Protokoll der Sitzung vom 10.02.2000

Leider habe ich aber feststellen müssen, daß auch Sie das aber nicht zu Unrecht - sich eines Problems wie der Volksinitiative für die Zukunft unserer Kinder erst dann annehmen, wenn es auf ehernen gesetzlichen Grundlagen steht, nicht vorher. Darum verstehe ich nicht, daß Sie unserem Antrag auf Schaffung der landesgesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung einer Wohnungslosenstatistik nicht zustimmen können.

Wenn Sie, Herr Dr. Daehre, sagen, daß die Statistik überhaupt nichts an den Problemen ändert, dann haben Sie mir entweder in der letzten Sitzung nicht richtig zugehört oder Sie verstehen das Problem nicht richtig. Ich denke aber, daß Sie, Herr Dr. Daehre, vielleicht auch es sind ja immerhin drei Wochen verga ngen

(Lachen bei der SPD)

selbstkritisch in sich gegangen sind und daß vielleicht doch ein kleiner Umdenkungsprozeß erfolgt ist.

Freilich - darin stimme ich Ihnen zu - ändert eine Arbeitslosenstatistik oder eine Sozialhilfestatistik oder eben eine Wohnungsnotfallstatistik noch nichts an der Armutsproblematik. Letztere muß aber als gesetzlich verankerte Hilfswissenschaft Aufschluß über das tatsächliche Ausmaß der Wohnungslosigkeit geben, damit alle anderen Hilfsmaßnahmen genau geplant, kalkuliert und wirkungsvoll eingeleitet werden können.

Wie soll der Staat - die Kommunen sind seine Arme, Herr Dr. Daehre - das Problem überhaupt in den Griff bekommen und bekämpfen, wenn er nicht zuverlässige und gesetzlich geschützte Daten über die jeweiligen Problemfelder zur Verfügung hat?

Meine Damen und Herren! Wenn es im Landtag nicht eine gesetzliche Regelung über die Diäten gäbe, dann würde die eine Partei mehr in die Kasse greifen als die andere, und eine dritte bekäme möglicherweise gar nichts.

(Herr Sachse, SPD: Die DVU nichts! - Weitere Zurufe von der SPD - Zuruf von Frau Dr. Weiher, PDS)

Wenn schon der gesetzlich wichtige Schutz von Minderheiten, dann bitte auch von Tausenden ohne Wohnung.

Sehr verehrter Herr Dr. Daehre, appellieren Sie nicht an andere, sondern appellieren Sie einfach an Ihr Herz.

Aber zum Glück haben wir in der Sache der Obdachund Wohnungslosen einen echten Verbündeten in diesem Hohen Hause - die PDS.

(Heiterkeit bei der DVU)

Es ist zwar sehr bedauerlich, daß Sie sich in der letzten Debatte nicht zur Problematik der Ärmsten äußern wollten. Vielleicht war es Ihnen auch ein bißchen peinlich.

Aber, meine Damen und Herren von der PDS, zieht man einmal die linksextremen Forderungen nach Veränderung unserer demokratischen Gesellschaftsord

nung ab, dann bleibt die Forderung der PDS nach - ich zitiere - „Aufnahme des Rechts auf Wohnen als Verfassungsgrundsatz in das Grundgesetz“ übrig. Nun wollen wir zwar nicht gleich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ändern - ganz im Gegenteil. Wir wären schon zufrieden, wenn das im kleineren Maßstab, sprich auf Landesebene, geschehen würde.

Wir befinden uns ausnahmsweise, wenn es um die Bekämpfung der Obdach- und Wohnungslosigkeit von abertausenden Frauen, Kindern und Männern geht, mit der PDS-Fraktion im Konsens. Hierbei geht es um die Sache für die Menschen dort draußen in diesem Land Sachsen-Anhalt.

Meine Damen und Herren! Wenn es gelänge, Obdachund Wohnungslose wieder einzugliedern und mit einem polizeilich gemeldeten Wohnsitz zu versehen, dann könnten sich eventuell sogar Linke und Rechte diese 15 000 Wählerstimmen teilen.

(Heiterkeit bei der DVU)

Meine Damen und Herren! Noch eines an dieser Stelle klar und deutlich: Wir sind der PDS-Fraktion keineswegs böse, daß sie auf Landes- und Bundesebene schon vor uns Aktivitäten und Initiativen bezüglich der Situation der Obdachlosen und Wohnungslosen gestartet hat. Ganz im Gegenteil, denn das heißt, daß Sie heute unserem Antrag ganz sicher zustimmen werden.

Die weitreichendste Bewußtseinsbildung oder nennen wir es Bewußtseinswandlung hat unseres Erachtens die SPD-Landesregierung vollzogen. Meldete sie sich, als wir unseren Antrag erstmals einbrachten, gar nicht zu Wort, so hat sie letztens ihre Position zur Problematik der Obdach- und Wohnungslosen zu Protokoll gegeben. Dies tat sie sicherlich deshalb, weil die Zeit vor drei Wochen schon recht weit fortgeschritten war.

Wie bereits im Arbeitsmarkt- und Sozialbericht des Landes Sachsen-Anhalt mit Stand vom Juni 1999 - wir konnten es nachlesen - verweist Ministerin Frau Dr. Kuppe auf die GISS-Studie, mit der zum erstenmal Umfang und Struktur von Wohnungslosigkeit in einem ostdeutschen Bundesland und Strategien zu ihrer Vermeidung und Behebung dargestellt werden. Allein daß eine derartige Arbeit in Angriff genommen wurde, ist unseres Erachtens schon positiv zu bewerten.

Im selben Bericht ist nachzulesen, daß die Arbeitsgruppe „Armut“ bereits über Möglichkeiten einer landesbezogenen Armutberichterstattung diskutiert. Auch das, meine Damen und Herren, werten wir als positiv, denn nichts anderes als eine landesbezogene Armutberichterstattung wollen wir. Das soll selbstverständlich, um mit den Worten der CDU-Fraktion zu argumentieren, auf strenger gesetzlicher Grundlage geschehen.

Die bemerkenswerteste Aussage im Redeprotokoll von Ministerin Frau Dr. Kuppe ist für uns jedoch der Hinweis, daß zwar eine Wohnungsnotfallstatistik eingeführt werden soll, daß aber aufgrund der hohen Kosten und des hohen Aufwandes das Vorhaben derzeit noch nicht bewerkstelligt werden könne. Man höre und staune.

Auf der Grundlage dieses Erreichten - wir sind mit Ihnen, Frau Ministerin Dr. Kuppe, einer Meinung - fordern wir von der Landesregierung ein Notprogramm zur sofortigen Bekämpfung der Wohnungslosigkeit im Land Sachsen-Anhalt.

Meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, bitte verstehen Sie mich nicht wieder falsch. Wir wollen keine

zusätzlichen Wohnungen bauen, denn Wohnungen gibt es möglicherweise genug. Das wissen wir. Wir wollen gemeinsam dafür sorgen, daß Menschen darin auch Aufenthalt finden können und nicht mehr länger unter der Brücke schlafen müssen.

Die Bedingung für das alles ist aber die gesetzliche Grundlage, auf welcher das genaue, das tatsächliche Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit statistisch analysiert werden kann. Darauf aufbauend soll die Landesregierung mit einem Notprogramm zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit tätig werden.

Daß wir von der Landesregierung, meine Damen und Herren, Aufschluß darüber fordern, was die Einführung der Wohnungslosenstatistik kosten würde, könnten wir unserem Antrag heute anfügen. Aber ich denke, das könnten wir auch in einer zusätzlichen Anfrage tun. Ich gehe davon aus, Frau Ministerin Kuppe wird ausführlich an unsere Fraktion darauf antworten, ehe wir Haushaltsmittel dafür umlenken. Wir hätten auch schon Ideen, woher das Geld kommen könnte.

Nur auf der Grundlage einer gesetzlich verankerten Wohnungsnotfallstatistik können eine nachhaltige Wohnungspolitik, das heißt bedarfsgerechte Wohnungsplanung, Sozialarbeit und wissenschaftliche Ursachenforschung betrieben, können wirtschaftspolitische Konzepte zur dauerhaften sozialverträglichen Wohnungsversorgung erarbeitet werden. Demographische Grunddaten, wie Haushaltsgröße, Alter, Geschlecht, die für eine strenge statistische Repräsentativität Voraussetzung sind, aber auch Angaben über den Umfang und die soziale Zusammensetzung der Wohnungslosen würden dann einbezogen werden können.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren aller Fraktionen, besonders der Fraktion der PDS, aber auch der Fraktion der SPD - wir hatten festgestellt, daß wir Übereinstimmung haben -, um Ihre Zustimmung zur Überweisung unseres Antrages in die Ausschüsse für Finanzen, für Wohnungswesen, Städtebau und Verkehr sowie für Arbeit, Gesundheit und Soziales.

Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zum Schluß noch einen kleinen Hinweis, vielleicht zur Erinnerung, auf unsere Landesverfassung. In Artikel 40 Abs. 1 heißt es: Förderung menschenwürdigen Wohnraums zu angemessenen Bedingungen - Herr Dr. Daehre - für alle. In Absatz 2 heißt es: Niemand darf obdachlos werden.

Ferner hat die verfassunggebende Versammlung niemals davon gesprochen, daß die Wohnungs- und Obdachlosigkeit ein rein kommunales Problem sei oder in der originären Zuständigkeit der Kommunen liege. Sie spricht vielmehr davon, daß das Land und die Kommunen in die Pflicht genommen sind.

Deshalb richte ich den Appell an die Landesregierung und an Sie alle in diesem Hohen Haus. Ich denke, daß das der richtige Weg ist. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der DVU)

Vielen Dank. - Meine Damen und Herren! Bevor wir mit der Debatte über diesen Antrag beginnen, darf ich Schülerinnen und Schüler der Francke-Sekundarschule in Halle im Plenum begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Im Ältestenrat ist zu diesem Antrag eine Fünfminutendebatte vereinbart worden. Vor der Debatte der Fraktionen hat Ministerin Frau Dr. Kuppe um das Wort gebeten. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Bereits in der letzten Sitzung des Landtages am 20. Januar 2000 hatte die Antragstellerin die Landesregierung aufgefordert, gesetzliche Voraussetzungen für eine landeseinheitliche Wohnungsnotfallstatistik zu schaffen. Dieser Antrag fand keine Mehrheit im Plenum.

In Punkt 2 wird ein Notprogramm zur sofortigen Bekämpfung der Wohnungslosigkeit gefordert. Da nach den vorliegenden Zahlen im Land Sachsen-Anhalt ein Wohnungsleerstand von ca. 130 000 Wohnungen auszumachen ist, hält die Landesregierung ein Wohnungsnotprogramm nicht für erforderlich.

Neben dem Umgang mit dem Wohnungsleerstand sehe ich derzeit ein ganz anderes Problem. Die Wohnungsgesellschaften und auch andere Vermieter in unserem Land müssen sich dafür engagieren, daß Familien, auch ausländischer Herkunft, nicht ausgegrenzt, sondern in die Mietergemeinschaften integriert werden.

(Zustimmung bei der SPD und von Herrn Dr. Süß, PDS)

Der aktuelle Skandal in Halle ist für mich noch einmal Anlaß, auf diese Verantwortung explizit hinzuweisen.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Zuruf von Herrn Wolf, DVU)

Vielen Dank. - Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge CDU, SPD, PDS und DVU. Für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Herr Dr. Daehre das Wort. Bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema war schon vor drei Wochen auf der Tagesordnung. Frau Wiechmann, Sie haben mich mehrfach erwähnt. Das kommt davon; wenn die anderen nicht sprechen, dann kommt man in den Redebeiträgen der anderen öfter vor.

Es hat sich aber an unserer Position nichts geändert, Frau Wiechmann. Ich stehe mit Sicherheit nicht in dem Verdacht, die Landesregierung zu loben. Das nimmt man mir sicherlich auch ab.

(Herr Hoffmann, Magdeburg, SPD: Die DVU brauchen Sie nicht in Schutz zu nehmen!)

Aber in diesem Punkt stimme ich mit der Landesregierung überein. Die Situation ist so, wie sie Frau Ministerin Kuppe eben dargestellt hat. Es ändert auch eine Statistik nichts an dem Schlimmen, wenn jemand obdachlos

ist. Eine Statistik bereinigt überhaupt nichts, und eine Statistik ist immer so gut - dazu gibt es genug Sprüche -, wie man Statistiken interpretieren kann.

Das Grundübel, das dazu führt, daß wir die Obdachlosigkeit vorfinden, ist das Thema der hohen Arbeitslosigkeit. Ich denke, wenn wir das Thema der Arbeitslosigkeit angehen, dieses wirtschaftliche Problem, das uns alle bewegen sollte und bewegen muß, dann werden wir auch über diesen Weg die Obdachlosigkeit bzw. diese schlimme Situation der Betroffenen beseitigen können. Deshalb lassen Sie uns darum kämpfen, daß wir in diesem Land die Arbeitslosigkeit senken.

Im übrigen, meine Damen und Herren, möchte ich noch eines sagen: Die Wohnungsgenossenschaften sind, denke ich, in Absprache mit den Kommunen auch bereit zu helfen, wo geholfen werden kann. Bringen Sie uns konkrete Fälle, bei denen dieses nicht der Fall ist. Dann müssen wir uns damit auseinandersetzen, wenn tatsächlich solche Fälle auftreten, bei denen das Bemühen von Obdachlosen, wieder unter einem Dach zu wohnen, daran gescheitert ist, daß in den Kommunen keine Ansprechpartner dagewesen sind, die sich mit dem Problem auseinandersetzen. Außerdem verweise ich nochmals auf meinen Redebeitrag vom letzten Mal.