Protokoll der Sitzung vom 13.03.2003

In diese Phase fällt der Vorschlag einiger ostdeutscher Ministerpräsidenten, Ostdeutschland zur Modellregion für Entbürokratisierung und Deregulierung zu machen. Hört man das das erste Mal, denkt man, das klingt gar nicht so schlecht. Natürlich hat die Bürokratie längst labyrinthische Ausmaße angenommen, aber unter Deregulierung wird auch der Abbau von Arbeits-, Kündigungs-, Bau-, Planungs- und Mitbestimmungsrechten verstanden - alles Dinge, für die der Osten teilweise schon seit Jahren über deutlich abweichende Regelungen verfügt.

Warum, frage ich mich, setzt die Landesregierung auf diese alte Schindmähre? Warum fragt sich die Landesregierung hier in Sachsen-Anhalt nicht stattdessen, worin die wirklich nachhaltigen Entwicklungspotenziale dieses Landes liegen, und baut diese selbstbewusst aus?

Die Rede heute hat wieder den strukturellen Ansatz gezeigt und nicht den wirklich inhaltlichen, bezogen auf diese Potenziale. Die PDS sagt an der Stelle: Wir wollen Innovation statt Niedriglohn und damit wissenschaftlichtechnische und technologische Potenzen des Osten nutzen, und das sagen wir schon seit zwölf Jahren.

(Beifall bei der PDS)

Die kleinkarierte Diskussion über das Sonderwirtschaftgebiet Mitteldeutschland durch die drei Regierungen der betroffenen Länder macht das Desaster der ostdeutschen Entwicklung der letzten zwölf Jahre deutlich. Die einzige Chance für den Aufholprozess gegenüber dem Westen wird in Billigjobs und in der Unterwanderung von Rechten der demokratischen Mitwirkung beim Planungs

verfahren sowie im Unterlaufen ökologischer Standards gesehen.

Wir vertreten konzeptionell fünf Kernthesen zur Entwicklung des Ostens:

erstens den Osten als Produktionsstandort für Wissenschaft entwickeln,

zweitens die Vorteile des ostdeutschen Bildungs- und Kulturpotenzials stärker nutzen,

drittens das spezifische Innovationspotenzial von Frauen zur Geltung bringen,

viertens effektive Verwaltungsstrukturen zur Erhöhung der Standortattraktivität gestalten und

fünftens dann endlich das Sonderwirtschaftsgebiet Ost schaffen, das den hier existierenden Unternehmen echte Chancen zum selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung bietet.

Insbesondere aufgrund der hohen Investitionen, die in den vergangenen Jahren in der Wissenschafts- und Hochschullandschaft getätigt worden sind, halten wir es für notwendig, diese Investitionen heute nicht infrage zu stellen, sondern diese Bereiche vor allem durch eine Wertschöpfungsverknüpfung mit Unternehmen vor Ort auszubauen. Wir haben dazu einzelne Forderungen aufgestellt, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte, die auch in diesem Fünf-Punkte-Programm der PDS verankert sind.

Zu der Frage des ostdeutschen Bildungs- und Kulturpotenzials ist zu sagen, dass Bildung die wesentlichste Frage ist, die den Osten in die Vorhand bringen könnte oder - um in der Sprache der Wirtschaft zu bleiben -: Die Bildung ist das Produkt Nummer 1 des 21. Jahrhunderts. Sie tangiert alle gesellschaftlichen Bereiche und sie ist für die Kinder und Jugendlichen die soziale Frage des nächsten Jahrhunderts.

(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist es notwendig, an dieser Stelle mit höherer Qualität in der Bildung anzusetzen und zugleich die dichte Kulturlandschaft, die wir hier aufweisen, mit in dieses Potenzial einzubringen, weil alle natürlich auch wissen, dass hoch motivierte, hoch qualifizierte Arbeitskräfte nicht losgelöst von ihrem Lebensumfeld sich reproduzieren können bzw. in die Unternehmen einzubinden sind.

Spezifische Wertschöpfungsketten, wie wir sie unter der Mobilisierung des Innovationspotenzials von Frauen verstehen, sind - damit wir uns nicht falsch verstehen - humane Dienstleistungen, sind Kommunikations- und Medienindustrie und sind Tourismus.

Zu den Verwaltungsstrukturen kann ich nur sagen - Herr Ministerpräsident, ich wundere mich über Ihre Ausführungen heute -: All das, was Sie selbst angemahnt haben, ist längst in diesem Landtag vorgearbeitet worden.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

In der Frage der Gleichzeitigkeit sind wir prinzipiell unterschiedlicher Meinung.

Frau Dr. Sitte, Sie haben Ihre Redezeit bereits um mehr als eine Minute überschritten.

Der Ministerpräsident hat auch etwas länger gesprochen. - Dass Sie das nach einem Jahr Regierungszeit sagen, das finde ich schon ziemlich bemerkenswert.

(Zustimmung bei der PDS und von Herrn Rothe, SPD)

Ich komme zum Abschluss. Unsere Vorschläge brechen bewusst aus den bisherigen Denkmustern aus. Das heißt, dass wir inhaltlich andere Prioritäten setzen, nicht strukturell. Diese Entscheidungen der Setzung inhaltlicher Prioritäten muss jede Landesregierung im Osten fällen, unabhängig davon, ob es gelingt, die Pattsituation zwischen Bundestag und Bundesrat, die Sie beschrieben haben, zu knacken oder nicht. Das ist unsere originäre Verantwortung. Deshalb haben wir uns diesen inhaltlichen Diskussionen zu stellen, denn solche Reformen braucht das Land. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Dr. Sitte. - Für die FDP-Fraktion erteile ich jetzt dem Abgeordneten Herrn Lukowitz das Wort. Bitte sehr, Herr Lukowitz.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Deutschland steckt in einer tiefen Reformkrise. Das bestreitet ganz offensichtlich niemand mehr in diesem Lande, selbst der Bundeskanzler nicht. Die vier Akte des Dramas, die wir gegenwärtig erleben müssen, heißen doch - wenn ich sie zusammenfassen darf -: Die Wirtschaft leidet. Das verursacht die desolate Lage am Arbeitsmarkt. Hierzu wurde von offiziell 4,7 Millionen Arbeitslosen gesprochen, inoffiziell sollen es 7,5 Millionen Arbeitslose sein. Dies reißt wiederum gewaltige Löcher in die öffentlichen Kassen auf allen Ebenen und das destabilisiert die soziale Ordnung in Deutschland.

Alle vier Akte dieses Dramas müssen nicht nur umgeschrieben werden, meine Damen und Herren, sondern sie müssen neu geschrieben werden, und das nicht irgendwann, sondern jetzt. Das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der Bundesrepublik heute und hier steht.

Zu einigen Ursachen. Ich will mich dabei auf vier beschränken.

Erstens. Die vierjährige uneingeschränkte Konsenspolitik der Bundesregierung mit den Gewerkschaften war ganz offensichtlich ein großer Fehler.

(Zustimmung bei der FDP und von Herrn Stahl- knecht, CDU)

Die Ergebnisse liegen jetzt klar auf dem Tisch: ein frustrierter Kanzler, ein gestorbenes Bündnis für Arbeit, die Verweigerungshaltung der Gewerkschaften, die in den letzten Tagen eindeutig zu bemerken war, zum Beispiel Umsetzung der Hartz-Vorschläge eins zu eins: nein, Lockerung des Kündigungsschutzes: nein, Reform der Arbeitslosenhilfe: nein.

Die gegenwärtige Investitionszurückhaltung ist nicht nur ein weltwirtschaftliches Problem, meine Damen und Herren, sie ist vor allem auch auf ständige Unwägbarkeiten der Berliner Regierungspolitik zurückzuführen. Die allgemeine Kommissionitis mit akademischem Wettstreit

schafft große Verunsicherung in der Wirtschaft, bei Banken und bei mittelständischen Unternehmern, die verständlicherweise Zurückhaltung bei Investitionen und bei Personaleinstellungen üben.

Es ist geradezu alarmierend - das habe ich bei Gesprächen in den letzten Tagen sehr häufig entgegennehmen müssen -, wenn eine ganze Branche mit großem gesellschaftlichen Ansehen und Traditionen wie die der Ärzte und der Apotheker aufgrund von egomanen Diskussionen und halbgaren Gesetzen des letzten halben Jahres bei Banken als nicht mehr kreditwürdig eingestuft wird. Von der Situation der Krankenhäuser möchte ich gar nicht reden, zumal ich davon ausgehe, dass die Kommunalpolitiker im Raum damit bestens vertraut sind.

Augenscheinlich hat die Berliner Regierungskoalition auch überhaupt keinen Bezug zu den neuen Bundesländern, wie jüngst bei den Angeboten im Bereich der Ganztagsschulen oder Kinderkrippen, die voll an der Realität in Mitteldeutschland vorbeigingen, deutlich wurde. Wir haben ganz andere Versorgungsgrade, als dort von dieser Bundesregierung angeboten worden sind.

(Beifall bei der FDP, bei der CDU und von der Regierungsbank)

Oder nehmen wir die bisherigen Finanzierungsmodelle der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die fast alle höhere Zahlungen in den wirtschaftlich starken Westländern und zusätzliche Defizite in den Ostländern bedeuten würden - der Ministerpräsident hat darauf schon hingewiesen.

Selbst der ehemalige BDI-Chef Henkel - nicht gerade ein Kanzlerfreund und auch nicht gerade ein Ostfreund - war zum persönlichen Gespräch geladen und gab dem Kanzler den Rat, endlich ein Ost-Programm zu starten. Herr Müntefering fasste am vergangenen Sonntag klar zusammen: Es muss ein Neuanfang werden.

Meine Damen und Herren! So sind wir in großer Erwartung eines befreienden „Deus ex Machina“ und starren nun auf den morgigen Freitag, 9 Uhr, in der Hoffnung, das Chaos fände ein Ende und der versprochene Neuanfang käme,

(Frau Budde, SPD: Wir haben doch heute eine Debatte, Herr Lukowitz!)

dabei vielleicht nicht vergessend, dass der Deus Teil der griechischen Theatertragödie war. Doch ich wünsche mir parteiübergreifend sehr, dass der Titel der Kanzlerrede „Mut zum Frieden, Mut zur Veränderung“ morgen seiner Ankündigung auch gerecht werden möge.

(Unruhe bei der SPD - Frau Budde, SPD: Wenn Herr Professor Dr. Böhmer als Bundeskanzler kandidieren will, aber noch reden wir über Sach- sen-Anhalt!)

- Ja. Gerne. - Damit, meine Damen und Herren, genug der Bundespolitik.

(Heiterkeit bei der SPD - Zuruf von der SPD: Hört, hört!)

Historisch gesehen soll die Kanzlerrede ja erst morgen stattfinden und noch nicht heute. Wir haben im eigenen Land genug zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Wir, die Koalition, sind im vorigen Jahr angetreten, um unser Land Sachsen-Anhalt zu verändern und von der

sprichwörtlich gewordenen roten Laterne in die vordere Linie der deutschen Länder zu bringen. Der Wählerauftrag dazu war klar und deutlich.

(Zustimmung bei der FDP, bei der CDU und von der Regierungsbank - Frau Budde, SPD: Super!)

Union und FDP haben dazu eine deutschlandweit beachtete orientierende Koalitionsvereinbarung getroffen und haben sie bisher in allen wichtigen Fragen konsensfähig und belastbar umgesetzt.