Protokoll der Sitzung vom 01.06.2023

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Da wir seit drei Jahren, wenn Sie sich erinnern, tatsächlich einen Runden Tisch für Bildung usw. fordern, kann ich an dieser Stelle nur sagen, dass wir den Prozess „Bildungsland 2030“ tatsächlich begrüßen und finden, dass es richtig ist, dass er jetzt losgeht. Zu ein paar kleinen „Aber“ würde ich am Ende meiner Rede kommen.

(Zuruf des Staatsministers Christian Piwarz)

Ja, muss ja. Es ist ja unsere Aufgabe.

Wenn wir über das „Bildungsland 2030“ sprechen, könnten wir über zahlreiche Bereiche sprechen. Sabine Friedel hat das vorhin schon sehr anschaulich dargestellt. Wir könnten darüber sprechen, dass die Kinder und Jugendlichen tatsächlich ins Zentrum gestellt werden, dass sie gehört werden und dass sie partizipieren können. Wir könnten darüber sprechen, ob unsere Schule der Zukunft nach denselben Zeiteinheiten funktionieren muss, die tatsächlich immer noch aus dem preußischen Schulsystem herrühren, als Kinder ihren Eltern das Mittagessen auf das Feld bringen mussten.

Wir könnten über die sogenannte Digitalisierung sprechen und darüber, warum dieser Begriff in die Irre führt und wir längst hätten verstehen müssen, dass eine digitale Gesellschaft Digitalität in jedem Fach braucht. Wir könnten über moderne Schulneubauten sprechen, die zum Lehren und Lernen einladen. Wenn wir über das „Bildungsland 2030“ reden, könnten wir darüber sprechen, warum wir ein System haben, in dem man mutig sein muss, um etwas anders zu machen, selbst wenn sich eine veränderte Praxis lange bewährt hat.

Wir könnten darüber sprechen, ob wir ein Mehr an Verwaltungsvorschriften brauchen oder mehr Möglichkeiten für Experimente, ob wir weiter und weiter und weiter strukturelle Debatten führen oder eigentlich eine Vision von Schule aufmachen müssten. Natürlich müssen wir auch darüber sprechen, wie der Beruf der Lehrkraft so attraktiv gemacht werden kann, dass wir genügend Lehrkräfte haben. Lehrkräfte, die ihrer Kernaufgabe nachgehen können

und nicht gleichzeitig Psycholog(innen), Sozialarbeiter(in- nen) oder ITler(innen) sein müssen.

Wir könnten darüber sprechen, welche Fähigkeiten Kinder und Jugendliche brauchen, darüber, ob die Schule, wie wir sie jetzt haben, in der Lage ist, Kinder auf eine Zukunft vorzubereiten, deren Wandel schneller ist als je zuvor. Wir könnten darüber sprechen, welche längst überkommenen Inhalte nur noch auf eine Vergangenheit vorbereiten, die aber längst vorbei ist. Wir könnten auch darüber sprechen, ob die Lehramtsausbildung dazu befähigt, Kinder und Jugendliche auf eine solche Zeit vorzubereiten, auf das Lernen in einer solchen Zeit. Und wenn wir der Meinung sind, dass sie das nicht tut, sollten wir die Frage stellen, wie das möglich wäre.

Ich rede viel mit Menschen – Lehrkräften, Eltern, Kindern und Jugendlichen usw. usf. – und kann immer nur zu einem Schluss kommen – das mögen Sie mir verzeihen –: dass gefühlt alles irgendwie vom Zufall abhängt, ob man eine gute Schulzeit hat, vom Zufall, in welche Familie man hineingeboren wird, vom Zufall, ob die Eltern auf einer Schulform bestehen, vom Zufall, in welchem Bundesland man wohnt, vom Zufall, in welche Schule man kommt, vom Zufall, welche Lehrkräfte man hat, vom Zufall, ob man dort den Abschluss schafft, und außerdem vom Zufall, ob man schon zu Beginn der eigenen Zukunft überhaupt noch eine Zukunft hat.

Meine Forderung an eine Schule der Zukunft ist, eine einzige Frage zu beantworten – und das ist die wesentliche – und dafür jede mögliche Konsequenz zu akzeptieren, die die Antwort auf die Frage nach sich zieht: Wie sorgen wir dafür, dass kein – und ich meine wirklich kein – Kind zurückbleibt? Da sind viele Antworten möglich. Es geht um Veränderungen der Schul- und Unterrichtszeiten. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen man mutig experimentieren kann. Das kann bedeuten, dass das Lehramtsstudium so zu verändern ist, dass Lehrerinnen und Lehrer auf die Realität vorbereitet werden, dass die Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen sind, dass ihnen zuzuhören ist und dass sie mitgestalten dürfen. Die Antworten, wie gesagt, können vielfältig sein; aber wir müssen sie eben endlich geben.

So, nun habe ich ganz viel darüber gesprochen, wie die Zukunft aussehen könnte. Ja, ich weiß, dass das ganz große Veränderungen im laufenden Betrieb erfordert und dass sie dauern werden. Dennoch wissen wir alle, dass wir im Moment manifeste Probleme haben, die kurzfristige Lösungen brauchen. Ich meine 16 % Unterrichtsausfall an Förderschulen, 15 % an Oberschulen, 10 % an Gymnasien, 6 % an Grundschulen. Ich meine die IGLU-Studie, die belegt, dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler am Ende der 4. Klasse eine geringe Lesekompetenz hat. Ja, das ist richtig. Wir kommen aber an der Stelle zu völlig anderen Schlüssen und Konsequenzen als die AfD. Ich meine, dass wir einen akuten Lehrkräftebedarf haben und dass von den Seiteneinsteiger(innen)n jeder fünfte aufhört.

(Zuruf des Abg. Thomas Thumm, AfD)

Das alles kann keine sieben Jahre mehr warten. Junge Leute, die im Moment in der 8. oder 9. Klasse sind, werden die erhofften Veränderungen 2030 gar nicht mehr mitbekommen. Sie wollen jetzt von uns wissen, was ihr Abschluss wert ist, wenn sie sich in dieser Welt irgendwie zurechtfinden müssen.

Die Ausschussreise nach Estland hat gezeigt – und ich war an der einen oder anderen Stelle tatsächlich sprachlos darüber –, wie mutig man sein kann. Damit meine ich vor allem einen Punkt – dazu würde ich in einer zweiten Runde noch kurz ausführen –, was es nämlich bedeutet, wenn Kinder zum Beispiel nicht sitzen bleiben, was es bedeutet, wenn man scheitern darf, was das für die Bildungsbiografie usw. usf. bedeutet, was es bedeutet, wenn Rahmenlehrpläne möglich sind und wenn Lehrkräfte an Schulen gemeinsam mit der Schulleitung usw. usf. in der Lage sind, den tatsächlichen Bedarf vor Ort selbst zu organisieren. Wie gesagt, dazu in einer zweiten Runde.

Danke schön.

(Beifall bei den LINKEN)

Frau Kollegin NeuhausWartenberg sprach für ihre Fraktion DIE LINKE. Jetzt ergreift Frau Melcher von der Fraktion BÜNDNISGRÜNE das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begreife diesen Prozess „Bildungsland Sachsen 2030“ ein Stück weit unter dem Motto: „Nicht meckern, sondern machen! Nicht klagen, sondern handeln!“ Aus meiner Sicht wäre das ein treffender Untertitel für den Prozess „Bildungsland Sachsen 2030“.

(Beifall des Abg. Holger Gasse, CDU)

Solche Aufrufe sind im Freistaat nicht völlig neu, aber leider noch zu selten. Aus meiner Sicht sind sie Ausdruck einer neuen politischen Kultur, einer Beteiligungskultur. Wir BÜNDNISGRÜNE begrüßen das außerordentlich; denn Beteiligung stärkt unsere Demokratie. Mitmachen und Mittun fördert das Verständnis für Prozesse und Entscheidungen. Beteiligung schafft auch Akzeptanz. Wir hatten das bereits gestern in der Aktuellen Debatte besprochen.

Insofern möchte ich alle daran erinnern, dass eine Anmeldung zu den regionalen Bildungsforen noch bis zum 10. Juni 2023 möglich ist. Machen Sie mit! Bringen Sie sich vor Ort ein! Ob als Vater eines schulpflichtigen Kindes oder als interessierte Bürgerinnen und Bürger. Die Perspektive und Ihre Meinung sind für diesen Prozess wichtig.

Damit Beteiligung gelingt, muss aber auch der Rahmen klar sein. Worüber wird denn gesprochen? Wer ist dabei? Gibt es etwas zu entscheiden, und wenn ja, wie wird entschieden? Der Prozess zum Bildungsland ist aus meiner Sicht gut und klar strukturiert. Es wurden 16 strategische Ziele in vier Handlungsfelder festgelegt: Lernen, Professionalisierung, Steuerung und Infrastruktur. Diese sollen beraten und mit operativen Zielen untersetzt werden.

Nach den Runden der Expertinnen und Experten tagen im Sommer und im Herbst die regionalen Bildungsforen. Wichtig ist, dass dabei alle relevanten Akteure mit am Tisch sitzen, sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte und Schulleitungen, genauso Eltern und Bildungsinteressierte. Auch wird klar kommuniziert, dass es um eine Beratung geht, um eine Konsultation und nicht um Entscheidungen. Das ist wichtig, damit alle Beteiligten wissen, worum es geht und was am Ende ihre Aufgabe ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Nicht nur hinsichtlich des Formates begrüße ich den Prozess “Bildungsland Sachsen 2030“, sondern auch inhaltlich ist er vielversprechend. Aus meiner Sicht werden wirklich die richtigen Fragen gestellt, auch unbequeme und kontroverse. Was heißt erfolgreiches Lernen mit Blick auf eine immer komplexer werdende Welt? Wie schaffen wir es, alle mitzunehmen? Wie können neue Prüfungsformate in Zeiten von ChatGPT aussehen? Sind Hausaufgaben in unserer heutigen Zeit nicht überholt?

Der Prozess birgt aus meiner Sicht eine große Chance: die Chance über die Zukunft von Schule und Unterricht zu sprechen, ohne dass die Frage nach den Ressourcen alles überlagert. Klar ist: Das Problem des Lehrkräftemangels wird sich durch die Beratung nicht auflösen lassen. Das ist weder Ziel noch Aufgabe dieser Runde. Alle Beteiligten wissen um die Rahmenbedingungen. Frau Luise NeuhausWartenberg hat sie gerade skizziert. Gerade deshalb ist es gut und richtig, sich von diesem Tunnelblick zu entfernen. Nicht alles ist immer eine Frage von Ressourcen, und nicht jedes Problem lässt sich mit Geld lösen.

Für mich ist die wichtigste Botschaft des angestoßenen Prozesses, dass wir in der Bildungspolitik wieder über Qualität sprechen, dass wir uns trauen, über Qualität zu sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen – und das, ohne dabei die bestehenden Probleme zu ignorieren.

Ich bin sehr dankbar, dass das Kultusministerium diesen Prozess angestoßen hat und wir heute diese Debatte führen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den BÜNDNISGRÜNEN und der Staatsregierung)

Das war Frau Kollegin Melcher, BÜNDNISGRÜNE. Von den fraktionslosen Abgeordneten hat niemand Redebedarf in dieser Runde angemeldet. Wir können also eine weitere Runde eröffnen, und das wird gleich für die einbringende Fraktion getan. Frau Kollegin Friedel, bitte. Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich möchte nur kurz – wir sind ja am Beginn des Prozesses – auf einige Ausführungen eingehen.

Herr Dr. Weigand, Sie sind Mitglied in einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, als einzige den Leuten zuzuhören.

(Dr. Rolf Weigand, AfD: Ich höre zu, ich bin multitaskingfähig!)

Dann hören Sie doch einmal den Schülerinnen und Schülern zu, wenn sie über Schule und Bildung sprechen, wenn sie erzählen, was sie meinen, wie sie die Schule für ihr späteres Leben rüstet!

(Dr. Rolf Weigand, AfD: Auch den Eltern!)

Hören Sie doch einmal auf die Betroffenen! Das ist ja immer Ihr Fokus. Hören Sie auf die Schülerinnen und Schüler, darauf, was die Ihnen sagen. Das sind diejenigen, um die es in unserem Schulsystem zuallererst geht: um deren Bedürfnisse. Deshalb ist es wichtig, auf diese Bedürfnisse zu achten.

(Zurufe des Abg. Dr. Rolf Weigand, AfD)

Dass Sie das Zuhören nicht so genau nehmen, weiß ich. Man kann auch nicht zuhören, wenn man gleichzeitig spricht; das wissen Sie vielleicht noch nicht. Solche Worte wie Frontalunterricht, Noten, Hausaufgaben kamen in meinem Redebeitrag überhaupt nicht vor. Was stattdessen vorkam, war der Appell oder der Wunsch, die Bereitschaft, vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen und ernst zu nehmen. Um zu zeigen, dass es uns damit ernst ist, habe ich mit vermeintlichen Gewissheiten unserer Partei, der SPD, begonnen; denn die Bereitschaft, so etwas infrage zu stellen, ist der eigentliche Kern vom Lernen. Beim Lernen geht es immer und immer wieder darum, zu hinterfragen: Stimmt das denn noch, was ich glaube? Das, was Sie hier erzählen, erzählen Sie ja seit Jahren immer mit den gleichen Worten und immer zu den gleichen Themen, egal, worum es überhaupt geht.

(Sebastian Wippel, AfD: Braucht man das denn?)

Die Bereitschaft zu lernen ist der Kern von Schule, den es freizulegen gilt. Diesbezüglich gibt es viel Gelegenheit in dieser Debatte. Ich denke, eine solche Debatte darf keine Tabus haben, bis auf zwei. Ich würde allen, die diese Debatte führen, gern vorschlagen, zwei Sätze zu tabuisieren. Diese Sätze lauten: „Das haben wir schon immer so gemacht“ und „Das haben wir noch nie so gemacht.“

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Das sind die Sätze, die in solchen Debatten nicht kommen sollten. Stattdessen ist die Frage in den Mittelpunkt zu stellen: Wozu machen wir Bildung? Was ist das Ziel von Bildung?

Aus unserer Sicht besteht der Zweck im Kern für jeden darin, im Arbeitsleben, in der Familie selbstbestimmt ein gutes und zufriedenes Leben zu führen, und dass die Schule – –

(Sebastian Wippel, AfD: Ach Gott!)

Ach Gott! – Uns ist es wichtig, dass es den Menschen gut geht, dass sie gut und zufrieden leben können. Dass das mit der Lebenszufriedenheit nicht Ihre Sache ist, zeigt Ihre Kommunikation. Sie tragen nicht dazu bei, dass Menschen zufrieden sind. Sie sehen den Kern ihrer Existenz darin, Menschen unzufrieden zu machen. Das wissen wir.

Uns geht es darum, Menschen für ein Leben zu rüsten, damit sie, wenn sie 80, 90 Jahre alt sind, sagen: Ich habe gern und gut gelebt, und ich konnte selbst entscheiden, was ich tue und wie ich es mache. Ich denke, die Schule kann einiges dazu beitragen. Insofern: Wenn diese Frage im Zentrum der Auseinandersetzung steht, dann ist viel für die Überlegung erreicht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der Staatsregierung)

Frau Kollegin Friedel hat die zweite Rederunde für die einbringende SPD-Fraktion eröffnet. Möchte die CDU-Fraktion nochmals das Wort ergreifen? – Ja, das ist schon angekündigt. Frau Kollegin Gockel ergreift jetzt das Wort für die CDU-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Ich bin optimistisch, dass der jetzt bestrittene Pfad gute Antworten erbringt. Ich bin optimistisch, dass die Arbeit der Kommission Impulse gibt, die den notwendigen Veränderungsprozess befördern. Wir müssen als Gesetzgeber den Rahmen schaffen. Wir haben darauf zu achten, dass es um keine isolierte Debatte geht, sondern wir müssen diese als gesellschaftlichen Diskurs führen.

Deshalb müssen von mir an dieser Stelle nur einige Schlagwörter genügen. Erstens: Schulhausbau. Ich habe Schule in Bestandsgebäuden des 19. Jahrhunderts und Neubauten entwickelt. Eine zentrale Einsicht bringe ich mit. Schulbauten sind in Beton gegossene Bildungspolitik. Wenn wir Flexibilität in den Lern- und Unterrichtsmöglichkeiten wollen, kann dies nicht durch eine Ansammlung gleicher Klassenzimmer, die auf einem bestimmten Klassenteiler geeicht sind, geschehen.