Protokoll der Sitzung vom 08.11.2018

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 82 Sitzung des 6. Sächsischen Landtags. Zuerst darf ich ganz herzlich Herrn Patrick Schreiber zum Geburtstag gratulieren.

(Beifall des ganzen Hauses)

Folgende Abgeordnete haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt: Herr Schmidt, Herr Gasse, Herr Kupfer, Herr Lehmann, Herr Otto, Frau Dr. Petry und Herr Sodann.

Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Folgende Redezeiten hat das Präsidium für die Tagesordnungspunkte 3 sowie 7 bis 11 festgelegt: CDU 95 Minuten, DIE LINKE 66 Minuten, SPD 50 Minuten, AfD 35 Minuten, BÜND

NIS 90/DIE GRÜNEN 35 Minuten, Fraktionslose je MdL je 4,5 Minuten und die Staatsregierung 64 Minuten. Die Redezeiten der Fraktionen und der Staatsregierung können auf diese Tagesordnungspunkte je nach Bedarf verteilt werden.

Meine Damen und Herren, da für unsere heutige Sitzung keine mündlichen Anfragen für die Fragestunde eingereicht wurden, ist der Tagesordnungspunkt 12 zu streichen. Ebenso ist der Tagesordnungspunkt 13, Kleine Anfragen, zu streichen.

Ich sehe jetzt keine weiteren Änderungsvorschläge oder Widerspruch gegen die Tagesordnung. Die Tagesordnung der 82. Sitzung ist damit bestätigt.

Meine Damen und Herren, ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 1

Aktuelle Stunde

Erste Aktuelle Debatte: Antisemitismus gestern und heute –

warum die Reichspogromnacht nicht nur Geschichte ist

Antrag der Fraktionen CDU und SPD

Zweite Aktuelle Debatte: Willkommenskultur für Kinder – unsoziale Regierungspolitik beenden!

Antrag der Fraktion AfD

Die Verteilung der Gesamtredezeit der Fraktionen hat das Präsidium wie folgt vorgenommen: CDU 33 Minuten, DIE LINKE 20 Minuten, SPD 18 Minuten, AfD 17 Minuten, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12 Minuten, Fraktions

lose je MdL 1,5 Minuten und Staatsregierung zwei Mal 10 Minuten, wenn gewünscht.

Wir kommen zu

Erste Aktuelle Debatte

Antisemitismus gestern und heute – warum die

Reichspogromnacht nicht nur Geschichte ist

Antrag der Fraktionen CDU und SPD

Als Antragsteller haben zunächst die Fraktionen CDU und SPD das Wort. Das Wort ergreift jetzt für die einbringende CDU-Fraktion Frau Kollegin Ines Springer.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es ist ungefähr acht Jahre her, als ich zum ersten Mal in Israel war. Die Reise war voller Eindrücke, die Reise war voller Erlebnisse. Aber eines hat mich besonders geprägt: In einem palästinensischen Dorf wurden wir vom Bürgermeister und seinem Controller empfangen. Der Controller war ein ganz junger Mann, hatte in Marburg studiert und machte uns deutlich:

Ich bin Palästinenser mit einem israelischen Pass; meine Frau lebt in Dresden, mein Sohn singt im Kreuzchor. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie tief beeindruckt ich von diesen wenigen Worten war.

Unter dem Eindruck dieses Ereignisses, das in meinem Leben stattgefunden hat, ist das morgige Gedenken an 80 Jahre Reichspogromnacht für mich und auch für die CDU-Fraktion ein ganz besonderes.

(Beifall bei der CDU, der SPD und vereinzelt bei den LINKEN)

Im Jahr 1938 hat die Pogromnacht einen Übergang markiert – den Übergang von der Diskriminierung von Juden zu ihrer systematischen Verfolgung. Im Ergebnis dessen sind nicht nur die deutschen Juden, sondern die europäischen Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen: Mehr als sechs Millionen Menschen verloren im Holocaust ihr Leben.

In diesem Jahr, 2018, hat Israel ein besonderes Jubiläum gefeiert. Am 14. Mai konnte Israel auf 70 Jahre seit seiner Staatsgründung zurückblicken. Ich hatte die Gelegenheit, mit deutschen Freunden, mit israelischen Freunden im Mai dieses Jahres in Israel, in Jerusalem, dieses Jubiläum mit zu begehen. Ich bin sehr dankbar, dass ich dabei sein durfte; denn auch nach 70 Jahren ist die Debatte um Israel, um Juden, um das jüdische Leben in Deutschland immer noch von Nichtwissen, von Halbwissen geprägt und dominiert. Genau diese Wissenslücken führen zu einem latenten Antisemitismus. Der Antisemitismus, mit dem wir heute zu tun haben, versteckt sich häufig hinter Israelkritik und Antizionismus. Wir alle sollten einmal bei Herzl nachlesen, was die Gründung eines Judenstaates für das israelische Volk bedeutet.

Ich habe Ihnen auch ein Zitat mitgebracht, ein Zitat eines in Berlin aufgewachsenen persischen jungen Mannes, der jüdische Eltern hatte und der heute als Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Büro des israelischen Ministerpräsidenten tätig ist. Das Zitat lautet: „Wenn es um den jüdischen Staat geht, dann sind all die liberalen und intellektuellen Stimmen oftmals äußerst bemüht, die Menschenrechte all der Völker und Religionen zu verteidigen, die Israel gegenüberstehen. Es schert sie absurderweise kaum, wie es den jüdischen Zivilisten im Konfliktfall ergeht. […] Im Falle eines Konfliktes, in den Israel verwickelt ist, ist die israelische Armee automatisch der Aggressor, während arabischer Terror als eine Art legitimer und romantischer Freiheitskampf angesehen wird, selbst wenn er seine eigenen Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt.“ – Der Zitierte war Arye Shalicar.

Unsere Fraktion – –

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Danke, Herr Präsident! Ich möchte gern noch einen Abschlusssatz formulieren.

Bitte.

Unsere Fraktion lehnt jeden Rassismus, besonders Antisemitismus, ab. Wir sind stolz darauf, dass sich in Sachsen wieder ein lebendiges jüdisches Gemeinschaftsleben entwickelt hat. Es steht in einer sehr langen Tradition und es geht zurück bis in das 13. Jahrhundert.

Ich darf beenden: Jüdisches Leben gehört zu Sachsen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass das auch so bleibt.

(Lang anhaltender Beifall bei allen Fraktionen und der Staatsregierung)

Das war Frau Kollegin Springer. Sie sprach für die CDU-Fraktion. Jetzt spricht Frau Kollegin Hanka Kliese für die einbringende SPDFraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Jeder Angriff gegen jüdisches Leben ist ein Angriff auf uns alle.“ Das sagte Außenminister Heiko Maas im April 2018 anlässlich verschiedener antisemitischer Ausfälle in Berlin. Aber ist das wirklich so? Wer empfindet das denn tatsächlich von uns allen als einen Angriff auf sich selbst? Wer von uns hat die antisemitischen Straftaten, deren Zahl in den letzten Monaten angestiegen ist, so verinnerlicht, dass er deswegen selbst Probleme hatte, vielleicht schlechter geschlafen hat oder sich Sorgen um die jüdischen Gemeinden gemacht hat? Wie stark verinnerlichen wir Sätze unserer Erinnerungskultur?

Wir haben das historische Datum der 80. Jährung der Reichspogromnacht zum Anlass genommen, mit der heutigen Aktuellen Debatte zunächst – das ist das Wichtigste – der Opfer zu gedenken und außerdem auf Antisemitismus in der Gegenwart aufmerksam zu machen. Ich möchte auch die Rituale unserer Erinnerungskultur auf ihre Wirksamkeit überprüfen und kritisch hinterfragen.

In der Nacht des 9. November 1938 wollte Goebbels einen Volkszorn inszenieren. Was zufällig wirken sollte, war von langer Hand geplant. Nach Hassreden von Goebbels griffen Funktionäre zu den Telefonapparaten und wiesen im ganzen Reichsgebiet an, gegen Juden vorzugehen. Die tragische Bilanz des größten Pogroms der Neuzeit in Mitteleuropa liest sich so: 91 Juden wurden ermordet, 1 400 Synagogen brannten und wurden zerstört bzw. verwüstet, 7 500 Geschäfte wurden geplündert.

Wir reden heute viel über die Zivilgesellschaft. Was hat eigentlich die Zivilgesellschaft am 9. und am 10. November 1938 getan? Die evangelische Kirche verzichtete auf einen öffentlichen Protest. Einzelne Pfarrer allerdings zeigten Courage und mussten für ihre Solidarität bitter bezahlen, wie beispielsweise der Pfarrer Albert Schmidt, der selbst in ein Konzentrationslager kam, weil er sich mit den Juden solidarisierte. Katholische Bischöfe schwiegen. Der Domprobst Bernhard Lichtenberg war der einzige katholische Priester, der offen gegen das Anzünden der Synagogen predigte. In der Nacht des 9. November 1938 ist von ihm folgendes Zitat überliefert: „Was heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus. Großes Schweigen lag über unserem Land, nachdem so viel Unrecht geschehen war.“ Auch das ist eine Mahnung, die uns dieser Tag mitgibt, Unrecht nicht zu übergehen, Unrecht nicht zu verschweigen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, den LINKEN, den GRÜNEN und den fraktionslosen Abgeordneten)

Natürlich sind nicht nur die Kirchen die Zivilgesellschaft. Wie sah es denn mit den Menschen in anderen Orten, zum Beispiel in unserer Umgebung, in unserer Nähe aus? Ich habe ein Beispiel aus der schönen Stadt Erfurt gefunden. Am 10. November 1938 feierte die Stadt das Martinsfest, als sei nichts geschehen. Ein Zeitzeuge berichtet: „Auf der Freitreppe zwischen Dom und Severikirche feierte die Stadt ihr Martinsfest. Auf dem Weg dorthin müssen die Menschen die Glassplitter unter ihren Füßen gespürt haben. 197 jüdische Erfurter waren verhaftet, in die Turnhalle des Humboldt-Gymnasiums getrieben, dort geschlagen und getreten und anschließend in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden. Das zum Anzünden der Synagoge verwendete Benzin sowie den Abriss der ausgebrannten Ruine musste die jüdische Gemeinde selbst bezahlen. Menschen haben die Splitter unter ihren Füßen gespürt, aber sie haben nichts getan, nichts gesagt und nichts in Frage gestellt.“

Auch heute gibt es Splitter von eingeworfenen Scheiben, Spuren von Hakenkreuzen und offene Angriffe auf Juden. Was können wir tun? Hinsehen, hingehen und die Stimme erheben. Unsere Erinnerungskultur ist heute an einem sensiblen Punkt angelangt: Wir müssen schmerzlich feststellen, dass jahrzehntelanges Gedenken nicht zwangsläufig mit einer Immunisierung gegen Antisemitismus einhergeht. Gut gemeinte kernige Aussagen – wie keine Toleranz den Intoleranten – verfehlen ihre Wirkung, weil sie phrasenhaft sind oder zu abstrakt wirken, weil Vorurteile sich längst wieder breit gemacht haben. Ich zitiere aus einer Aussage des Sachsenmonitors: „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazizeit Opfer gewesen sind.“ Dieser Aussage stimmten laut Sachsenmonitor 39 % aller sächsischen Beamten zu. Hätte ich heute meine Rede mit dem Satz begonnen „Ein Angriff auf die Juden ist ein Angriff auf uns alle“, hätte vielleicht der eine oder andere wohlmeinend und entschlossen applaudiert. Aber hätten wir das tatsächlich verinnerlicht?

Die Redezeit ist zu Ende.

Ich komme zum Ende. Vielen Dank.

Damals hätten viele Juden überleben können, wenn sie zeitiger Deutschland verlassen hätten. Auch heute fragen sich Menschen, ob sie Deutschland wieder verlassen sollen – nicht nur Juden. Wir sind heute aufgeklärter, unsere Demokratie ist stabiler. Doch genau darin liegt unsere große Verantwortung.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU, den LINKEN, den GRÜNEN, vereinzelt bei der AfD und bei den fraktionslosen Abgeordneten)

Unsere Kollegin Hanka Kliese sprach für die einbringende SPD-Fraktion. Die weitere Rednerreihe: DIE LINKE, AfD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und Frau Dr. Muster. Jetzt spricht für die Fraktion DIE LINKE Herr Kollege Gebhardt.