Protokoll der Sitzung vom 11.12.2003

Meine Damen und Herren! Die Union der Bürger, das ist unser Ziel. Hierzu müssen Organisation und Entscheidungsablauf für die Bürger transparenter und somit verständlicher und bürgernäher gestaltet werden.

Der Europäische Konvent hat in seinem Entwurf Vorschläge für die weitere Entwicklung hin zu einer politischen Union gemacht. Die Einbeziehung der Grundrechtecharta, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen und klare Kompetenzabgrenzungen seien hierzu nur beispielhaft genannt.

In den nächsten zwei Tagen geht die Regierungskonferenz in eine entscheidende Phase.

Meine Damen und Herren! Den vom Konvent vorgelegten Entwurf eines Verfassungsvertrags kann man durchaus als ein Paket mit Kompromissen oder als ein Paket der Kompromisse bezeichnen. Die Versuchung ist groß, das Gesamtpaket Verfassungsvertrag nochmals aufzuschnüren und an der einen oder anderen Stelle etwas zu ändern. Aber dabei ist immer zu hinterfragen, zu wessen Gunsten die Veränderungen erfolgen sollen.

Lassen Sie mich hier feststellen: Wir Liberalen begrüßen ausdrücklich das Ergebnis des Konvents. Der vorgelegte Vertragsentwurf stellt die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Europäischen Union.

Aber auch aus meiner Sicht sind noch Nachbesserungen nötig. Ich hätte mir ein klareres Bekenntnis zu Freiheit, Wettbewerb und Vielfalt gewünscht. Während jedoch einzelne Vertreter der Mitgliedstaaten das Paket nur aufschnüren wollen, um mehr Nationalstaat zu erreichen, wollen wir Nachbesserungen für mehr Europa. Das, meine Damen und Herren, ist ein gravierender Unterschied.

Das entschlossene Durchgreifen gegen organisiertes Verbrechen oder eine starke gemeinsame Außenpolitik, um nur zwei Beispiele zu nennen, dürfen nicht an den Bedenken eines Mitgliedstaates scheitern. Auch in diesen Bereichen brauchen wir endlich Mehrheitsentscheidungen. Wenn es gelingen kann, mehr Europa in dem Vertrag festzuschreiben, sollten wir das unterstützen. Rückschritte um der nationalen Interessen willen im Bereich der Institutionen, zum Beispiel bei der Frage der Anzahl der stimmberechtigten Kommissare oder der Abstimmung mit doppelter Mehrheit, darf es nicht geben.

Lassen Sie mich diesen Punkt verdeutlichen. Wenn es in den nächsten Tagen um eine Entscheidung geht, darf diese nicht ein Minimalkonsens werden. Europa braucht keinen Minimalkonsens à la Nizza oder Amsterdam. Europa braucht Reformen, wie sie der Konventsentwurf vorsieht.

Daher möchte ich meinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass es tatsächlich zu einer Einigung im Rahmen der Regierungskonferenz kommt. Auch wenn die Chancen dafür zurzeit nicht besonders rosig sind, appelliere ich auch von dieser Stelle noch einmal an alle Beteiligten, diese Einigung, die für Europa so wichtig ist, herbeizuführen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Verfassungsvertrag soll die Europäische Union eine neue Grundlage erhalten. Die Entwicklungen in den vergangenen 50 Jahren von der Sechser-Wirtschaftsgemeinschaft

über den gemeinsamen Binnenmarkt und die gemeinsame Währung Euro bis hin zur politischen Union sollen mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa zusammengefasst und fortgeführt werden. Eine so grundlegende Weiterentwicklung bedarf der Zustimmung aller beteiligten Europäer.

(Zustimmung bei der FDP)

Doch während in vielen Mitglieds- und Beitrittsstaaten ein Referendum obligatorisch ist, erfolgt in Deutschland die Ratifikation auf der Grundlage einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Die Bürgerinnen und Bürger in den Niederlanden, in der Tschechischen Republik, in Irland, in Frankreich, in Spanien, in Portugal, in Luxemburg und in Dänemark werden über den Verfassungsvertrag abstimmen. Weitere Länder überlegen sich diese Option noch.

Die FDP-Fraktion will die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Sie sollen an der Weiterentwicklung Europas teilnehmen können. So wollen wir ein Stück mehr Identifikation mit Europa schaffen.

Mein sehr geehrten Damen und Herren! „Die Verfassung, die wir haben, basiert auf Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ Diesen Ausspruch des griechischen Philosophen Thukydides haben die Mitglieder des Konvents nach meiner Ansicht zu Recht in der Präambel erwähnt und somit an den Anfang des gesamten Verfassungsvertrages gestellt. Weiter heißt es in Artikel 1 Abs. 1 des Entwurfs:

„Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union...“

Diese Sätze, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU und der SPD, sollten aber nicht erst nach dem In-Kraft-Treten der Verfassung Gültigkeit erlangen; sie sollten vielmehr schon heute gelten. Dann ist es aber nur folgerichtig, dass die Mehrheit, also die Bürger, über die neue Verfassung Europas mitentscheiden und auf diese Weise ihren Willen zur gemeinsamen Zukunft Europas dokumentieren kann.

Meine sehr verehrten Kollegen der CDU und der SPD, man kann zu Plebisziten eine andere Meinung vertreten.

(Zuruf von Herrn Bullerjahn, SPD)

Im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag ist das jedoch widersprüchlich. Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern nämlich erklären, warum Sie, die CDU und die SPD, für den Verfassungsvertrag sind - etwas anderes habe ich bis jetzt noch nicht gehört -, der in Teil I Artikel 46 explizit eine Bürgerbeteiligung verankern will, warum Sie aber zur Verabschiedung der Verfassung eine Beteiligung der Bürger ablehnen.

(Zustimmung bei der FDP - Beifall bei der PDS - Zuruf von Minister Herrn Dr. Daehre)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir scheint es, Sie nehmen es mit dem Begriff der Volkspartei nicht mehr ganz so ernst.

(Unruhe - Lachen bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Tögel, ich teile auch nicht Ihre Auffassung, dass es zu riskant sei, die EU-Verfassung als Versuchskaninchen für plebiszitäre Elemente zu nutzen, wie Sie das in

Ihrem „Volksstimme“-Artikel, den Sie heute vorgetragen haben, formuliert haben.

(Zuruf: Oh!)

Mit der Ausrede in Bezug auf die Gefahr des Scheiterns eines Referendums können Sie sich immer wieder Plebisziten verschließen, obwohl Sie diese eigentlich befürworten, wie Sie gerade ausgeführt haben. Würde man Ihrer Argumentation, Herr Kollege Tögel, folgen, dürfte man den Volksentscheid lediglich bei unwichtigen Entscheidungen versuchsweise einführen. Aber genau das wollen wir nicht. Gerade bei dieser wichtigen Entscheidung ist die direkte Beteiligung angebracht.

(Zustimmung bei der FDP - Beifall bei der PDS - Zuruf: Jawohl!)

Auch Ihre Argumentation, der Verfassungsvertrag

(Zuruf von Minister Herrn Dr. Daehre)

könne nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden und es gebe Risiken bei einem Volksentscheid in Deutschland, ist für mich nicht stichhaltig. Die Frage, warum Niederländer, Tschechen, Iren, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Luxemburger und Dänen eine Abstimmung über die Verfassung sehr wohl durchführen können, lasse ich mal außer Acht. Die Antwort auf diese haben auch Sie offen gelassen. Vielleicht haben Sie keine Antwort darauf.

Die Verweise auf die Risiken, auf fehlende Erfahrungen bei der Mobilisierung oder auf Auswirkungen einer Kampagne von Europagegnern sind für mich nur Ausreden. Selbstverständlich wäre man als überzeugter Europäer gefordert. Übrigens, Herr Kollege Tögel, finde ich es gut, dass Sie im „Volksstimme“-Interview noch einmal explizit gesagt haben, dass Sie auch einer sind; denn beim ersten Lesen ist mir das nicht aufgefallen.

(Zustimmung von Frau Röder, FDP - Minister Herr Dr. Daehre lacht - Unruhe)

Meine Damen und Herren! Selbstverständlich müssen wir als überzeugte Europäer die Bürgerinnen und Bürger überzeugen. Selbstverständlich müssen wir für die Verfassung beim Bürger werben. Wir wollen das; Sie trauen sich das nicht zu.

(Zuruf von der PDS: Wer schlechte Argumente hat! - Unruhe bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich in den letzten Tagen und Wochen meinen Blick nach Berlin oder nach Bayern gerichtet habe, dann ist zu erkennen, dass eventuell doch noch vage Hoffnung besteht, dass sich auch Vertreter anderer Parteien - lassen Sie es mich so formulieren - bekehren lassen.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Am 6. November 2003 hat der Bundestag den Gesetzentwurf erwartungsgemäß abgelehnt. Bemerkenswert ist, dass sich immerhin fünf Abgeordnete der CDU/CSUFraktion der Stimme enthalten haben und vier sogar zugestimmt haben. Die Grünen - sie spielen in SachsenAnhalt derzeit keine Rolle - sind mittlerweile ebenfalls von der ablehnenden Haltung abgekommen und wollen nun einen Volksentscheid.

Ich darf für die Länderseite den Europaminister Bayerns Herrn Sinner zitieren. Er sagte in einer Pressemitteilung Ende November 2003: Wenn wir wollen, dass sich die Bürger stärker mit Europa identifizieren, sollten wir sie stärker an Entscheidungen beteiligen.

Meine Damen und Herren! Man soll nie aufgeben. Deshalb wird die FDP-Bundestagsfraktion nochmals einen Gesetzentwurf einbringen, um einen Volksentscheid zur europäischen Verfassung im Grundgesetz zu verankern und somit allen Spätentschlossenen nochmals die Chance geben, die Beteiligung zu ermöglichen, die die Bürgerinnen und Bürger aus so vielen Mitgliedstaaten bereits haben.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU- und der SPD-Fraktion! Wir können heute von Sachsen-Anhalt aus ein Zeichen für mehr Bürgerbeteiligung setzen. Sagen auch Sie Ja zum Bürger, Ja zu einem Volksentscheid.

Ich bitte um Ablehnung der Beschlussempfehlung.

(Zustimmung bei der FDP - Beifall bei der PDS)

Herr Abgeordneter Kosmehl, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeordneten Frau Wybrands zu beantworten?

Natürlich.

(Zuruf von der CDU: Eva! - Unruhe)

Herr Kosmehl, der europäische Verfassungsvertrag ist unter anderem unter der Mitwirkung der neuen Mitgliedstaaten zustande gekommen. Der Vertrag von Nizza ist nicht auf diese Weise zustande gekommen. Er ist in seiner Entstehung und auch in seinen Aussagen wesentlich weniger demokratisch gewesen.

Würden Sie mir darin zustimmen, dass dann, wenn durch ein Referendum dieser europäische Verfassungsvertrag nicht ratifiziert wird, der Vertrag von Nizza und damit wesentlich schlechtere Bedingungen für die neuen Mitgliedstaaten gelten?

(Unruhe bei der PDS)

Sehr geehrte Frau Kollegin Wybrands,

(Herr Gürth, CDU: Sie haben Recht!)