Protokoll der Sitzung vom 06.05.2004

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 39. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode und begrüße Sie recht herzlich.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

(Unruhe)

- Ich würde Sie bitten, jetzt Ihre Privatgespräche einzustellen.

Zunächst zu Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung. Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer entschuldigt sich für die heutige Sitzung ganztägig wegen der Teilnahme an einer Sonderministerpräsidentenkonferenz in Berlin. Herr Staatsminister Robra entschuldigt sich aus dem gleichen Grund für die heutige Sitzung des Landtages.

Frau Ministerin Wernicke entschuldigt sich für die Landtagssitzung an beiden Tagen aufgrund ihrer Teilnahme an der Umweltministerkonferenz in Bad Wildungen.

Herr Minister Dr. Daehre entschuldigt sich für die Landtagssitzung am heutigen Tag wegen einer Dienstreise nach Syrien. Herr Minister Professor Dr. Olbertz entschuldigt sich am Freitag ab 15 Uhr. Er eröffnet mit einem Grußwort den Fachbereich Geowissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Herr Minister Kley entschuldigt sich für Freitag ganztägig. Er ist der Schirmherr der Messe „Vital“ in Halle und verleiht in dieser Eigenschaft die Ehrennadel des Ministerpräsidenten.

(Unruhe bei der SPD - Herr Dr. Püchel, SPD: Toll! Ein bisschen blass sieht er ja aus!)

Meine Damen und Herren! Wir kommen zur Tagesordnung. Die Tagesordnung für die 21. Sitzungsperiode des Landtages liegt Ihnen vor. Im Ältestenrat wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 13, 14 und 20 heute nach der Aktuellen Debatte zu behandeln. Die Tagesordnungspunkte 2 und 3 werden als erste Tagesordnungspunkte am morgigen Freitag behandelt.

Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann können wir entsprechend dieser Tagesordnung verfahren.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Debatte

Sehr geehrte Damen und Herren! Für die Aktuelle Debatte liegen zwei Beratungsgegenstände vor. Die Redezeit in der Aktuellen Debatte beträgt zehn Minuten je Fraktion und Thema. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.

Ich rufe das erste Thema der Aktuellen Debatte auf:

Ausbildungs- und Berufsperspektiven für junge Menschen in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/1572

Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS-, FDP-, SPD- und CDU-Fraktion. Zunächst erteile ich dem Antragssteller, der PDS-Fraktion, das Wort. Bitte sehr, Frau Ferchland.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Wochen ist wieder vom Osten im bundesdeutschen Blätterwald zu lesen. Dort steht: „Der Osten blutet den Westen aus“, „Ostdeutschland ist ein Fass ohne Boden“ oder: „Wie aus dem Aufbau Ost der Absturz West wurde“.

Diskutiert wird öffentlich, dass der Aufbau Ost gescheitert sei. Was für eine Botschaft! Was für eine Botschaft an die hier Lebenden! Heißt das, dass Lebensentwürfe und Lebenswerke erneut fehlgeschlagen sind? - Was für eine Botschaft an junge Menschen! Heißt das, dass wir immer noch auf der falschen Seite leben? - Und was für eine Botschaft an mögliche Investoren!

Einig sind sich alle Diskutierenden sehr schnell darüber, dass der Geldhahn abgedreht werden muss, damit der Osten den Westen nicht völlig runterzieht. Die Ideen sprudeln nur so, und so hören wir, dass die Transferleistungen sofort eingestellt werden müssen, dass längere Arbeitszeiten alles richten würden und dass das Niedriglohnland Osten nun ernsthaft in Erwägung gezogen wird, zunächst einmal subventioniert mit staatlichen Zuschüssen.

Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt wird sogar im Bundesrat initiativ und will die Ausbildungsvergütung im Osten generell auf 150 € senken.

Andere reden sogar von einem verpflichtenden Joggen für Arbeitslose. Und dass dies vorrangig Menschen in den neuen Bundesländern betrifft, verschweigt der Erfinder.

Meine Damen und Herren! Ich finde diese Vorschläge schon gar nicht mehr zynisch, ich finde sie menschenverachtend.

(Beifall bei der PDS)

Mit dauerhaften Niedriglöhnen werden Menschen zu ständigen Bittstellern. Dabei geht es den meisten doch nur um ein existenzsicherndes Einkommen, um mehr nicht. Von der Ostzone zur Billigzone, wo Abschlüsse keinen Wert haben, wo Menschen in Beschäftigungsmaßnahmen abgeschoben und Jugendliche in Warteschleifen geparkt werden, wo Kinder nur Geld kosten und wo Bildung beschnitten wird. Wer wird hier ernsthaft bleiben wollen?

Der Ministerpräsident dieses Landes hat auf der Bevölkerungskonferenz in Stendal verkündet, dass der Bevölkerungsschwund in Sachsen-Anhalt aus seiner Sicht trotz aller Probleme positive Seiten hat. Denn dann, so seine Rechnung, dürfte es für alle Jugendlichen ab dem Jahr 2007 genügend Arbeitsplätze geben und außerdem sei 2010 die Nachfrage nach Fachkräften größer.

Dabei hat doch gerade der Ministerpräsident eine Zukunftsdebatte gefordert. Über wessen Zukunft sollen wir denn debattieren? Über die Zukunft derjenigen, die 2010 immer noch hier sind?

Die Botschaft, die der Ministerpräsident an die heutigen Schulabgängerinnen und Schulabgänger aussendet,

war: Heute brauchen wir euch nicht, kommt 2010 wieder. Über die Zukunft dieses Landes - ich meine hier nicht nur die Zukunft Sachsen-Anhalts, sondern die aller neuen Bundesländer - müssen wir ernsthaft streiten und Probleme lösen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allem wir müssen es in den nächsten Jahren lösen; denn wenn wir warten, bis die EU-Erweiterung fortgeschritten ist, dann entsteht mitten durch Europa entlang der neuen Bundesländer ein Graben, der darin besteht, dass die Leute, die Chancen haben, in den Westen gehen, wo sie gut verdienen, und dass die Investoren, die investieren wollen, in den Osten gehen, wo sie die Arbeit billiger erledigt bekommen als bei uns. Es wird dann mitten durch Deutschland ein Wirtschaftsgraben gehen; das werden die neuen Bundesländer sein. Das heißt, wir haben keine Zeit.

Dieser Absatz ist nicht von mir, sondern von Professor Böhmer. Er führte dies am 6. April 2001 hier in diesem Haus im Rahmen einer Aktuellen Debatte zum selben Thema aus. Auch damals war die PDS die Antragstellerin. Er sagte weiter:

„Nur dann, wenn es uns gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, Aufträge auszulösen, dass Arbeit angeboten wird, und wenn dann auch in die Tarifentwicklung Bewegung kommt mit der Folge, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird, dann werden wir die Probleme lösen. Alles andere ist verbaler Trost, nichts anderes. Und dann, wenn wir Vertrauen in die Zukunft vermitteln, dann werden wir die Probleme lösen. Wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir versagt.“

Fest steht: Von 15 Millionen Einwohnern im Osten sind ca. 40 % in irgendeiner Beschäftigung. Vielerorts ist die Beschäftigungsgesellschaft oder die Bundesagentur für Arbeit der größte Arbeitgeber. Die Quote der Arbeitslosigkeit verändert sich kaum. Junge Leute, gerade junge Frauen wandern ab. Es droht eine Überalterung der Gesellschaft und ein gefährlicher Verlust von ausgebildeten und kreativen Köpfen. So verschärft die Krise die Krise.

Seit 1995 verringert sich der wirtschaftliche Rückstand zu den alten Bundesländern nicht mehr, im Gegenteil, die Kluft hat sich wieder vergrößert. Im Osten fehlen mehr als 3 000 mittelständische Unternehmen.

(Zuruf von Herrn Kühn, SPD)

Das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen liegt nur bei 55 % des westdeutschen Durchschnitts, die Steuerkraft bei weniger als 40 %. Obwohl rund zwei Millionen Menschen aus unterschiedlichen Gründen den ostdeutschen Arbeitsmarkt seit 1989 verlassen haben und Zehntausende Abwanderer und Pendler ihn jährlich zunehmend entlasten, liegt die Arbeitslosigkeit seit Jahren bei fast 20 %, in Sachsen-Anhalt regional noch darüber.

Nach Untersuchungen der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institute fehlen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze. Das Leistungsbilanzdefizit der neuen Bundesländer liegt bei 100 Millionen € jährlich.

Meine Damen und Herren! Niemals zuvor in der Geschichte einer Industrienation hat es ein Gebiet gegeben, das in einer derartigen Abhängigkeit von einem anderen Landesteil ausharren musste wie wir. Selbst in Transferregionen wie in Italien, Portugal oder Israel, die

jahrelang Leistungen zum Beispiel von der EU, aus Nord- oder Mittelitalien erhalten haben, liegt das Leistungsbilanzdefizit bei 12 oder 13 %, so das Münchener Ifo-Institut. Der Osten liegt bei 45 %.

Gerade deshalb dürfen wir den Osten nicht aufgeben. Aber ich habe den Verdacht, dass Bundes- wie Landesminister den Osten schon aufgegeben haben.

(Beifall bei der PDS)

Es geht hierbei schon lange nicht mehr nur um den Osten; denn wenn wir ihn aufgeben, betrifft das ganz Deutschland und das ganze Projekt Europa. Durchhalteparolen bringen uns nicht weiter und ein „Weiter so“ darf es nicht geben.

Die Bundesregierungen haben seit 1990 den Osten letztlich zum Experimentierfeld gemacht. Gigantische Ressourcen wurden so ohne wirtschaftliche Effizienz verbraucht. Wer den Osten retten und einen größeren Beitrag der neuen Bundesländer zu der Wirtschaftskraft der Gesellschaft erreichen will, der muss die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik und in der Europäischen Union auch teilweise infrage stellen.

Über die Grenzen der Politik wird mehr geredet als über deren Möglichkeiten. Der Osten braucht ein Sonderprogramm für den Neubau großer Forschungseinrichtungen mit dem Ziel der Cluster-Bildung zwischen Forschung und innovativen Unternehmen, um mittelfristig die Attraktivität der Hochschulen für Studentennachwuchs und Lehrkräfte zu erhalten und zu verbessern.

Es muss ein Sonderprogramm in den Köpfen und für die Köpfe geben und es muss in Schwerpunkte investiert werden. Es gibt gute Gründe, dies in Sachsen-Anhalt und im Osten zu ändern.

Die OECD hat in den Ländern rund 400 Förderprogramme ermittelt. Einen Überblick zu behalten ist für Unternehmen nahezu unmöglich. Erforderlich ist aus unserer Sicht eine Bund-, Länder- und Kommunenkoordinierung und eine Konzentration der standortbezogenen Aktivitäten. In allen Bereichen ist darauf hinzuwirken, dass bei den Förderprogrammen Übersicht und Transparenz herrschen und sie schnell verstanden werden können.

Notwendig sind spezifische Förderprogramme, die dem effizienten Potenzial der Standorte gerecht werden. Die Gründungsdynamik muss verstetigt werden und das Ende der Förderung darf nicht das Ende der Gründung bedeuten.

Existenzgründer sollten weitgehend von bürokratischen Auflagen befreit werden. Es braucht neue Instrumente zur Ansiedlung und Gründungsberatung, die alten haben versagt.

Die Abwanderung junger, ausgebildeter Fachkräfte ist zu stoppen und die demografische Arbeitslücke zu schließen. Hier gilt es, Programme zu entwickeln und aufzulegen, um junge Fachkräfte in einem regional- und branchenspezifischen Pool zu beschäftigen. Die Unternehmen schließen sich zu Beschäftigungsverbündeten zusammen und erhalten so den Fachkräftenachwuchs, den sie benötigen. Die jungen Fachkräfte erhalten so die Gewähr einer Beschäftigung.

Es geht uns um eine Modellregion Ost und nicht um ein Experimentierfeld für neuen Sozialabbau.

(Zustimmung bei der PDS)