Protokoll der Sitzung vom 23.09.2003

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beratungen über die Haushaltspläne führen uns in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen, die wir zu führen haben. Deshalb erlauben Sie mir zu Anfang auch, ganz kurz auf die politischen Rahmenbedingungen einzugehen, in denen wir in Sachsen-Anhalt unsere Politik zu gestalten haben.

Das Wirtschaftswachstum dümpelt in Deutschland vor sich hin. Die Schätzungen lauten bundesweit in der Prognose zwischen -0,2 % und 0 %. Für Sachsen-Anhalt schwanken die Schätzungen zwischen 0,5 % und 0,6 %. Die Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen sind Besorgnis erregend. In Deutschland verzeichnen wir im Jahr 2003 wahrscheinlich - in der Prognose - einen Rückgang um 600 000 auf gut 38 Millionen Stellen. In Sachsen-Anhalt haben wir binnen Jahresfrist eine Abnahme um 24 000 Stellen zu verzeichnen, etwa je zu einem Drittel bedingt durch die demografischen Entwicklungen, durch den Wegfall von ABM und durch Arbeitsplatzabbau.

Insgesamt steigen in Deutschland die Arbeitslosenzahlen. Die ursprünglichen Prognosen des Kanzlers - das war die einzige Zahl, an der er seine Politik messen wollte - geraten immer mehr in Vergessenheit. Wir haben binnen Jahresfrist einen Anstieg um ungefähr 10 000 Arbeitslose zu vermelden.

Heute konnten wir in der Zeitung lesen, dass wir beim Saldo aus Gewerbeanmeldungen und -abmeldungen erstmals seit dem Jahr 1998 einen positiven Trend zu verzeichnen haben. Aber Vorsicht: Da sind die Ich-AGs dabei.

(Ach! bei der SPD und bei der PDS)

- Nun klatschen Sie einmal. Die Ich-AGs sind eine Erfindung von Schröder.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Das ist doch positiv! Das können Sie ihm schreiben und sagen!)

Das heißt, wenn auf diese Art und Weise Statistiken in die Unvergleichbarkeit führen, dann haben wir politisch

noch gar nichts auf dem Arbeitsmarkt gekonnt, weil wir letztlich damit noch nicht in dem Maße neue Existenzen und Arbeit geschaffen haben, wie es notwendig ist.

(Beifall bei der CDU)

Ich sage Ihnen eines: Wenn die Bundesregierung erst einmal eine ominöse Sozialagentur für ganz Deutschland etabliert, die die Arbeitslosen klassifiziert nach vermittlungsfähigen und nicht vermittlungsfähigen, und wenn die so genannten nicht vermittlungsfähigen es plötzlich nicht mehr Wert sind, in der Statistik geführt zu werden, was meinen Sie, was für gewaltige Verbesserungen in der Arbeitslosenstatistik wir dann von einem auf das andere Jahr bekommen werden,

(Unruhe bei der SPD und bei der PDS - Zuruf von Frau Bull, PDS)

ohne dass wir das reelle Problem in Deutschland lösen. Also deshalb, meine Damen und Herren: Sehr, sehr vorsichtig mit solchen Prognosen. Besserung ist bisher noch nicht in Sicht.

Wir müssen hingegen feststellen, dass wir in SachsenAnhalt sehr hohe Sozialhilfeausgaben pro Einwohner haben, und zwar in Sachsen-Anhalt 334 €, in Sachsen nur 253 € und in Thüringen nur 186 €. Das heißt, wir können feststellen, dass wir, ganz grob gesprochen, in den wirtschaftlich stärkeren neuen Bundesländern wesentlich geringere Sozialhilfelasten zu schultern haben. Wenn wir diesen Kreislauf nicht durchbrechen können, dann drohen wir noch eher in eine Spirale des Nichtmehr-leisten-Könnens hineinzugeraten. Deshalb müssen wir versuchen, wirklich ernsthaft umzusteuern.

Die Steuereinnahmen entwickeln sich negativ. Herr Professor Paqué hat die Szenarien, denke ich, sehr deutlich gemacht. Der Vorwurf, dass man mittelfristige Finanzplanung mit mittelfristiger Finanzplanung vergleicht, ist unlauter. Das haben vorhergehende Landesregierungen auch gemacht. Freilich wissen wir, dass mittelfristige Finanzplanungen Informationsmaterialien sind. Sie sind mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Dass sie uns aber Jahr für Jahr wegrutschen, das kann letztlich nicht normal sein, meine Damen und Herren.

Wir müssen berücksichtigen, dass wir in Sachsen-Anhalt einen dramatischen Bevölkerungsschwund haben, der auch in Zukunft anhalten wird. Wir sind klug beraten, wenn wir nicht suggerieren, dass wir in der Lage wären, diesen Trend kurzfristig zu brechen. Wir müssen uns in den Finanzprognosen mittelfristig auf das Szenario einstellen, dass Sachsen-Anhalt, demografisch bedingt, jedes Jahr ungefähr 12 000 Einwohner verliert.

Welche Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen? Deutschland befindet sich in einer tiefen Krise. Ein kleines Land wie Sachsen-Anhalt wird sich davon nicht vollständig abkoppeln können. Wir können uns dem Trend nur entgegenstemmen. Aber wir können ihn allein nicht kippen. Deshalb werden wir als Land Sachsen-Anhalt in der Bundespolitik keine Verweigerungshaltung einnehmen. Wir werden uns an wichtigen Vorhaben, soweit sie verantwortbar sind, beteiligen.

Das gilt für die Reform des Gesundheitswesens, obwohl einzelne Passagen in der CDU zu Recht sehr umstritten sind; aber wir werden uns beteiligen. Wir werden uns auch an der Gemeindefinanzreform beteiligen, wenn vernünftige Ergebnisse vorgelegt werden sollten. Wir werden uns bei einer vernünftigen Gegenfinanzierung auch an einer vorgezogenen Steuerreform beteiligen. Wir wer

den uns an einer ernsthaften Diskussion um die Zukunft der Renten unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung beteiligen. Wir werden uns um die Modernisierung des Arbeitsrechts bemühen. Die Landesregierung hat zumindest als Denkanstoß entsprechende Initiativen in den Bundesrat eingebracht.

Wir sind dafür, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen. Aber wir sind dagegen, dass dieses zu einem Verschiebebahnhof zulasten der Länder und Kommunen wird.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir sind auch dafür, dass die besondere Situation in den neuen Bundesländern auch zukünftig berücksichtigt wird. Die Fraktionsvorsitzenden von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben übrigens gestern im Rahmen ihrer Beratung in Schkopau noch einmal eindringlich bekräftigt, dass wir da im so genanntem MDR-Gebiet gleich marschieren. Ich muss sagen, der Schröder scheint sich um die besonderen Belange des Ostens nicht mehr zu kümmern. Angesichts dessen müssen wir umso lauter sagen, was weiterhin einzufordern ist;

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

denn wir haben, was die Angleichung der Lebensbedingungen unter Schließen der Infrastrukturlücke, die uns so sehr zu schaffen macht, angeht, in Deutschland noch längst kein Gleichmaß erreicht.

Es gilt, Lasten gleichmäßig zu verteilen. Umverteilung, ohne dass neu über das richtige Teilen nachgedacht wird, ist letztlich nicht möglich. Die Industrie muss wieder Steuern zahlen. Der Mittelstand muss mäßig entlastet werden. Aber der Ruf, nur die Besserverdienenden zu belasten, reicht nicht aus. Wir müssen auch Geringverdiener im Rahmen der Zumutbarkeit zur Sicherung des Standortes Deutschland mit heranziehen.

Die Zukunft Deutschlands steht auf dem Spiel. Es geht nicht nur darum, vielleicht die nächsten fünf Jahre über die Runden zu kommen; vielmehr müssen wir die Grundlagen dafür schaffen, dass wir die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen, zumindest vernünftige Überlebenschancen für die nächsten Jahrzehnte sichern. Hierzu, lieber Kollege Dr. Püchel, hätte ich in Ihrer Rede wenigstens eine vernünftige Idee erwartet, die man als Opposition der Landesregierung im Lande Sachsen-Anhalt umzusetzen empfiehlt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich weiß, wie schwer es ist, aus der Oppositionsrolle heraus für die Regierung Alternativvorschläge zu erarbeiten. Das ist auch nicht die Hauptaufgabe der Opposition. Die Hauptaufgabe der Opposition ist, zu kontrollieren und aufzupassen. Aber wegen der intellektuellen Redlichkeit kann man schon ein paar zündende Ideen erwarten. Das scheint der SPD außergewöhnlich schwer zu fallen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir waren gut beraten, nach der Landtagswahl 2002 sofort eine Analyse der Ausgangsbedingungen durchzuführen und eine saubere Grundlegung zu vollziehen; denn es ist offensichtlich, dass Sie sehr schnell versuchen, das schuldhafte Handeln in der Vergangenheit zu vertuschen. Nach einem halben Jahr, spätestens nach anderthalb Jahren Tätigkeit der neuen Landesregierung sind alle Beschwernisse, mit denen wir im Land Sachsen-Anhalt zu kämpfen haben, nur noch

Schuld der neuen Landesregierung. Die alte Landesregierung versucht mehr und mehr, sich hiervon freizusprechen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Deshalb zur Erinnerung im Schnelldurchlauf Folgendes - es muss immer wieder gesagt werden -: Ihr verfehlter Arbeitsplatzsicherungstarifvertrag kostet uns 260 Millionen €. Wenn Sie uns die kluge Entscheidung ans Herz legen, wir hätten im Zuge der Tarifvertragsverhandlungen aushandeln können, dass die 260 Millionen € in zwei oder drei Jahren zu zahlen wären, so sage ich Ihnen: Zahlen müssten wir sie trotzdem.

(Beifall bei der CDU)

Da machen wir lieber jetzt den Schnitt. Dann wissen alle Leute, woran wir sind, und wir haben einen neuen Anfang.

Man muss auch immer wieder sagen, dass wir Ihr altes Problem mit den beim Talsperrenbetrieb geparkten 100 Millionen € immer noch nicht gelöst haben. Die Landesregierung muss sich in diesem oder im nächsten Jahr dazu etwas einfallen lassen; anderenfalls müssen wir uns 2005 darüber unterhalten, wo wir dieses Geld lassen. Das heißt, wir haben Ihre Altlasten immer noch nicht alle abgearbeitet.

(Beifall bei der CDU - Herr Dr. Püchel, SPD: Das ist eine Altlast der Kommunen gewesen, das wis- sen Sie ganz genau!)

- Das ist ein bisschen einfach gesprochen. Da ist zum Teil auch - ich sage einmal - schlecht verhandelt worden. Das ist schlecht gemanagt. Das sind die MidewaAltschulden. Da kann man natürlich auch die Frage stellen, warum das bei der Mawag völlig anders gelaufen ist als bei der Midewa. Da ist offensichtlich nicht klug und clever verhandelt worden. Jetzt müssen wir das Problem lösen. Die Landesregierung wird sich dieser Aufgabe auch nicht entziehen. Aber man muss sagen: Das ist ein Teil Ihrer alten, vermurksten Politik, die wir übernehmen mussten. Jetzt müssen wir versuchen, dies alles, sofern es geht, vernünftig zu richten.

Oder nehmen wir etwas, was man gar nicht so einfach in Zahlen fassen kann: Ein Bürokratieabbau fällt uns schwer. Aber wir stellen uns dieser Aufgabe. Mit Ihrem vermurksten Tariftreuegesetz haben Sie Bürokratie aufgebaut, die wir wieder abschaffen mussten. Das haben wir zum Glück hinbekommen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Gucken Sie sich Ihre verfehlte Schulpolitik an. Sie haben sie zum Glück zum Schluss selbst nicht mehr verteidigen wollen. Aber ein Umsteuern ist auch nicht von einem aufs andere Jahr möglich. Wir haben, denke ich, eine vernünftige neue Richtung eingeschlagen, die aber die entsprechenden Maßnahmen müssen erst Jahr für Jahr umgesetzt werden. Die Fehler, die Sie gemacht haben, können sich erst in den folgenden Jahren auswachsen. Man kann nicht einfach das Ruder herumlegen.

Angesichts dessen ist es richtig, dass wir mit einem Kurswechsel ernst gemacht haben. Alle freiwilligen Leistungen haben wir konsequent auf den Prüfstand gestellt. Der Finanzminister hat deutlich gemacht, dass man an die meisten freiwilligen Leistungen gar nicht mehr herankommt und dass wir gezwungen sind, Gesetze zu verändern, damit wir überhaupt noch Freiräume schaf

fen. Das heißt, eine so genannte freie Spitze ist so gut wie gar nicht mehr vorhanden. Das macht die Lage so fatal.

Es ist gut und richtig, dass wir die Diskussion darüber, welchen Weg unser Land gehen soll - ich sage einmal - „angezettelt“ haben. Wir brauchen diesen Diskurs. Wir sind auch bemüht, möglichst viele Leute in SachsenAnhalt in diesen Diskurs mit hineinzunehmen. Wir bilden uns ein, gute Argumente zu haben. Wir wollen einmal sehen, wie die Bevölkerung des Landes Sachsen-Anhalt in ein paar Monaten reagiert, ob unsere Vorschläge angenommen werden oder ob sie verworfen werden.

Dahinein gehört die Diskussion um das Kinderbetreuungsgesetz. Wollen wir das Kinderbetreuungsgesetz, das drei Fraktionen im Landtag Sachsen-Anhalt gemeinsam beschlossen haben, oder wollen wir eine teurere Kinderbetreuung, die notwendigerweise zu Abstrichen in anderen Bereichen der Landespolitik führen würde?

An dieser Stelle unterscheiden wir uns auch deutlich von der PDS. Die PDS versucht, sich für meine Begriffe relativ einfach freizusprechen, indem sie erklärt, nicht bereit zu sein, über die Ausgabenseite zu sprechen, solange die Landesregierung sich weigert, das Geld dort abzuholen, wo es nach ihrer Auffassung abzuholen ist, nämlich bei den Besserverdienenden, bei der Industrie und den Handwerkern.

(Frau Dr. Sitte, PDS: Wo steht das?)

- Das hat Herr Gallert mehrfach gesagt. Er behauptet immer, wir hätten in Sachsen-Anhalt kein Problem auf der Ausgabenseite, sondern ein Problem auf der Einnahmenseite. Wenn sich die Landesregierung nicht genügendem Maße um die Einnahmenseite kümmert, dann ist die PDS nicht bereit, ernsthaft über das Ausgabenproblem zu sprechen.

(Frau Dr. Sitte, PDS: Das ist nicht wahr! Das ist falsch, das wissen Sie!)

- Frau Dr. Sitte, dann können Sie es in Ihrer Rede ja korrigieren. Die Pressemitteilungen Ihrer Fraktion, die ich eigentlich alle lese, verstehe ich so, wie ich es dargelegt habe. Wir werden sehen, welche Detailvorschläge Sie im Rahmen der Haushaltsberatungen in den Ausschüssen vorlegen.

Meine Damen und Herren! Wir müssen mit flankierenden gesetzlichen Maßnahmen arbeiten. Deshalb ist im Rahmen dieser Sitzungsperiode auch das Besoldungsnichtanpassungsgesetz für 2003 und 2004 eingebracht worden. Deshalb ist auch das Beamtenrechtliche Sonderzahlungsgesetz eingebracht worden. Ich sage ganz deutlich: Auch wir als Abgeordnete haben die Pflicht zum Sparen und zum Wirtschaften mit Augenmaß. Wir werden in die Pflicht zur Sparsamkeit auch uns selbst als Parlamentarier einbeziehen.