Protokoll der Sitzung vom 20.01.2000

In der Aktuellen Debatte zur Jugendkriminalität führte ich auch aus, daß jenen jugendlichen Tätern, denen jegliches Unrechtsbewußtsein und jegliche Reue hinsichtlich der Tat fehlt, auf fühlbare Weise die Grenzen ihres Tuns, auch des künftigen, gezeigt werden müssen und daß deshalb die Diskussion über geschlossene Heime für Jugendliche, die jetzt geführt wird, keineswegs mit einer Handbewegung weggewischt werden kann, sondern geschlossene Einrichtungen in diesem

Sinne für eine bestimmte Tätergruppe wirkungsvoll sein können.

Ich befinde mich deshalb auch nicht im Gegensatz zur Auffassung des Herrn Innenministers Dr. Püchel, der in der damaligen Aktuellen Debatte hervorhob, daß sich bei aller steigenden Jugendkriminalität ca. 95 % der Jugendlichen dauerhaft rechtstreu verhalten.

Nein, meine Damen und Herren, es geht mir auch nicht um eine pauschale Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen. Wer eine derartige Auffassung hineindeutet, der will nichts anderes hören oder bezeugt sein beschränktes Denken, Alarmzeichen in dieser Gesellschaft zu mißachten, und setzt sich dem Vorwurf aus, nicht den Anfängen zu wehren.

Meine Damen und Herren! Ich möchte voranstellen, daß der Antrag meiner Fraktion einen sehr eingeschränkten Kreis von Kindern und Jugendlichen erfaßt, ja selbst unter den straffällig werdenden Kindern und Jugendlichen nur ein kleiner, manche formulieren: verschwindend geringer Teil in geschlossene Heime eingewiesen werden sollte und eingewiesen werden muß.

Nicht von mir stammt jener reißerische Titel „Wohin mit den Horrorkindern?“ der Experten aus unterschiedlichen Bereichen unlängst in Bernburg zusammenführte, um über Alternativen zur geschlossenen Unterbringung und zur Untersuchungshaft zu diskutieren. Allein die Klassifizierung von Kindern als „Horrorkinder“ zeigt, daß es keineswegs um Größenordnungen geht, die gewichtig sind. Wenn wir der Kennzeichnung unseres Antrages folgen und speziell straffällige und schwer therapierbare Kinder und Jugendliche zuordnen, dann kann es sich eigentlich nur um jenen Teil von Kindern und Jugendlichen handeln, bei denen letztlich und als äußerstes Mittel eine geschlossene Heimunterbringung angebracht ist.

In einer Problemskizze der Jugendhilfe zur Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen in Berlin hob die verantwortliche Senatorin hervor, daß zwar der überwiegende Teil von Straftaten im Kinder- und Jugendalter sogenannte Bagatelldelikte, wie Ladendiebstähle und Sachbeschädigungen, sind, die sicherlich geahndet werden müssen, daß aber folgende Erscheinungen besorgniserregend sind: strafunmündige Kinder unter 14 Jahren, die sich nicht nur einmalig an schwereren Straftaten, zum Beispiel Raub oder Körperverletzung, beteiligen, Kinder, die offensichtlich ihren Lebensunterhalt bzw. den ihrer Familien durch Eigentumsdelikte bestreiten, sehr junge Jugendliche, 14jährige, die als Mehrfach- und Intensivtäter auffallen und sich allen sozialpädagogischen Interventionen entziehen.

Dabei wirkt besonders alarmierend, daß bei allen diesen Fällen folgende Merkmale auch kombiniert oder überschneidend auftreten: daß ein Unrechtsbewußtsein auch angesichts von Sanktionen und pädagogischer Beeinflussung nicht entwickelt wird, in immer kürzerer Folge immer schwerere Straftaten begangen werden und die Anwendung von Gewalt oder der Einsatz von Waffen zum Normalfall wird.

Diese Gruppe junger Mehrfach- und Intensivtäter, meine Damen und Herren, verkörpert nicht einmal 0,2 % der Kinder und Jugendlichen in Berlin. Aber deren Gewalt und deren Intensität beeinträchtigt erheblich das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung. Der geringe Anteil dieser Täter und Tätergruppen sollte nicht dazu verführen, sich einlullen zu lassen und die Anzahl als eine zu vernachlässigende Größe abzutun. Signale, die

das verbieten und eine realistische Reaktion bewirken, sind in der Regel die spektakulären Fälle, die uns wachrütteln und danach meist wieder in die Resignation verfallen lassen.

Meine Damen und Herren! Die Beispiele über Gewalt, auch tödliche, an Schulen und von jugendlichen Amokläufern sind bekannt. Aber bekannt ist auch die Hilflosigkeit im Umgang mit derartigen Erscheinungen, die oft nur die Spitze eines Eisberges unbekannter Größenordnung sind. Besonders erschreckend: Die Fälle nehmen zu, und das in immer kürzeren Abständen.

Damit ist auch jene Auffassung überholt, die die Jugendministerkonferenz im Juni 1991 in ihrem einstimmigen Beschluß formulierte, nämlich daß sie sich nicht veranlaßt sah, sich zur Frage geschlossener Heimunterbringung von Straffälligen zu äußern. Im Gegenteil. Zum damaligen Zeitpunkt vertrat diese Ministerkonferenz den Standpunkt - ich darf bitte zitieren, Frau Präsidentin -:

„Besonders stationäre Einrichtungen für diesen Personenkreis bergen die Gefahr, Stigmatisierungsprozesse zu befördern und eine Massierung von problembelasteten jungen Menschen zur Folge zu haben.“

Zwischenzeitlich setzte sich aber die Erkenntnis durch, daß diese Position längst nicht mehr haltbar ist.

Meine Damen und Herren! Nur sechs Jahre später erhielt die geschlossene Heimunterbringung einen anderen, wenn auch, vorsichtig oder freundlich ausgedrückt, abwägenden Stellenwert durch den Beschluß des Bundesrates zur Verstärkung der inneren Sicherheit, wenn es in dem Beschluß vom September 1997 heißt - ich zitiere -:

„Der vollständige Verzicht auf die geschlossene Heimunterbringung ist angesichts der neueren Kriminalitätsentwicklung problematisch.“

Es sind deshalb wirksame Alternativen zu entwickeln, meine Damen und Herren, in deren Mittelpunkt die Erziehungsaufgabe zu stehen hat. Noch deutlicher und unumwunden formuliert der Beschluß der Innenministerkonferenz vom Februar 1998 zu dem Anliegen - ich darf bitte zitieren -:

„Bei Kinder- und Jugenddelinquenz ist der vollständige Verzicht auf die geschlossene Heimunterbringung angesichts der neueren Kriminalitätsentwicklung problematisch. Auch in diesen Einrichtungen hat die Erziehungsaufgabe im Mittelpunkt zu stehen. Der Sicherungszweck ist zu beachten. Darüber hinaus sind wirksamere Alternativen zu entwickeln.“

In seiner wie immer unverbindlichen Allgemeinheit befürwortete im Jahr 1998 im Wahlkampf - wer sollte es sonst sein? - Gerhard Schröder ebenfalls geschlossene Heime für straffällig gewordene Jugendliche. Nun mag das ein schwach stützendes Argument für unseren Antrag sein, denn bekanntlich hätte Gerhard Schröder auf Zuruf alles und jedes befürwortet, wenn es um Wählerstimmen geht. Hinterher kann wiederum alles und jedes als Irritation und auch als Mißverständnis korrigiert werden.

(Zustimmung bei der DVU)

Meine Damen und Herren! Ich möchte nochmals an den Beschluß der Innenministerkonferenz anknüpfen. Dort

wurde nämlich formuliert: „Darüber hinaus sind wirksamere Alternativen zu entwickeln.“

Es bedarf keineswegs der semantischen Analyse, um zu bemerken, daß sich die geschlossene Heimunterbringung und die Erziehung keineswegs ausschließen, sondern vereinbar sind und sich gegenseitig bedingen. Aber das ist zugleich das Ende der Fahnenstange für jede, sicher auch wohlgemeinte, aber letztlich verfehlte Erziehungsduselei gegenüber bestimmten straffälligen Kindern und Jugendlichen, die ihren Höhepunkt darin fand, daß jugendliche Straftäter für ihr Verhalten auf Reisen in ferne Länder gingen, zwar nicht als Au-pair-Mädchen, aber immerhin.

Ich darf aus einem öffentlichen Stellenangebot vom Mai 1998 zitieren:

„Für die Individualbetreuung (Einzelbetreuung) eines sehr schwierigen Dreizehnjährigen im Rahmen eines Auslandsprojektes und die daran anschließende Weiterbetreuung auf unserem sozialpädagogischen Bauernhof wird ein lebenserfahrener Mann mit Ausbildung als Erzieher oder Diplomsozialpädagoge gesucht.

Bei diesem Projekt handelt es sich um eine Alternative zur geschlossenen Heimunterbringung. Die Hilfeplanung sieht vor, die Individualbetreuung über voraussichtlich drei bis vier Monate in einem unserer erlebnispädagogischen Auslandsprojekte in Schweden unter sehr einfachen Lebensverhältnissen zu beginnen und dann anschließend auf dem Bauernhof langfristig fortzusetzen.

Der Pädagoge soll für die gesamte Betreuungszeit zuständig sein. Das Betreuungsangebot ist keine Urlaubsmaßnahme und setzt sehr viel persönliche Standfestigkeit sowie pädagogisches Geschick voraus. Sportliche Interessen und handwerkliche Fähigkeiten sind hierbei von großem Vorteil.“

Meine Damen und Herren! Sollten unter uns oder unter Ihnen Interessenten für diese wundersame Art von Pädagogik sein, gebe ich gern die Anschrift weiter, auch wenn es sich um keine Urlaubsmaßnahme handelt.

Aber ich will keineswegs die schwere und schwierige Tätigkeit in diesen Bereichen, in den Bereichen geschlossener Heime, und die Arbeit von Justiz und Polizei damit abwerten. Nein, ganz im Gegenteil. Aber es sollte auch der realistische Blick für die tatsächlichen Verhältnisse in diesem Land erhalten und entwickelt werden. Es dauerte lange, eigentlich viel zu lange, ehe die Einsicht sich durchsetzte, daß allein mit einem Schmusekurs bei bestimmten Tätergruppen nichts erreicht wird.

Meine Damen und Herren! Oft wird als Begründung gegen geschlossene Heime die trübe und böse Erfahrung mit geschlossenen Heimen in der DDR angeführt. Die Erlebnisberichte aus dem Jugendwerkhof Torgau, nach dem Jahre 1990 erstmals ansprech- und aussprechbar, sind so abstoßend und furchteinflößend, daß sich derartige „Maßnahmen“ nicht wiederholen dürfen. Das ist auch mit geschlossenen Heimen heute nicht angestrebt, geschweige denn wünschenswert. Doch Erlebnisberichte aus heutigen geschlossenen Heimen lesen sich gegenüber Torgau wie Berichte von einem anderen Stern.

Wenn es im Bericht über die Berliner Untersuchungshaftanstalt Kieferngrund der Jugendstrafanstalt Plötzensee für 14- bis 17jährige heißt, ein straff organisierter Tagesablauf solle subkulturelle Aktivitäten wie den Austausch krimineller Tricks oder brutale Hierarchiespiele unterbinden, dann, meine Damen und Herren, löst bereits dieser Vorgang Mitleidsbekundungen aus, allerdings nicht von den oft brutal geschlagenen und beraubten Opfern. Die sind bekanntlich für die Mitleidsbekundungen und Betroffenheitsfanatiker uninteressant und ausgeschlossen.

Meine Damen und Herren! Die „Welt am Sonntag“ vom 29. August vergangenen Jahres veröffentlichte ein schockierendes Tagebuch der Gewalt, allerdings sogar aus einem offenen Heim. Vieles daraus überschreitet unser Vorstellungsvermögen und zeigt die Hilflosigkeit des betreuenden Personals.

Meine Damen und Herren! Obgleich es unterschiedliche Erfahrungen mit geschlossenen Heimen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, beharren einzelne Länder auf diesen Heimen, beabsichtigen sogar, diese auszubauen bzw. ziehen in Erwägung, geschlossene Heime zu errichten. Überblickartig seien hier nur einige angeführt.

In den meisten Bundesländern gibt es keine geschlossenen Anstalten. Im Freistaat Bayern sind Einrichtungen freier Träger für schwererziehbare Jugendliche mit geschlossenen Einrichtungen für kriminelle Jugendliche vorhanden. Bayern verfolgt auch weiterhin das Ziel, straffällige Jugendliche auch gegen den Willen der Eltern in geschlossene Heime einzuweisen.

In Baden-Württemberg sind zwei geschlossene Heime für kriminelle Jugendliche vom 14. Lebensjahr an vorhanden, wohlgemerkt bei positiven Erfahrungen mit diesen Heimen.

In Niedersachsen gibt es statt geschlossener Heime für kriminelle Jugendliche Jugendanstalten für straffällig gewordene Jugendliche von 14 Jahren an, die rechtskräftig verurteilt wurden. Allerdings sind Kinder aus Niedersachsen auch schon in geschlossenen Heimen in anderen Bundesländern untergebracht worden.

In Nordrhein-Westfalen gibt es sieben Plätze - sieben Plätze! - für die geschlossene Unterbringung von Kindern unter 14 Jahren. Voraussetzung dafür ist, daß von den Kindern eine Gefahr für sich selbst und für andere ausgeht.

Im Freistaat Sachsen gibt es verstärkt Überlegungen, geschlossene Heime wieder einzurichten. Bis jetzt werden jugendliche Straftäter in Einrichtungen der alten Länder untergebracht.

Sachsen-Anhalt besitzt keine geschlossenen Heime. Jugendliche ab 14 Jahren können in Jugendstrafanstalten untergebracht werden.

Meine Damen und Herren! Der sehr grobe Überblick über die Situation in der Bundesrepublik zeigt zugleich, um welche Größenordnungen an Plätzen in geschlossenen Heimen es sich handelt. Es geht uns mit unserem Antrag nicht darum, in Sachsen-Anhalt geschlossene Heime als Allheilmittel gegen straffällige Jugendliche und schwer therapierbare Kinder und Jugendliche einzurichten, sondern um die Möglichkeit, diese bei Notwendigkeit dann auch nutzen zu können. Auch innerhalb geschlossener Heime sind alternative Maßnahmen möglich, ja sie sind sogar notwendig, und sie schließen einander auch nicht etwa aus. Aber bitte,

meine Damen und Herren, verkennen Sie nicht: Es ist oft die letzte und einzige Chance zum Schutz für Kinder und Jugendliche und für die zu schützende Gesellschaft.

Wir können heute wiederum lang und breit über die Ursachen der Kriminalität sprechen. Das wurde unseres Erachtens ausführlich, wenn auch gegensätzlich in der vorangegangenen Sitzung im Dezember erörtert. Dabei darf aber nicht stehen geblieben werden. Bei der Präferenz notwendiger Vorbeugung gegen Kriminalität, gegen Gewalt dürfen dann allerdings auch konsequente Strafverfolgung und Strafe nicht ausgespart werden. Schnelle Strafverfahren und zügige Verurteilung sind ebenso wie eine Null-Toleranz-Strategie gegenüber Kri-minalität und Gewalt durchzusetzen.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

(Beifall bei der DVU)

Danke für die Einbringung. - Meine Damen und Herren! Es ist eine Debatte mit einer Redezeit von fünf Minuten je Fraktion in der Reihenfolge CDU, SPD, PDS und DVU vereinbart worden. Zuerst erteile ich für die Landesregierung Ministerin Frau Dr. Kuppe das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich biete wiederum an, meine Rede zu Protokoll zu geben. Wenn sich kein Widerspruch erhebt, würde ich so verfahren.

(Zustimmung bei der SPD)

(Zu Protokoll:)

Zunächst kann ich die von der Fraktion der DVU aufgestellte These der zunehmenden Gewalt von Kindern und Jugendlichen nicht unkommentiert stehen lassen. Über 90 % der Kinder und Jugendlichen durchlaufen ihre Entwicklung, ohne durch Gewaltdelikte auffällig zu werden. Zudem stellen Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen nach wie vor einen geringen Anteil aller Straftaten dar. Laut Kriminalstatistik 1998 sind nur 2,8 % aller Straftaten Gewalttaten und von diesen sind es lediglich 1,4 %, die von Kindern und Jugendlichen begangen worden sind.

Ich teile die Auffassung der DVU nicht, allein in geschlossenen Einrichtungen könnte schwer therapierbaren Kindern und Jugendlichen wirksam geholfen werden. Therapie - wie immer sie im einzelnen auch aussieht - ist auf Veränderung ausgerichtet und bedarf dazu ausreichender Zeit, entsprechender Methoden und normaler Lebensbezüge zur Erprobung und Festigung und vor allem stabiler Beziehungen von Menschen zueinander, die von Vertrauen und Verläßlichkeit gekennzeichnet sind. Maßnahmen mit Freiheitsentzug oder Freiheitsbeschränkung stellen schwerste Eingriffe in die Grundrechte eines Menschen dar.

Falls die DVU-Fraktion beabsichtigt, mit ihrem Antrag den Boden dafür zu bereiten, mißliebige Gruppen von der Bevölkerung zu isolieren, erinnere ich an das unrühmlichste Kapitel deutscher Geschichte, das mit ähnlichen Aktionen begann.