Immerhin: Zur Osterweiterung der Europäischen Union kann es keine Alternative geben. Lassen wir beispielgebend ein weiteres Land zu Wort kommen, um die verständliche Sehnsucht der ostdeutschen Länder nach Zugehörigkeit zur Europäischen Union auszudrücken. Der ehemalige polnische Außenminister Bartoszewski formulierte es so - ich zitiere -:
„In der Geschichte der Völker dieses Kontinents hat der Begriff ‚Europa‘ eine zivilisatorische Bedeutung angenommen. Er wurde zu einem kollektiven Symbol von fundamentalen Werten und Prinzipien. Europa, das bedeutet vor allem die Freiheit der Person, die Menschenrechte, politische und ökonomische Freiheit. Gleichzeitig ist es die Reflexion über das Schicksal der Menschen und die moralische Ordnung, die den jüdisch-christlichen Traditionen und der unvergänglichen Schönheit der Kultur entspringt.“
Aus dieser Begrifflichkeit leitet Polen - das gilt analog für die anderen osteuropäischen Länder - seine Zugehörigkeit zu den europäischen Werten, zu den europäischen und westlichen Strukturen ab und strebt wie diese eine schnelle Einbindung in die Europäische Union an.
Diesen Anforderungen müssen sich Europa, Deutschland und, hierin eingebunden, speziell Sachsen-Anhalt stellen. Die Große Anfrage bietet uns die Möglichkeit, zusätzlich näher darauf einzugehen.
Bei diesem Vorgang muss aber auch die herausragende Rolle der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der EU und für die EU kurz eingeschätzt werden. Warum? - Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands erreicht ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes der gesamten EU und etwa ein Drittel der zwölf Mitgliedsstaaten der Euro-Zone. Mehr als die Hälfte der deutschen Exporte fließt in die Länder der Europäischen Union. Also werden unser politisches und ökonomisches Gewicht sowie unsere Handlungsweise in Europa kritisch beobachtet.
Welche Rolle spielen wir bei der Ausgestaltung der künftigen europäischen Architektur? - Aus einer Union von 15 Mitgliedern mit 380 Millionen EU-Bürgern soll in den nächsten Jahren eine Union von 27 Mitgliedern mit ca. 480 Millionen Menschen werden. Deutschland rückt wie Sachsen-Anhalt geografisch in die Mitte Europas.
Übrigens war das Handelsvolumen Deutschlands mit den assoziierten Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa mit 92 Milliarden € im Jahr 2000 etwa so groß wie das mit den USA. Wir erkennen, welche Handelschancen sich mit der Integration für Deutschland ergeben.
Trotzdem hat die Osterweiterung der Europäischen Union ständig Hürden zu überwinden. So brachten die Regierungskonferenzen von Berlin und Nizza wegen der schlechten Vorbereitung und Abstimmung nicht die für die europäische Integration notwendigen Erfolge. Der Berliner Gipfel schaffte keinen gleichberechtigten Zugang zu den Fördermöglichkeiten der Europäischen Union für die bisherigen und künftigen Mitglieder. Der Gipfel von Nizza muss mit einer Fülle von Left-overs über den jetzt laufenden Konvent und die kommende Regierungskonferenz, die voraussichtlich in Rom stattfinden wird, nachgebessert werden.
Die jüngsten Vorschläge der Europäischen Kommission zur Finanzierung der Erweiterungskosten in der Agrarund in der Strukturpolitik zeigen, dass die Europäische
Union eventuell unterschiedliche Förderniveaus für die EU-15 und die Beitrittsländer hinnehmen will. Diese Entwicklung ist fatal und führt zu einer Zwei-Klassen-EU. Das muss verhindert werden.
Warum kommt es aber laufend zu diesen Problemen? Ein wesentlicher Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass Deutschland mit seiner Europapolitik nicht mehr glaubwürdig ist. Dafür gibt es viele Anzeichen und Belege. Beispielsweise sagte der frühere französische Außenminister Francois Poncet im Februar 2002 - ich zitiere -, „dass man nicht mehr klar sieht, wo Deutschland hin will in Europa.“
Einige gravierende Beispiele sprechen leider ebenfalls dafür. Ich möchte sie nennen, meine Damen und Herren:
Zweitens. In der Zeit des laufenden Konvents unter Leitung des Franzosen Valéry Giscard d’Estaing wurden in einem Brief Vorstellungen des Bundeskanzlers Schröder und des britischen Premierministers Blair zur Reformierung des Europäischen Rates an den spanischen Ratsvorsitzenden Aznar geschickt. Das ist eine Aufgabe des Konvents, oder?
Drittens. Die rote Karte der Europäischen Union wird als so genannter blauer Brief von uns abgelehnt. Das ist europäischer Darwinismus. Darf denn die mangelhafte Einhaltung des Stabilitätspaktes durch ein Land nur dann thematisiert werden, wenn Deutschland daran nicht beteiligt ist? Wie soll daraus eine Stabilitätspolitik für die Europäische Union abgeleitet werden? - Das ist nicht machbar.
Viertens. Bundeskanzler Schröder versprach im vergangenen Sommer vorlaut den Tschechen Priorität beim Beitritt zur Europäischen Union. Nachdem der Ministerpräsident der Tschechischen Republik Zeman mit seinen rassistischen Äußerungen in Israel voll gegen die Kopenhagener Kriterien verstoßen hatte, hörte man nichts Bewertendes von unserem Bundeskanzler. Anders war es hingegen, als sich in Österreich eine Regierung bildete, an der die SPÖ nicht mehr beteiligt war. Das sollte zur vollen Ausgrenzung dieses EU-Landes führen, wenn man Schröders Vorstellungen gefolgt wäre.
Fünftens. Der deutsche Außenminister Fischer brachte eigene Vorstellungen zur Entwicklung der Europäischen Union in die Öffentlichkeit, die er anschließend als seine privaten auswies.
Diese Aufzählung könnte so fortgesetzt werden, meine Damen und Herren. Sie sehen, es gibt ein buntes Treiben in und mit der Europäischen Union. Wo ist die ordnende Hand, wie wir sie einst unter Bundeskanzler Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Mitterand gewohnt waren?
Wie wird auch unter diesem Aspekt die Europapolitik in Sachsen-Anhalt gestaltet? Wie wird unsere Landesregierung insbesondere im Zusammenhang mit den Integrationsanforderungen zur Osterweiterung dieser Politik gerecht?
Ich stelle fest, dass einige der vorliegenden Anfragen aus aktueller Sicht ausreichend beantwortet werden konnten
und so auch für die notwendige Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden können. Das sind die Anfragen zu sozialen Leistungen, zum Verbraucherschutz, teilweise zum Gesundheitswesen, im Wesentlichen zu innen- und rechtspolitischen Aspekten, zur Zusammenarbeit mit ausgewählten Beitrittsländern, zur touristischen Zusammenarbeit, zum Jugendaustausch sowie zu den Bildungsund innovativen Aspekten der Osterweiterung der Europäischen Union. Das hat mich gefreut.
Aber darüber hinaus stellte ich bei der Mehrzahl der Antworten eine unzureichende und zum Teil desinteressierte Beantwortung fest, wenn gar nicht auf die Fragestellungen eingegangen wurde oder widersprüchliche Antworten gegeben wurden. Wer die Antworten gelesen hat, wird mir Recht geben.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich einige symptomatische Beispiele für eine völlig unzureichende Beantwortung der Fragen nennen.
Zu Frage I.2: Welche Aktivitäten zur Öffentlichkeitsarbeit sind durch die zuständigen Einrichtungen, Vereine, Verbände und Gewerkschaften vorgesehen? - Die unkorrekte Antwort lautet:
„Die Vorbereitung des Landes auf die Osterweiterung bildet einen Schwerpunkt der Aktivitäten, die in enger Kooperation der Landesregierung mit anderen Einrichtungen, Vereinen, Verbänden und Gewerkschaften vorgesehen sind.“
Die Frage nach den Aktivitäten und den Verbänden und Vereinen ist nicht beantwortet worden. Wir hätten uns die Frage sparen können.
Zu Frage I.4: Wie viele der Verhandlungskapitel sind mit welchen Ländern bereits abgeschlossen? - Es wird, meine Damen und Herren, in einer unklaren Antwort auf eine Anlage verwiesen, die jedoch nicht vorliegt.
Zu Frage I.6: Für welche Verhandlungskapitel und Länder wurden Übergangsfristen mit welchem Zeitraum vereinbart? - Die unzutreffende Antwort: Die Landesregierung weist auf eine Internetadresse hin. Leider sind dort - ich habe es überprüft - keine Übergangsfristen aufgeführt. Das bedeutet: Antwort verfehlt.
In Frage I.10 geht es um die Konsequenzen, zum Beispiel in Bezug auf das irische Nein zum Nizza-Vertrag. In der unverständlichen Antwort wird auf das Nizza-Protokoll eingegangen, die Frage jedoch nicht beantwortet.
Zu Frage II.2: Welche Chancen bietet eine schnelle Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für SachsenAnhalt? - Die unzulängliche Antwort lautet: Bestimmten Branchen kann eine qualifizierte Zuwanderung dienen usw. Als Beispiel fallen der Landesregierung lediglich die Mediziner ein. Man könnte sich eine derartige Beantwortung schenken.
Zu Frage III.9: Welche Auswirkungen hätte der Wegfall der Strukturfondshöchstförderung für Sachsen-Anhalt? Die unzureichende Antwort lautet: Die politischen Signale deuten darauf hin, dass in Sachsen-Anhalt auch in den Jahren 2007 bis 2013 eine Strukturfondsförderung möglich sein wird. - Der Wegfall dieser Förderung hängt wie ein Damoklesschwert über Sachsen-Anhalt. Wir beruhigen uns aber mit Signalen und gehen nicht auf die Problemlage ein. Das ist meiner Meinung nach unverantwortlich.
Das sind nur einige Beispiele. Die Reihe lässt sich fortführen. Ich kann meine Aussagen jederzeit belegen. Wer noch Zweifel an diesen Aussagen hat, den möchte ich auf einige der gravierenden Wiedersprüche aufmerksam machen, die in den Antworten deutlich werden. Ich verstehe einfach nicht, dass man so leichtfertig mit derartigen Fragen umgeht.
Beispielsweise bei Frage I.5: Welche Verhandlungskapitel weisen auf eine hohe Problemlage in SachsenAnhalt hin? - Die lapidare Antwort: Eine besondere Betroffenheit des Landes Sachsen-Anhalt liegt, abgesehen von den Problemen, die sich für Deutschland bzw. für die Länder insgesamt stellen, nicht vor.
Meine Damen und Herren! In Bezug auf alle Schwerpunkte lassen sich problematische Aspekte herausstellen - das will ich uns aber ersparen -, siehe Freizügigkeit usw.
In der Antwort auf Frage 7 auf Seite 19 erfahren wir: Bezüglich der Strukturfondsförderung gibt es eine abgestimmte Position der neuen Bundesländer. Die Landesregierung verweist - ausweichend - darauf, dass sie in Abstimmung mit der Bundesregierung auf der Regionalkonferenz der Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder im Frühjahr 2002 berichten will.
In den Arbeitsschwerpunkten der Europapolitik des Landes Sachsen-Anhalt vom Mai 2001 kann man das anders lesen. Darin steht auf Seite 7: „Deshalb werde die Entwicklung durch eine abgestimmte Position der ostdeutschen Länder unterstützt.“ - Entweder haben Sie hierbei Ihre Zielstellung verändert oder die Ihnen vorliegenden Papiere sind nicht ausgetauscht worden.
Zu Frage III.12: Welche Kosten sind durch die Osterweiterung in Sachsen-Anhalt direkt bzw. indirekt zu erwarten? - Die unverständliche Antwort: Die Osterweiterung der EU ist nicht mit unmittelbaren Kosten für Sachsen-Anhalt verbunden. - Da frage ich mich, was etwa ein eventueller Wegfall der Strukturhilfsförderung zur Folge hat. Der führt zu einem erhöhten Kostenanfall; das ist doch logisch.
Zu Frage IV.1: Welche Veränderungen in der Innen- und Rechtspolitik erwartet die Landesregierung mit Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt? - Antwort: Es sind keine unmittelbaren Veränderungen der Innenpolitik mit Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt zu erwarten.
Allerdings weist die Landesregierung in den Antworten auf die Fragen IV.6 bis IV.10 auf die Fülle der Kriminalitätsprobleme hin. Dieser Gefahr könne durch eine entsprechende verstärkte Zusammenarbeit begegnet werden, schreibt die Landesregierung.
Meine Damen und Herren! Analoge Aussagen lassen sich zu den Bereichen Wirtschaft, Verkehr und Arbeitsmarkt festhalten. Ich musste diese Beispiele anführen, damit Sie mitbekommen, wie mit derartigen Großen Anfragen umgegangen wird.
Erstens. Die Beantwortung der Fragen ist über weite Strecken oberflächlich, unvollständig und zum Teil widersprüchlich. Auf eine Reihe von Fragen wurde überhaupt nicht eingegangen.
Zweitens. Entweder erfolgte die Beantwortung zu vielen der Anfragen bewusst so oder in Unkenntnis. Für mich wird erkennbar, dass es keine Koordination in der Landesregierung gibt.
Drittens. Ebenso deutet alles darauf hin, dass es keine kontinuierliche, beharrliche Europapolitik gibt. Sie findet vorwiegend zu bestimmten Anlässen oder in Sonntagsreden statt.
Viertens. Strukturbestimmende Vorhaben der Europäischen Kommission werden so zum Teil verspätet wahrgenommen. Ein Versuch ihrer Eindämmung bei negativen Auswirkungen für unser Land erfolgt verspätet bzw. in Hauruck-Aktionen. Ausnahmen unter dem Einfluss von Verbänden, wie zum Beispiel des VCI, bestätigen diese Verfahrensweise.
Fünftens. Welche Zuordnung die Europapolitik hat, zeigt sich auch darin, dass Berichte oder Mitteilungen zur Europapolitik in den Ausschüssen nur von einem Mitarbeiter der Staatskanzlei gegeben werden. Die Staatssekretäre Ballhausen oder Jonas stellen sich kaum der Problematik und Thematik.