Protokoll der Sitzung vom 25.04.2018

Hainer See, direkt neben dem Seehaus gelegen, werden es sicher kaum erwarten können, nicht nur mit Jugendstrafgefangenen, sondern auch mit Geflüchteten aus aller Welt am Badestrand ins Gespräch zu kommen.

Auf eine erneute Evaluation kann getrost verzichtet werden. Das Seehaus in Baden-Württemberg gibt es seit 2003. Die erzielten Ergebnisse sind auch auf Sachsen übertragbar. Tobias Merckle höchstselbst sagt, das Rückfallrisiko für Jugendstrafgefangene im geschlossenen Vollzug liegt bei 50 %, im Seehaus nur noch bei 25 %. Das zeigt auch die vorliegende Evaluierung. Dagegen sprechen einige Abbrecher und die immensen Kosten. Durchschnittlich einmal im Jahr fliehen Jugendliche aus dem Seehaus in Leonberg.

Alternativen zum Seehauskonzept gibt es längst. Das RNR-Prinzip, die Behandlung von Jugendstrafgefangenen, erfolgt nicht nach einem starren Schema, sondern richtet sich speziell nach Gefährlichkeit, Bedürfnissen und Fähigkeiten des Einzelnen. Kurz gesagt: Es geht nicht darum, Jugendliche für Maßnahmen zu finden, sondern Maßnahmen für Jugendliche.

Am Hainer See, meine Damen und Herren, passiert aber etwas ganz anderes: Der kommunale Zweckverband plante und finanzierte mit Fördermitteln die Infrastruktur der Luxusbebauung Lagune Kahnsdorf, führte den Bebauungsplan für den Nordstrand inklusive Seehaus zur Bestätigung und konnte weiterhin mit staatlichen Fördermitteln deren Erschließung voranbringen. Damit tragen sie wesentlich zur Wertsteigerung des Baulandes der Firma Merckle bei.

Der Geschäftsführer der Firma Blauwasser, Christian Conrad, beschreibt jetzt die künftigen Aufgaben der Jugendlichen: Sie können helfen, den Strand sauberzuhalten, und bei der Instandhaltung der öffentlichen Anlagen mitarbeiten. Letztendlich macht es dieses Projekt erst möglich, dass keine Probleme mit nächtlichem Vandalismus entstehen.

Zusammengefasst: Ein überzeugendes Konzept: Jugendstrafgefangene einer öffentlichen Strafvollzugsanstalt arbeiten auf dem Grundstück eines Multimilliardärs, um dessen Nutzen und Profit zu mehren, oder werden direkt für diesen tätig. Für die Allgemeinheit fällt natürlich auch etwas ab: Das Seehaus Leipzig sucht derzeit dringend einen Nachtwächter auf 450-Euro-Basis.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Meine Damen und Herren, nun die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Frau Abg. Meier. Frau Meier, bitte sehr.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Jugendstrafvollzug ist prädestiniert für besondere Formen und Maßnahmen, mit denen das Vollzugsziel – also ein künftiges straffreies Leben in sozialer Verantwortung – erreicht werden soll. Der Bundesgesetzgeber hat das schon Anfang der Fünfzi

gerjahre erkannt und mit dem Jugendgerichtsgesetz hierfür die Tür geöffnet, nämlich für Vollzugslockerungen und für Vollzug in freien Formen.

Diese Regelungen finden sich jetzt auch in allen Bundesländern in den Jugendstrafvollzugsgesetzen wieder. Vereinzelt haben auch Bundesländer hier wirklich den Mut gehabt, Modellprojekte zu entwickeln, zu erproben und zu etablieren.

Der Jugendstrafvollzug in freien Formen bietet wirklich die einmalige Möglichkeit, die Jugendstrafgefangenen aus dem starren System des Gefängnisses herauszuholen und in freien Formen Behandlung angedeihen zu lassen, um hier tatsächlich die Chance zu erhöhen, wenn sie dann entlassen sind, zukünftig straffrei zu leben.

Wenn wir uns einmal anschauen, wie sich das in Deutschland entwickelt hat, dann führt der erste Blick nach Baden-Württemberg. Dort wurden schon im Jahr 2000 die ersten Schritte in Richtung Strafvollzug in freien Formen für Jugendliche gegangen, und dort wurden zwei Modellprojekte initiiert: zum einen das Projekt „Chance“, das nach einem weltanschaulich unabhängigen PeergroupPrinzip arbeitet, und zum anderen das Seehaus Leonberg, dem ein Familienkonzept und ausdrücklich christliche Werte zugrundeliegen. Das Seehaus Leonberg ist nicht nur Vorbild für das Seehaus in Störmthal, über das wir heute reden, sondern es hat auch den gleichen Träger.

In Brandenburg gibt es seit 2006 das Projekt „Leben lernen“. Das hat zwar mit dem evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk einen diakonischen Träger, jedoch ausdrücklich keine dezidiert christliche Ausrichtung. Im Gegensatz dazu gibt es zum Beispiel in NordrheinWestfalen Jugendstrafvollzug in freien Formen seit 2012, nämlich im Raphaelshaus in Dormagen. Diesem Projekt liegt die Weltanschauung zugrunde, dass die Persönlichkeit der Jugendlichen ein „Widerschein Gottes“ ist.

Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine große Vielfalt des Strafvollzugs in freien Formen und auch unterschiedliche Möglichkeiten, wie man das gestalten kann. Aus diesem Grund ist es auch sehr wichtig, dass genau diese Projekte wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Genau das hat ja hier in Sachsen der Kriminologische Dienst mit dem Projekt Störmthal zu tun versucht; jedoch kommen die Verfasser selbst zu dem Ergebnis, dass die Untersuchung nur bedingt aussagekräftig und eine erneute Evaluation dringend geboten ist.

Das liegt allerdings nicht nur an den geringen Fallzahlen, die letztlich einen Vergleich zwischen den SeehausTeilnehmern und den Jugendstrafgefangenen in RegisBreitingen nicht zulassen. Das Argument ist, dass man hier mit Fragebögen arbeiten muss, damit man eine Vergleichbarkeit herstellt. Das ist für mich natürlich aus statistischen, empirischen Gründen total nachvollziehbar; was sich mir aber nicht erschließt, ist, warum man nicht darüber hinaus konkrete Fallanalysen macht und Interviews mit den Jugendlichen einerseits, aber auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern andererseits führt.

Die fachdienstliche, insbesondere die psychologische Beurteilung der Probanden ist nämlich bei dem Bericht nicht durch unabhängige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kriminologischen Dienstes erfolgt, nein, vielmehr mussten die Fachdienste vor Ort, also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Störmthal selbst, die Klienten beurteilen und damit auch ihre Arbeit selbst. Da frage ich mich schon, wie man diese Bewertung dann beurteilt.

Auch bei der Bewertung der wenig aussagekräftigen Ergebnisse greift meines Erachtens der Bericht etwas zu kurz. Bei einer Abbrecherquote von 34 % muss ich mir doch zumindest weitere Fragen stellen als die drei Fragen, die sich hier der Kriminologische Dienst am Anfang der Studie gestellt hat. Ich muss hier die Frage nach dem Warum zentraler in den Mittelpunkt stellen, und der Bericht kommt aber leider nur zu dem Ergebnis, dass das Seehaus nicht für alle Jugendstrafgefangenen gleich geeignet ist. Das finde ich ein wenig zu kurz gesprungen.

Ich hatte letztes Jahr die Gelegenheit, mir das Seehaus Störmthal genau anzuschauen und das Konzept erläutern zu lassen. Ich gebe zu, danach hatte ich mehr Fragen als Antworten: Ist das, was ich dort erlebt habe, wirklich Resozialisierung, wie wir uns das vorstellen? Sollen die Jugendlichen und Heranwachsenden so auf eine Welt und das Leben hier draußen vorbereitet werden, wie ich es dort erlebt habe? Insbesondere dieses ausgeklügelte Bewertungs- und Rangstufensystem – vom Leo-Anwärter über Löwen-Anwärter, Löwe und Repräsentant – führt doch zu einer Verhaltenskonditionierung, deren Nachhaltigkeit übrigens auch in der Wissenschaft infrage gestellt wird.

Die Evaluation des Vorbildprojektes in Leonberg ist bereits 2008 durch die Universitäten Heidelberg und Tübingen erfolgt, und da sprachen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von einer Übernormierung des Lebens der Jugendlichen, die viel zu weit weg von dem normalen Leben da draußen ist.

Ein weiterer Aspekt, der mich zum Nachdenken gebracht hat, ist – das hat Herr Baumann-Hasske angesprochen – das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten für die Einzelnen. Wie soll denn ein Jugendlicher lernen, auch einmal mit sich selbst allein zu sein, und zwar sinnvoll allein zu sein, und nicht schon wieder auf dumme Gedanken kommt?

Ein weiterer Aspekt ist, dass sich das Seehaus zwölf Grundnormen gegeben hat, die zu Beginn des Aufenthalts nicht nur auswendig gelernt, sondern auch strikt befolgt werden müssen. Selbstverständlich – und da sind wir uns, glaube ich, alle einig – braucht ein Zusammenleben in einer solchen Gemeinschaft klare Regeln, und Verantwortungsbewusstsein und Respekt gegenüber anderen sind unverzichtbar.

Aber welchen pädagogischen Mehrwert haben mit Blick auf die Gesellschaft und die Resozialisierung Regeln, die das Seehaus als Institution selbst in den Fokus nehmen, zum Beispiel Regeln – und da darf ich einmal zitieren – wie: „Wir werden nichts tun, das uns selbst oder das Seehaus in ein schlechtes Licht rückt.“ Das erschließt sich

mir schlicht nicht. Werden hier straffällige Jugendliche wirklich auf die Rückkehr in die Gesellschaft außerhalb des Seehauses, auf ein Leben vorbereitet, in dem man auch einmal mit großer Vielfalt von Lebensweisen und Freiheiten umgehen muss? Die Jugendlichen müssen doch lernen, mit den negativen Einflüssen umzugehen. Nur so kann es, glaube ich, funktionieren.

Wir haben es auch gehört, in wenigen Wochen soll das Seehaus erweitert werden, und es soll eine doppelte Kapazität geben. Ich finde es in der Tat sehr gut, dass sich die Staatsregierung entschlossen hat, Jugendstrafvollzug in freien Formen zu erweitern, dass es ein größeres Platzangebot gibt. Aber vor der Entscheidung, ob man mit diesem Träger tatsächlich weiter zusammenarbeitet, wäre es meines Erachtens sinnvoll gewesen, sich dieses Konzept noch einmal ganz genau anzuschauen.

In der Diskussion, die wir im Ausschuss dazu hatten, hat sich mir gezeigt, dass das offensichtlich noch nicht passiert ist. Wenn das jetzt noch passiert, ist das gut. Aber ich habe da meine Zweifel. Was wir auch schon gehört haben, ist, dass der Seehaus e. V. Mitglied in dieser sogenannten Organisation Prison Fellowship ist, die sich weltweit um Straffällige und deren Angehörige kümmert. Das ist gut. Begründet wurde diese Organisation von Charles Colson, der während seiner Haft nicht nur den Weg zum christlichen Glauben fand, sondern auch Mitglied der evangelikalen Kirche geworden ist. Dementsprechend stark ist in diesem Prison Fellowship die evangelikale Kirche.

Nachdem ich in diesem Seehaus zu Besuch war und dort Flyer evangelikaler Kirchen habe offen liegen sehen, drängt sich mir der Verdacht auf, dass hinter dem Seehaus-Konzept zumindest ein Teil einer solchen Weltanschauung steckt. Frau Dombois hat jetzt ausgeführt, dass diese Flyer entfernt wurden, aber de facto lagen sie da, und wir haben keine Kontrolle darüber, was dort eigentlich passiert. Deshalb umso dringender mein Anliegen oder meine Bitte, hier noch einmal genau hinzuschauen.

Was mir zum Beispiel bis heute nicht beantwortet wurde, ist: Wie wird eigentlich mit homosexuellen Jugendlichen dort umgegangen? Wir wissen alle, wie die evangelikale Kirche zu vielfältigen Lebensweisen, zur Homosexualität steht. Da bekomme ich doch eher etwas Angst.

(Zurufe von der AfD)

Ich würde mir wünschen, dass man noch einmal genauer hinschaut. Die Umsetzung der Möglichkeiten, die uns das Gesetz und die vielfältigen fähigen freien Träger in der Jugendhilfe bieten, kann doch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Deshalb bitte ich die Staatsregierung dringend, noch einmal zu schauen, ob es alternative Angebote gibt. Ich denke dabei an weltanschaulich offene und vielfältige Angebote als zusätzliche Angebote für den Jugendstrafvollzug in freien Formen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN – Ines Springer, CDU: Keiner muss das machen!)

Frau Kollegin Meier war das für die Fraktion GRÜNE. Wir sind am Ende der Fraktionsredner. Das Wort hätte jetzt die Staatsregierung. – Bitte, Herr Staatsminister Gemkow.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Die Gründe, warum junge Menschen straffällig werden, sind ganz unterschiedlich. So weit möglich, sollten wir genauso unterschiedlich, auch einzelfallgerecht in unserer Reaktion auf das kriminelle Verhalten junger Menschen sein können. Das Sächsische Jugendstrafvollzugsgesetz sieht deshalb nicht nur die Unterbringung im geschlossenen oder im offenen Vollzug vor, sondern auch den Vollzug in freien Formen.

Seit dem Jahr 2011 wird der Jugendstrafvollzug in freien Formen in Sachsen umgesetzt. Das Modell – das wissen wir heute – ist kein Allheilmittel. Aber es gibt Verurteilte, denen wir mit dem Vollzug in freien Formen eine wirklich gute, realistische, durchaus auch fordernde Chance auf gesellschaftliche Integration und ein zukünftig straffreies Leben geben. Entscheidend ist dabei, dass es uns gelingt, diejenigen Gefangenen für das Projekt auszuwählen, die vom Vollzug in freien Formen tatsächlich profitieren können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Konzept des Seehaus e. V. setzt auf eine intensive und individuelle Betreuung und auf die Vermittlung sozialer, schulischer und beruflicher Kompetenzen und Werte. Dabei stehen die Familie, der Gemeinsinn, das Mit- und Füreinander und die sinnvolle Strukturierung des Alltags im Mittelpunkt. Ganz entscheidend: Diese Werte werden vorgelebt. Sie werden gemeinsam erfahren. Sie werden bestätigt, und sie werden gefestigt.

Der vom Kriminologischen Dienst des Freistaates Sachsen vorgelegte Bericht zum Jugendstrafvollzug in freien Formen zeigt, dass Teilnehmer schon bei der Aufnahme in das Projekt hinsichtlich der strafrechtlichen Vorbelastungen, der schulischen und beruflichen Qualifikation und der psychischen und sozialen Ressourcen über vergleichsweise günstigere Ausgangsmerkmale als andere Jugendstrafgefangene verfügen. Diese gute Ausgangsposition können diese Gefangenen während der Unterbringung im Jugendstrafvollzug in freien Formen weiter festigen.

Der Bericht weist aber – und das wurde schon angesprochen – auch auf die hohe Anzahl der Rückverlegungen in die Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen hin. Das zeigt uns: Nicht jeder Jugendstrafgefangene ist für eine Aufnahme in das Projekt geeignet. Trotzdem lohnt es sich, diese Vollzugsform als Alternative für die geeigneten Strafgefangenen bereitzuhalten.

Aufgrund der Anregungen aus dem vorgelegten Bericht und der Verdopplung der Kapazität auf jetzt 14 Plätze nach dem Umzug des Projektes an den Hainer See wird

aktuell das Konzept des Strafvollzugs in freien Formen fortgeschrieben. Dabei werden wir prüfen, unter welchen Voraussetzungen zukünftig auch jungen Strafgefangenen eine Unterbringung in der alternativen Vollzugsform ermöglicht werden soll.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Evaluationsbericht des Kriminologischen Dienstes des Freistaates zeigt, dass die Umsetzung des Jugendstrafvollzugs in freien Formen die Erwartungen grundsätzlich erfüllen kann. Aber um die Ergebnisse des Projektes nachhaltiger beurteilen zu können, werden wir die Evaluation des Projektes fortschreiben und fortführen, um das noch besser einschätzen zu können.

Ich möchte an der Stelle noch einige ganz persönliche Worte sagen. Ich habe allergrößten Respekt vor den Verantwortlichen und insbesondere vor den Familien, die das durchführen,

(Beifall bei der CDU und der SPD)

die über einen langen Zeitraum, über Monate, über Jahre im engsten Familienkreis mit Strafgefangenen, mit Straftätern zusammenleben – mit ihren eigenen Kindern. Jeder von uns würde sich das Risiko vor Augen halten, das damit verbunden ist. Trotzdem gehen diese Menschen letztlich ein gewisses Restrisiko aus reiner Nächstenliebe ein. Ganz ehrlich: Ich würde mir wünschen, dass viel

mehr Menschen in diesem Land so uneigennützig handeln. Ich glaube, wenn es noch mehr dieser Menschen gäbe, hätten wir eine ganze Menge weniger Hass und Unfrieden in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Insofern ist das für mich vor allem die Gelegenheit, Danke schön zu sagen.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Herr Staatsminister Gemkow sprach für die Staatsregierung. Wünscht jetzt die Berichterstatterin des Ausschusses, Frau Meier, das Wort?

(Katja Meier, GRÜNE: Ich glaube, ich habe mich hinlänglich geäußert! Danke!)