast 70 Jahre später, greifen diese Bedenken aber nicht mehr durch, und ich traue den meisten Menschen in unserem Land jedenfalls zu, dass sie extremistische Parolen durchschauen und sich nicht in die Irre führen lassen.
Der von Theodor Heuss befürchtete Effekt könnte sich sogar ins Gegenteil verkehren. Die Schaffung von Mitsprache- und Mitentscheidungsmöglichkeiten auf Bundesebene könnte dazu beitragen, die Akzeptanz von Entscheidungen in der Bevölkerung zu verbessern und es extremen Gruppierungen vielleicht sogar schwerer zu machen, fruchtbaren Boden für ihre Argumente zu finden. Es ist darum völlig legitim, die Frage aufzuwerfen, ob das Grundgesetz nicht durch neue Elemente direkter Demokratie ergänzt werden kann und ergänzt werden sollte.
Aber eine einfache und eindimensionale Antwort darauf gibt es in meinen Augen nicht. Zwar sind Volksbegehren und Volksentscheide auf Landes- und Kommunalebene inzwischen in allen 16 Bundesländern möglich, und bis jetzt gibt es damit auch keine schlechten Erfahrungen; aber es muss dabei auch erwähnt werden, welche Materien in den allermeisten Fällen Gegenstand der Abstimmung gewesen sind. Das waren am häufigsten bestimmte Anliegen auf dem Gebiet des Schulrechts. Zum Teil ging es auch um die Betreuung von Vorschulkindern. Häufig machten die Bürger auch Vorbehalte gegen Gebiets- und Strukturreformen geltend, vereinzelt auch gegen einzelne große Infrastrukturmaßnahmen. Andere Fälle betrafen angestrebte Änderungen im Recht der Bürgerbeteiligung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es handelt sich also vorwiegend um überschaubare Themen mit regionalen Bezügen und regionalen Abgrenzungen. Mit einer Verankerung der Volksgesetzgebung im Grundgesetz dürfte sich das aber sehr schnell ändern, darum müssen mögliche Problemfelder sorgfältig bedacht werden.
Erstens. Sollen bestimmte Materien der Bundesgesetzgebung von der Volksgesetzgebung ausgenommen werden? Auf der Ebene der Länder werden zum Beispiel Abgabengesetze, Besoldungs- und Haushaltsgesetze ausdrücklich ausgenommen. Das dürfte höchstwahrscheinlich auch auf Bundesebene sachgerecht sein.
Zweitens. Wie komplex dürfen Gesetzentwürfe überhaupt sein, damit sie im Wege eines Volksentscheides beschlossen werden können? Denn über die Abstimmung mit Ja oder Nein hinaus kann ein Volksentscheid ja nicht gehen. Ist eine intensive Diskussion des Gesetzentwurfes in Fraktionen und Ausschüssen der Parlamente mit der
Möglichkeit der Abänderung oder Ergänzung einzelner Regelungen wirklich entbehrlich? Wie kann der gebotene Minderheitenschutz wirksam gewährleistet werden, wenn die Kompromissfindung im parlamentarischen Verfahren entfällt, und wie kann trotzdem eine tragfähige Abwägung der Interessen in mehrpoligen Rechtsverhältnissen durchgeführt werden?
Drittens. Was ist mit der Beteiligung des Bundesrates? Wie könnte verhindert werden, dass womöglich zwei oder drei bevölkerungsreiche Bundesländer ihre Interessen gegenüber anderen, kleineren Bundesländern ausspielen und sie dann im Wege der Volksgesetzgebung durchführen? Für das, was im Bundesrat wahrscheinlich gar nicht mehrheitsfähig wäre, müssten vielleicht Länderquoren eingeführt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu diesen Schwierigkeiten schweigt der Antrag, der uns vorliegt. Vielmehr wird in wenigen Zeilen die umfassende Möglichkeit von Volksentscheiden gefordert. Das vermag die Staatsregierung so nicht mitzutragen. Aus der Sicht der Staatsregierung ist der Antrag aus diesen Gründen abzulehnen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! „Alle vier Jahre die Wahl zu haben reicht nicht. Wir wollen auch im Bund direkte Demokratie ermöglichen. Sie kann die repräsentative Demokratie gut ergänzen.“
Das Ziel, Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen, findet sich auch in den Wahlprogrammen von SPD, den LINKEN und der FDP; auch aus den Reihen der CDU höre ich mitunter gute Argumente für Volksentscheide auf Bundesebene.
Es ist schon erstaunlich, welche Kopfstände heute von SPD, GRÜNEN und LINKEN gemacht werden, damit sie ihren eigenen Programmen nicht folgen müssen.
Vielleicht hat der folgende Artikel in der „Sächsischen Zeitung“ von gestern einen kleinen Umdenkprozess bei Ihnen ausgelöst. Dort heißt es nämlich: „Die linke Sehnsucht erscheint auch deshalb etwas arglos, weil die Ergebnisse von Volksentscheiden tendenziell eher rechte
und konventionelle Positionen begünstigen. Das zeigen internationale Vergleiche über einen langen Zeitraum hinweg.“
Vielleicht ist auch dieser Zeitungsartikel ein Anstoß für einen Umdenkprozess bei der CDU. Unserem Land wäre es zu wünschen. Die angeblich schlechte Erfahrung der Weimarer Republik wird nun auch von Ihnen als argumentative Blockade für Plebiszite in Deutschland auf Bundesebene instrumentalisiert. Die historische Forschung hat inzwischen jedoch so viel Aufklärungsarbeit geleistet, dass diese Argumentation nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.
(Martin Modschiedler, CDU: Das hat er doch selbst gesagt, der Minister! – Zuruf der Abg. Eva Jähnigen, GRÜNE)