Erstens. Wir müssen grundlegend überdenken, was wir in der Schule vermitteln, und noch mehr, wie wir dies tun. Schule muss sich stärker darauf konzentrieren, dass die Schüler wirklich verstehen und begreifen. Der Unterricht muss mehr darauf angelegt sein, dass die Schüler selbst geistig tätig werden.
Keine Unterrichtsmethode ist für sich ein Allheilmittel, sondern es bedarf einer ausgewogenen Mischung. Eine
solche Neuorientierung der Lehrpläne und der Didaktik wäre nicht nur für die Schüler wichtig, sondern auch für die Lehrer. Es ist schon auffallend, dass sie trotz des mageren Ergebnisses unter einer psychischen Belastung stehen wie kaum irgendwo sonst, laut Pisa-Studie.
Zweitens. Wir müssen die Bedeutung der Grundschule und wohl auch der Vorschulzeit für die spätere Entwicklung stärker beachten und auch dem entsprechen. Bereits die Grundschule ist ein Ort konzentrierten Lernens und ist auch so zu begreifen.
Kindgerecht und anspruchsvoll schließen sich nicht aus, sondern gehören für uns zusammen. Viele Weichen in der kindlichen Entwicklung sind längst gestellt, bevor ein Kind in die Schule kommt. Darum müssen wir darüber nachdenken, welche Anregungen und auch geistigen Herausforderungen wir Kindern vor der Schulzeit bieten sollen.
Jetzt sage ich auch gleich an die Adresse der PDSFraktion: Dies betrifft keineswegs nur Einrichtungen wie Kindergärten, sondern mindestens ebenso sehr auch das Elternhaus. Das hat dabei eine ganz herausragende Bedeutung.
Drittens. Wir müssen die Schule nicht als Krisenherd unserer Gesellschaft, sondern als deren Spiegelbild begreifen. Die Schule funktioniert eben nicht als isolierte Instanz in der Gesellschaft. Wir können von der Schule nicht ernsthaft Leistungen erwarten, die außerhalb der Schule nicht vorgelebt werden und nicht erfahrbar sind.
Wie soll die Schule Kinder zum Lesen bewegen, wenn diese aus ihrem familiären Umfeld nur den Fernseher kennen? Wie soll die Schule Leistungsbereitschaft und Wissbegierde erwecken können, wenn vom Kind sonst nur Fun und Konsum als Gipfel der Selbstverwirklichung, vornehmlich nach dem Motto: „Lerne klagen, ohne zu leiden“, vernommen wird?
Wie soll sie Kreativität fördern, wenn diese sonst eher als störend empfunden wird? Wie soll sie erfolgreich ermutigen, Fragen zu stellen, wenn niemand Zeit hat, diese anzuhören?
Die Schule kann nur so gut und erfolgreich sein, wie wir alle den Kindern glaubhaft vermitteln, dass sich Schule auch wirklich lohnt. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.
Ich empfehle uns, zum Beispiel im Rahmen der Selbstbefassung im Ausschuss für Bildung und Wissenschaft eine intensive Diskussion mit Didaktikern, Erziehungswissenschaftlern und auch anderen Fachleuten zu führen.
Lassen Sie mich am Ende noch einen Punkt von Pisa anführen, der uns, glaube ich, etwas Anlass zu Optimismus geben sollte. Es gibt nämlich Länder, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte durch die Bildung nach vorn entwickeln konnten. Über die dazu für Deutschland notwendigen Schritte nachzudenken ist zumindest für uns der eigentliche Auftrag dieser Studie. - Vielen Dank.
Danke sehr. - Sie hören jetzt abschließend die Meinung der Landesregierung, vorgetragen durch den Kultusminister Herrn Dr. Harms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich als Erstes klarstellen: Die Studie ist nicht über uns gekommen, sondern wir haben sie in Auftrag gegeben. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Alle Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland haben diese Studie gemeinsam in Auftrag gegeben. Wir haben uns an der internationalen Erkenntnisgewinnung beteiligt, weil wir genau diese Erkenntnisse haben wollten; nicht im Ergebnis, das will ich wohl zugeben. Aber wir wollten wissen, was ist tatsächlich los. Ich glaube, dass dies außerordentlich wichtig ist.
Zweitens. Die Art und Weise der Debatte ermutigt mich in der Ansicht, dass dies ein richtiger Schritt ist. Ich will ausdrücklich sagen, dass mit Ausnahme zweier Beiträge die Debattenbeiträge der großen Parteien deutlich machen, dass die Lesekompetenz in diesem Haus tatsächlich vorhanden ist.
Das heißt, dass man sich mit den Ergebnissen auseinander setzen will, und das ist die Grundlage dafür. Das finde ich außerordentlich erfrischend.
Die Ergebnisse der Studie sind ernüchternd. Ich will schwerpunktmäßig noch einige herausheben, weil die Überschrift der Debatte lautet: „Die Ergebnisse von Pisa und mögliche Konsequenzen“.
Erstens. Es ist kein Schulsystem untersucht worden, sondern die Kompetenzen 15-Jähriger weltweit in Bezug auf das Lesen und das Textverständnis in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften. In allen untersuchten Kompetenzbereichen ist festzustellen, dass die mittleren Ergebnisse der deutschen 15-Jährigen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegen und dass die Streuung der Leistungen in Deutschland breiter ist als in jedem anderen Land, was die Lesekompetenz angeht. Das heißt, wir schaffen es nicht, sowohl die Schwachen als auch die Starken entsprechend zu fördern und dabei ein mittleres Niveau zu halten.
Der Anteil derjenigen - das ist das erste erschreckende Ergebnis -, die nur das untere, elementare Kompetenzniveau erreichen oder es nicht erreichen, ist außerordentlich hoch. Deutschland liegt im Hinblick auf die Lesekompetenz auf dem fünftletzten Platz von 32 OECDStaaten.
In Bezug auf die Arbeit unserer Schulen und die Notwendigkeit der Lehrerbildung sei auch gesagt, dass nur 11 % der schwachen Leser, das heißt derjenigen, die dieses schwache Kompetenzniveau erreichen, von den Lehrerinnen und Lehrern erkannt werden. Das bedeutet aber, dass unsere Fördermaßnahmen möglicherweise in die Irre gehen. Darüber müssen wir sehr genau nachdenken.
Im oberen Leistungsbereich entsprechen wir den durchschnittlichen Leistungen der OECD-Staaten. Darüber hin
Und - die Vorredner haben es gesagt - nirgendwo auf der Welt ist der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Kompetenzerwerb in den drei Untersuchungsbereichen statistisch so eng. Das bedeutet, nirgendwo auf der Welt bestimmt der soziale Status den schulischen Lernerfolg so deutlich wie in Deutschland. Das heißt, unter der Überschrift „Chancengleichheit“ findet in Deutschland in Bezug auf die untersuchten Kompetenzbereiche nichts statt. Diesbezüglich sind wir alle in extremem Maße gefordert.
Schwächen zeigen sich in allen untersuchten Bereichen nicht bei den technischen Fertigkeiten, nicht beim Anwenden einfacher Regeln, sondern Schwächen zeigen sich in den Bereichen, in denen es darum geht, qualitatives Verständnis für Sachverhalte zu erlangen und mit Rückgriff auf erlernte Techniken diese zu bearbeiten. Das gilt für das Text- und Leseverständnis genauso wie für Mathematik und Naturwissenschaften. An dieser Stelle zeigen sich die Ergebnisse von TIMSS erneut.
Die starken Überlappungen in den Leistungsspektren der einzelnen Schulformen zeigen auch, dass das gegliederte Schulwesen jedenfalls nicht dazu geeignet ist, diagnosesicher Gruppen von Schülerinnen und Schülern zu trennen. Alle Schulformen haben vielmehr ein sehr breites Leistungsspektrum.
Frau Kauerauf hat auf das wichtige Problem der Zurückstellungen und Klassenwiederholungen hingewiesen. In keinem Land sind in dem Maße Zurückstellungen und Klassenwiederholungen zu beobachten. Das heißt, unser Reflex „Klassenziel nicht erreicht - Wiederholung“ führt nicht dazu, dass in den Jahren danach bessere Leistungen erreicht werden. Wir müssen uns deshalb andere Formen der Förderung überlegen.
Aufgrund der verspäteten Einschulung in Deutschland halten sich nur 23,5 % der 15-Jährigen in der 10. Klasse auf, während dies beispielsweise in Frankreich über 53 % sind. Auch an dieser Stelle haben wir ein großes Problem. 12 % der 15-Jährigen waren vom Schulbesuch zurückgestellt worden. 24 % mussten im Verlauf ihrer Schulkarriere eine Klassenstufe wiederholen.
Ich habe diese Ergebnisse nur noch einmal benannt, damit man sieht, wie komplex die Problematik ist und dass wir nicht mit einer Antwort auf diese Frage reagieren können.
Ich habe in der letzten Woche ein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt. Diesbezüglich will ich ausdrücklich sagen: Das ist nicht die Antwort auf die Ergebnisse von Pisa, sondern es ist ein Ergebnis mehrmonatiger Diskussion und ein Vorschlag zu der Diskussion, die jetzt im Zusammenhang mit den Ergebnissen von Pisa notwendig ist. Es werden weitere Schritte notwendig sein. An dieser Stelle ist keine abschließende Antwort gegeben.
Es sind darin aber einige Elemente enthalten, nämlich die Stärkung der Selbständigkeit der Schule, die deutliche Stärkung der Elternrechte als Partner in der Schule, die Definition von klaren Standards, die auf dem mittleren Kompetenzniveau erreicht werden müssen, und eine Stärkung der Fortbildung und Weiterbildung insbesondere in den Bereichen Diagnosefähigkeit, Förderkompetenz und differenziertes Arbeiten mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Leistungsebenen, damit das Fordern von Starken und die Förderung von Schwachen tatsächlich möglich ist, sowie die Stärkung
der Deutsch-, der Mathematik- und der Fremdsprachenkenntnisse in der Schule. An dieser Stelle sei deutlich gesagt, die Fremdsprachenkompetenz ist eine Grundkompetenz in einem zusammenwachsenden Europa. Wir können uns nicht auf die Muttersprache allein zurückziehen.
Wir müssen die Unterrichtsversorgung verbessern und zu einer zeitgerechten Einschulung kommen. Das heißt, wir müssen die Zahl der Rückstellungen reduzieren.
Erstens. Wir brauchen keine Schulstrukturdebatte. Wir haben in Deutschland eine lange Erfahrung darin - ich glaube, das meinte Frau Kauerauf mit dem Begriff „ideologisierte Schuldebatte“ -, uns in wechselseitigen Strukturdebatten mit bereits bekannten Wortschablonen zu überhäufen und nicht an die eigentlichen Probleme heranzugehen. Es geht in der Tat um die Frage, wie unterrichtet wird, wo die Schwerpunkte liegen und um die Fragen der Qualität des Unterrichts. Deshalb bitte keine Geisterdebatten!
Zweiter Punkt. Der frühe Beginn ist das Entscheidende. Hierzu sehe ich einen großen Konsens in diesem Haus. Wir investieren sehr viel in die weiterführenden Schulen. Unsere gymnasiale Oberstufe ist im weltweiten Vergleich hervorragend ausgestattet. In der Grundschule, teilweise auch im Kindergarten, wo die Grundlagen für Denkvermögen, für Sprachvermögen, für Kommunikationsfähigkeit und für Textverständnis gelegt werden, müssen wir mehr investieren und auf diese Phase müssen wir unsere Aufmerksamkeit richten.
Drittens. Die Verantwortung der Eltern muss betont werden. Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg hat auch etwas mit den Elternhäusern zu tun; die Schule wird nicht jedes Problem lösen können. Wenn eine Hamburger Untersuchung, die ich schon einmal in diesem Hause zitiert habe, zu dem Ergebnis kommt, dass die Lernausgangslage von Fünftklässlern einen einzigen signifikanten Zusammenhang aufzeigt, nämlich einen Zusammenhang mit der Zahl der Bücher im Haushalt der Eltern, dann stellen wir fest, dass hier eine ganz elementare Verantwortung der Eltern liegt. Vielleicht kann man darauf gerade in der Weihnachtszeit hinweisen unter der Überschrift „Schenken Sie Bücher“.
Aber damit ist wirklich nicht ausreichend geantwortet, sondern wir brauchen auch Elternbildung und wir brauchen ein Klima der Wertschätzung von Bildung innerhalb der Gesellschaft.
In der Schule müssen wir eine neue Lehr- und Lernkultur entwickeln. Das heißt, die Bereitschaft, sich anzustrengen und Leistungen zu erbringen, muss einhergehen mit einem schülerbezogenen und anwendungsbezogenen Unterricht.
Die Veränderung des Unterrichts läuft nicht auf eine Paukschule zurück, das sei auch gesagt. Wir haben in vielen Leserbriefen das Argument: Das war früher alles besser. - In Bezug auf die Techniken stimmt das, auch in Bezug auf das übende Wiederholen, wenn man sich den Mathematikunterricht anschaut. Aber bei den Kompe
tenzniveaus, die jetzt in der Pisa-Studie gefordert werden, nämlich die selbständige Anwendung auf komplexe Themenstellungen, hatte auch die DDR-Schule ein Problem, genauso wie die Schule der alten Bundesrepublik.