Protokoll der Sitzung vom 11.10.2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 63. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode. Dazu möchte ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen.

Ich kann die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses feststellen und komme zur Entschuldigung von Mitgliedern der Landesregierung:

Herr Ministerpräsident Dr. Höppner entschuldigt sich für die heutige Sitzung ab 15 Uhr. Er nimmt an einer Besprechung aller Regierungschefs der Länder mit dem Chef des Bundeskanzleramtes zur Unterrichtung über die aktuelle Sicherheitslage im Bundeskanzleramt teil.

Herr Minister Dr. Heyer entschuldigt sich ebenfalls für die heutige Sitzung. Er nimmt an der Konferenz der Verkehrsminister in Dresden teil.

Es ist an mich herangetragen worden, dass Kultusminister Herr Dr. Harms heute Abend an einer Veranstaltung mit Vertretern von Schulen aller Länder in Wörlitz teilnehmen möchte. Er bittet deshalb, einen Tagesordnungspunkt außerhalb der Reihenfolge der Tagesordnung zu behandeln. Ich komme darauf noch einmal zu sprechen.

Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung für die 34. Sitzungsperiode des Landtages liegt Ihnen vor. Am 8. Oktober 2001 wurde durch die Fraktion der CDU fristgemäß ein weiteres Thema für die Aktuelle Debatte eingereicht. Der Antrag zum Thema „Zukunftssicherung durch Wirtschaftswachstum“ liegt Ihnen in der Drs. 3/5053 vor. Dieses Thema der Aktuellen Debatte wird am Freitag behandelt werden, und zwar an dritter Stelle in der Reihenfolge der Tagesordnungspunkte, da gemäß einer Verständigung im Ältestenrat wegen der inhaltlichen Nähe zum ersten Thema der Aktuellen Debatte der Antrag zur Chemiepolitik - ich verweise auf Drs. 3/5042, ausgewiesen als Tagesordnungspunkt 3 - zunächst behandelt werden soll. Danach schließt sich der Tagesordnungspunkt 5 - Behindertengleichstellungsgesetz - an. In der Orientierung zum Zeitplan ist der von mir soeben genannte Ablauf bereits ausgedruckt.

Noch einmal zur Tagesordnung. Es geht um den Tagesordnungspunkt 17, der am heutigen Tage zwischen 19 Uhr und 19.35 Uhr behandelt werden sollte. Der Kultusminister hat darum gebeten, diesen Tagesordnungspunkt vorzuziehen.

Ich würde vorschlagen, den Tagesordnungspunkt 17 nach dem Tagesordnungspunkt 12 - Erziehungsgehalt einzuordnen. Gibt es dazu Einverständnis? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Eine Bemerkung noch zum zeitlichen Ablauf des heutigen Tages der 34. Sitzungsperiode: Wegen der parlamentarischen Begegnung mit dem Verband der Wohnungswirtschaft und dem Verband der Wohnungsgenossenschaften um 20 Uhr im Gebäude der Architektenkammer schlage ich vor, die heutige Landtagssitzung zwischen 19.30 Uhr und 19.45 Uhr zu beenden. Die morgige Sitzung beginnt um 9 Uhr.

Wir kommen somit zum Tagesordnungspunkt 1. Hierunter ist ein Bündel von Beratungsgegenständen zusammengefasst worden. Im Ältestenrat wurde vereinbart, nach der Abgabe der Regierungserklärung eine Aussprache durchzuführen, in der alle Fraktionen gleichermaßen eine Redezeit von 25 Minuten haben. Innerhalb

dieser Redezeit von 25 Minuten sind sowohl der unter Tagesordnungspunkt 1 b genannte Gesetzentwurf als auch die unter den Punkten 1 d bis 1 f genannten Anträge einzubringen. Das betrifft auch eventuelle Änderungsanträge. Eine Ausnahme ist für den Berichterstatter des Innenausschusses zu der Beschlussempfehlung in der Drs. 3/5025 - das ist Tagesordnungspunkt 1 c vereinbart worden. Wenn der Berichterstatter das Wort wünscht, wird es ihm am Ende der Debatte erteilt werden.

Nach der Debatte wird über alle unter Tagesordnungspunkt 1 zusammengefassten Vorlagen der Reihe nach, also über jede Vorlage im Einzelnen, abgestimmt. So weit meine Bemerkungen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 a auf:

Regierungserklärung zum Thema: Innere Sicherheit nach den Terroranschlägen in den USA

Bitte, Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bis dahin für unmöglich gehaltenes, mörderisches Vorgehen ist am 11. September 2001 in New York und Washington Wirklichkeit geworden. Das Leben von fast 6 000 Menschen wurde in einem kalt kalkulierten, präzise geplanten Anschlag vernichtet.

„Diese Anschläge“, so der Europäische Rat am 21. September 2001, „stellen einen Angriff auf unsere offene, demokratische, tolerante und multikulturelle Gesellschaft dar. Das Gewissen eines jeden Menschen wird dadurch berührt.“

Die Erkenntnisse, die wir nach Wochen fieberhafter Untersuchungen zur Verfügung haben, zeigen ein weit verzweigtes, international agierendes Netzwerk des Terrors mit Ausbildungscamps, Finanzverflechtungen, Vorbereitungs- und Ruheräumen für Attentäter sowie jahrelange Planungen und eine generalstabsmäßige Durchführung. Wenn viele heute sagen, die Welt habe sich seit dem 11. September verändert, so drückt sich darin auch die Gewissheit aus, dass nach einer Ergreifung Osama bin Ladens die Gefahr terroristischer Anschläge keineswegs gebannt ist.

Das Entsetzen über die Anschläge hat uns alle getroffen. Die anhaltende terroristische Bedrohung betrifft uns alle und nicht nur die, die in erster Linie für die öffentliche Sicherheit zuständig sind. Die Anschläge und die weiter existierende Bedrohung, aber auch die vielfältigen Nebenwirkungen wirken sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. Sie zwingen uns, viele Dinge kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls auch infrage zu stellen.

Die Auswirkungen berühren nicht nur die Innen- und Außenpolitik, Fragen der Sicherheits-, der Wirtschaftsund der Finanzpolitik, sondern auch das alltägliche Zusammenleben der Menschen miteinander. Dies gilt auch für unser Land. Zunächst und insbesondere werden wir die Fragen zu beantworten haben, wie es um die Sicherheitslage bei uns bestellt ist, welche Maßnahmen wir bereits getroffen haben und welche weiteren Schritte wir noch gehen müssen. Dazu hat die Landesregierung für die heutige Sitzung ein Sicherheitspaket vorgelegt, das der Innenminister gleich noch erläutern und im Einzelnen begründen wird.

In den vergangenen Wochen hat es sich als Vorteil erwiesen, dass der Innenminister Sachsen-Anhalts derzeit auch der Vorsitzende der Konferenz der Innenminister ist und so in engstem Kontakt mit dem Bundesinnenminister sowie den Innenministern der Länder und der Europäischen Union steht. Diese Zusammenarbeit hat sich in den letzten Wochen außerordentlich bewährt, meine Damen und Herren.

An dieser Stelle ist nicht erst seit dem 11. September vieles geleistet worden. Ich glaube, ich darf an dieser Stelle in unser aller Namen nicht nur Manfred Püchel, sondern auch den vielen Mitarbeitern in den für unsere Sicherheit zuständigen Behörden und Organen ausdrücklich danken.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Zustim- mung bei der CDU und von der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren! Am vergangenen Sonntagabend begannen militärische Maßnahmen gegen Osama bin Laden und zur Ausschaltung seiner terroristischen Infrastruktur. Diese Maßnahmen richten sich offensichtlich auch gegen das Talibanregime in Afghanistan, das bin Laden deckt. Die Nato hat den Beistandsfall beschlossen, die Bundesrepublik hat den USA Hilfe angeboten und dabei militärische Unterstützung ausdrücklich nicht ausgeschlossen.

Die Landesregierung kann die Sorgen und Befürchtungen, die viele Mitbürgerinnen und Mitbürger angesichts der barbarischen Anschläge und der jetzigen internationalen Lage überkommen, gut nachvollziehen. Aber wir sollten auch ehrlich mit uns sein: Die Befürchtungen, die manche ein, zwei Tage nach den Anschlägen hatten, sind nicht eingetreten.

Ich will für mich ganz persönlich sagen, dass ich die Ängste nachvollziehen kann. So wie mich die Anschläge von New York und Washington vor vier Wochen entsetzt und mit Abscheu erfüllt haben, so bedrückt mich heute der Spannungszustand der internationalen Politik.

Aber wir können uns angesichts dieser Bedrohung nicht wegducken. Um es klar zu sagen: Ich halte militärische Maßnahmen gegen den Terror für notwendig. Wenn wir den Mördern jetzt nicht mit Entschlossenheit und auch mit der nötigen Härte in den Arm fallen, wird es weitere Anschläge geben. Wir haben eben noch keine internationalen Polizeieinheiten, die so schlagkräftig vorgehen könnten, dass sie einem derartigen international agierenden Terrorismus Einhalt gebieten könnten.

Die klassische pazifistische Position drückt sich um die Frage herum, wie wir solchen Selbstmordattentätern begegnen und wie wir einem solchen Terrorismus Einhalt gebieten können. Darauf brauchen wir eine Antwort, und zwar eine praktikable Antwort, auch wenn wir wissen, dass sie unvollkommen sein wird.

Das Leben und die körperliche Unversehrtheit unserer Bürger sind eines der vornehmsten Menschenrechte. Wir müssen Sicherheit und Frieden notfalls auch mit repressiven Mitteln durchsetzen, wenn sie durch Gewalt bedroht werden. Der durchaus sehr zutreffende Verweis auf die sozialen Probleme in der Welt ist dabei kein Gegenargument. Es ist eine unverzichtbare Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen, und das erforderlichenfalls auch unter Androhung und Ausübung von Gewalt. Dies gilt für die äußere Sicherheit ebenso wie für die innere Sicherheit.

Es ist in den vergangenen Wochen viel gewarnt worden vor einer befürchteten Überreaktion der Amerikaner, die

alles noch schlimmer machen könnte. Ich kann eine solche Überreaktion nicht erkennen. Im Ganzen reagiert die internationale Politik derzeit in den USA, in Europa, in Russland, aber auch in den arabischen Staaten eher besonnen, mit diplomatischer Vorsicht, mit erstaunlicher Geschlossenheit und mit Augenmaß.

Aber wir sollten uns auch vor einem anderen Risiko hüten, nämlich dem einer fatalen Unterreaktion. Sie könnte bei den Terroristen die Illusion erwecken, wir wären gegenüber solchen Anschlägen hilflos und nicht wirklich entschlossen, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen.

Wichtig bleibt, dass die Militärschläge mit großer Präzision und mit der notwendigen Verhältnismäßigkeit geführt werden, damit danach mit aller Macht nach bin Laden und seinen Helfershelfern gesucht werden kann. Entscheidend wird der politische Prozess sein, der jetzt mit aller Anstrengung weitergeführt werden muss.

Wir wissen, militärische Maßnahmen können nur ein Teil des Kampfes gegen den Terrorismus sein. „Den Widerspruch“, so hat es der Bundespräsident vor wenigen Tagen in der Leipziger Nikolaikirche formuliert, „zwischen militärischen Aktionen gegen den Terrorismus und zivilisatorisch angemessenen Mitteln in diesem Kampf müssen wir aushalten.“

Zu diesen zivilisatorischen Mitteln gehören verstärkte humanitäre Maßnahmen für die afghanische Bevölkerung, für die Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Afghanistans, insbesondere auch in Pakistan; denn wenn wir in dieser Hinsicht nichts tun, bahnt sich eine Katastrophe an. Ich bin sehr froh darüber, dass Deutschland an dieser Stelle ausdrücklich Hilfe angeboten hat und bereits Aktivitäten vollzieht.

Dazu gehören aber auch die diplomatischen Anstrengungen der Uno und der EU. Dazu gehört die Beantwortung der Frage: Wer regiert Afghanistan nach den Taliban? Wer hilft beim Wiederaufbau dieses durch mehr als 20 Jahre Krieg geschundenen Landes? Dazu gehört die Frage: Wie kommt der Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang? Dazu gehört die Frage: Wie tritt die so genannte Erste Welt in Zukunft in der Völkergemeinschaft auf?

Dazu gehört die Frage: Wie wird der Globalisierungsprozess organisiert, ohne dass sich die Bewohner ganzer Staaten als dessen Opfer fühlen müssen? Und schließlich gehört dazu die Frage: Wie entziehen wir jenen Nutznießern dieser Situation den Boden, die unter dem Deckmantel der Religion Terror predigen und Selbstmordattentäter ausbilden können?

„Terror“, so hat es einer der bedeutendsten muslimischen Würdenträger in Deutschland dieser Tage formuliert, „kennt keine Religion.“

Meine Damen und Herren! Die Landesregierung hat sich in den vergangenen Wochen den Auswirkungen, die diese internationale Situation in ihrem Verantwortungsbereich hat oder haben könnte, mit großer Ernsthaftigkeit gestellt. Dies betrifft vor allem den Bereich der inneren Sicherheit. Die Sicherheitsmaßnahmen in SachsenAnhalt sind erheblich verstärkt worden. Wir legen heute ein zusätzliches Bündel von Maßnahmen vor, mit dessen Hilfe wir weitere Schritte zu größerer Sicherheit möglich machen.

Eine interministerielle Arbeitsgruppe wird sich in den nächsten Tagen auch weiter mit der Frage beschäftigen, was wir im Zivilschutz noch tun können, um die Bevölke

rung in solchen Katastrophenfällen zu schützen, die durch neuartige Anschläge ausgelöst werden könnten.

Wir werden es bei den notwendigen Maßnahmen zur inneren Sicherheit im engeren Sinne nicht belassen können. Über die Fragen des Verfassungsschutzes, der Polizeiarbeit, des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes hinaus werden wir auch Antworten geben müssen, die unser demokratisches Zusammenleben betreffen.

Ich weiß, besorgt sind derzeit Muslime, die in unserem Lande leben und die befürchten, unter einen Generalverdacht zu geraten. Sie sollten wissen, dass wir uns gegen den Terrorismus wenden und nicht gegen eine Religion, eine andere kulturelle Tradition oder ein Herkunftsland.

Ich halte es gerade in der jetzigen Situation für wichtig, den Dialog der Kulturen auf allen Ebenen voranzutreiben. Dazu müssen wir übrigens mehr voneinander wissen. Darin liegt auch eine große Aufgabe unserer Schulen.

Meine Damen und Herren! Besonderen Schutz schulden wir den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und ihren Gemeinden in unserem Lande. Sie sind von diesen politischen Entwicklungen in Angst versetzt. Sie verfolgen die Entwicklung mit großer Anspannung. Ich hatte am Montag Gelegenheit, mit den Vertretern des Zentralrates der Juden in Deutschland zu reden, und dabei ist das ausdrücklich zur Sprache gekommen.

Sie alle sollen wissen, dass wir alles tun, um ihre Sicherheit zu garantieren, jedenfalls alles, was in unserer Macht steht. Ich werde mit diesen Gruppen in unserem Lande in den nächsten Tagen auch Gespräche führen, damit sie wissen: Wir nehmen ihre Sorgen ernst und tun das Mögliche für ihren Schutz.

Meine Damen und Herren! Denken müssen wir aber auch an unsere Kinder, die über das Fernsehen zu Augenzeugen grausamer und sie verstörender Ereignisse geworden sind. Das wird nachhaltige Wirkungen auf ihre Seelen haben. Hier haben neben den Eltern auch die Lehrer eine große Verantwortung bei der Vermittlung von Erklärungen. Sie dürfen die Kinder mit ihrer Angst nicht allein lassen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank)

Hier ist viel Vertrauen zerstört worden. Ich habe es selbst in Gesprächen mit jungen Leuten gemerkt: Die Angst vor einem Krieg ist unter jungen Leuten groß eine völlig neue Erfahrung. Die müssen wir ernst nehmen. Sie wird nämlich die Frage des Mutes junger Leute in die Zukunft wesentlich und nachhaltig beeinflussen.

Meine Damen und Herren! Verantwortung tragen auch die Medien. Sie tragen Verantwortung dafür, dass es zu sachgerechter Information kommt, Verantwortung für Aufklärung. Das Geschäft mit der Angst und Hysterie blüht. Dem darf kein Vorschub geleistet werden. In einer solchen Situation ist auch der Satz richtig, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist, und wir müssen kluge und weitreichende Entscheidungen treffen.

Verantwortung haben natürlich vor allem auch wir Politiker. Hier sage ich ganz bewusst „wir Politiker“, weil es eben keineswegs nur die Regierenden sind. Die Gewährleistung des Schutzes von Leben, Gesundheit, Eigentum und anderen Rechten ist ein elementares soziales Grundbedürfnis aller Menscher in diesem Lande. Lassen Sie uns besonnen und mit Augenmaß unser aller