Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 6. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, sehr verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.
Wir setzen nunmehr die 4. Sitzungsperiode fort und beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit den Tagesordnungspunkten 2 bis 7. Nach der Mittagspause folgen die Tagesordnungspunkte 28 und 31 sowie der von gestern übernommene Tagesordnungspunkt 18. Danach fahren wir planmäßig in der Tagesordnung fort.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, über den zu beratenden Antrag im Anschluss an die Aktuelle Debatte abzustimmen. Die Einbringung und die Beratung über den Antrag erfolgen aber im Rahmen der Beiträge der Redner der jeweiligen Fraktionen in der Aktuellen Debatte.
Die Redezeit in der Aktuellen Debatte beträgt zehn Minuten je Fraktion. Die Landesregierung erhält ebenfalls zehn Minuten Redezeit. Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS-, FDP-, SPD- und CDU-Fraktion. Zunächst erteile ich für den Antragsteller, die PDS-Fraktion, Herrn Abgeordneten Dr. Köck das Wort. Bitte, Herr Dr. Köck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine nüchterne Bilanz der bisherigen Bahnreform kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass sie ihre Ziele komplett verfehlt hat. Insbesondere hat die Bahn nicht nur weitere Verkehrsanteile verloren, sondern es konnte auch kein relevanter Anstieg der Schienenverkehrsleistungen erreicht werden.
Mit der Ausrichtung auf die Erreichung der Börsenfähigkeit hat die Bahn den Paradigmenwechsel von der Daseinsvorsorge und der Gewährleistung eines Grundangebots an Mobilität zur Sicherung gleichwertiger Lebensbedingungen hin zum Shareholder-Value-Denken der Börsianer vollzogen. Es ist nun nicht mehr auszuschließen, dass die Ära der glorreichen Deutschen Bahn einmal durch die feindliche Übernahme durch einen Automobil- oder Luftfahrtkonzern abrupt enden könnte oder aber sie mutiert zu einem Medienkonzern à la
Vivendi. Der Auftrag des Artikels 87 e Abs. 3 des Grundgesetzes, nach dem der Bund die Schieneninfrastruktur im Bundesgebiet zu gewährleisten hat, droht endgültig zur Makulatur zu werden.
Das Ziel der Börsenfähigkeit ist unter anderem verbunden mit einer Konzentration auf wenige rentable Hauptstrecken, einer Zerlegung des einstmals einheitlichen Netzes in Filetstücke, die dann an der Börse verhökert werden, und so genannte Abfallstrecken, einer massiven Ausdünnung der Zugangsstellen sprich der Bahnhöfe, einer Konzentration auf die Klientel der Geschäftsreisenden, einem flächenhaften Abbau von Kundennähe, Service und Benutzerfreundlichkeit, der seinen bisherigen Höhepunkt im neuen Bahnpreissystem findet, einer bereits massiv erfolgten Reduktion und geplanten vollständigen Einstellung des Interregioverkehrs, einem drastischen Personalabbau, der den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme belastet, den Arbeitsstress der Bahner erhöht und die Gefahr des Abbaus von Sicherheitsstandards in sich birgt, und einem Versuch, die eingefahrenen Verluste dem Bund zu übertragen oder durch Streckenstillegungen zu verringern.
Anstatt die Verkehrswege als zusammenhängende netzartige Gebilde zu begreifen, bei denen die Verästelungen und Zweige für den gesamten Organismus lebensnotwendig sind, wird der bereits in den 60er- und 70erJahren erfolgte Netzabbau in Westdeutschland nun in den neuen Bundesländern wiederholt. Während auf der einen Seite lautstark die Verkehrsinfrastrukturlücken beklagt werden, hat seit 1990 eine gewaltige Vernichtung von schienengebundener Verkehrsinfrastruktur im Osten stattgefunden. In den nächsten Jahren plant die Bahn die Stilllegung von weiteren 3 500 km Schienenstrang, davon allein 3 000 km in den neuen Bundesländern.
Als Hauptwerkzeug zur Forcierung dieses Prozesses wurde das neue Trassenpreissystem eingeführt. Durch nicht zu rechtfertigende Regionalnetzzuschläge sollen die Länder zu massiven Streckenabbestellungen veranlasst werden. Mit diesen kostentreibenden Zuschlägen für das Nebenbahnnetz kann wunderbar objektiv vorgerechnet werden, dass sich eine Strecke nun nicht mehr rechnet. Beharren die Länder trotzdem auf einer Bestellung, so geht das selbstverständlich zulasten ihrer Regionalisierungsmittel.
In der Region Südost, zu der wir gehören, soll offensichtlich besonders massiv stillgelegt werden; denn die Netzfaktoren liegen für das Altmarknetz, das Burgenbahnnetz und das Mittel-Elbe-Netz zwischen 1,72 und 1,78. Das heißt also, für 1 km Bahnbetrieb muss fast doppelt so viel bezahlt werden wie für die gleiche Leistung auf einer Hauptstrecke. Begründet wird dies unter anderem mit dem gewaltigen Investitionsbedarf bei den desolaten Nebenstrecken.
Doch wo flossen die Millionen hin, die Sachsen-Anhalt seit Jahren für die Bedienung des Nebenstreckennetzes gezahlt hat? - Zu wesentlichen Teilen in die Hauptstrecken. Es erfolgte also eine klassische Quersubventionierung des Fernverkehrs durch den Nahverkehr.
Interessant ist, dass Herr Mehdorn bei der in SachsenAnhalt drohenden Streckenausschreibung ganz plötzlich moniert, dass es nur bei Komplettvergabe des Netzes möglich sei, mit einer Mischkalkulation die Gewinne der „Sahnestücke“ mit den Defiziten der unattraktiven Reststrecken zu verrechnen. - Wir sollten Herrn Mehdorn an seinen wütenden Kommentar vorgestern in der Sendung des MDR erinnern.
Eine zeitweilige Abbestellung ist nach den Erfahrungen dieser Bundesrepublik zugleich meist das Ende der betreffenden Strecke. Angesichts des Bahnkonzeptes MoraC, mit dem die Zahl der Güterverkehrspunkte selbst auf den Hauptstrecken drastisch reduziert wird, glauben Sie doch selbst nicht an Ihr Argument, Herr Dr. Daehre, dass eine Nebenstrecke durch Güterverkehr zu erhalten wäre. Sehen Sie sich doch die aktuellen Streichungskandidaten an!
Untersuchungen Mitte der 80er-Jahre haben weiterhin gezeigt, dass nach einem halben Jahr Schienenersatzverkehr 50 % der Nachfrage verloren gegangen war.
Was der Bahn recht ist, ist dem Bus schon lange billig. Er rechnet sich nicht für eine Hand voll Fahrgäste. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Länge des Liniennetzes des Busverkehrs in Sachsen-Anhalt seit Jahren abnimmt.
Die Kommunen können sich also freuen, denn - das ist im Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP nachzulesen -:
„Die kommunalen Aufgabenträger müssen sich ihrer Verantwortung für den ÖPNV stärker bewusst werden. Vor allem in den ländlichen Gebieten müssen sie sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen.“
Sehr geehrte Damen und Herren! Genau vor vier Jahren hat der Landtag auf Antrag der PDS-Fraktion die gleiche Problematik bereits einmal umfangreich diskutiert. Am Ende eines mehr als ein Jahr andauernden intensiven Beratungsprozesses des Verkehrsausschusses, der auch eine Anhörung einschloss, stand eine unveränderte Streichliste.
Nun gut, mit dem Umstand, mit 10 % weniger Nebenstrecken leben zu müssen, fand sich, wenn auch mehr schlecht als recht, schließlich auch unsere Fraktion ab. Doch damit wurde der Ausstieg aus einer Bahnpolitik eingeleitet, für die Sachsen-Anhalt bis zum Ende der 90er-Jahre bundesweit Achtung gezollt wurde, weil sie auf einen integrierten ÖPNV/SPNV setzte und diesen offensiv entwickelte.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass nach der vor uns stehenden zweiten Streichrunde Ruhe einkehren wird. Die endgültige Bereinigung des Netzes wird im Rahmen der Ausschreibung der SPNV-Leistungen erfolgen und vermutlich einer wahren Streichorgie gleichkommen.
Herr Dr. Heyer - ist er da? Ja -, Sie haben mit Ihrer Verhandlungspolitik und dem - trotz wiederholter Nachfragen - Vorenthalten der entscheidenden Informationen Herrn Dr. Daehre in eine geradezu traumhafte Ausgangsposition gebracht.
Während dieser bereits seit Jahren massive Streckenabbestellungen fordert, kann er jetzt wunderbar „auf fremdem Hintern durchs Feuer reiten“, auf Ihrem Hintern, Herr Verkehrsminister a. D.
Diese Chance wird auch sofort genutzt und schwuppdiwupp ist die Streichliste gleich um drei Strecken länger. Das Kabinett beschließt diese, ohne zuvor die Kommunen oder die Gewerkschaften gehört zu haben. Nach meinem groben Überschlag kosten die Abbestellungen dieses Mal mindestens 185 Eisenbahner den Arbeitsplatz. Die Kommunen sind mit 2,81 Millionen € pro Jahr dabei und eine Kompensation erhalten sie maximal für drei Jahre. Nach drei Jahren kommt dann wahrscheinlich sukzessive auch das Sorgerecht für die ehemaligen Eisenbahner - nun als Sozialhilfeempfänger - mit etwa 1,7 Millionen € pro Jahr hinzu.
Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich wäre massiver Widerstand seitens der Bürger, der Kommunen und der Länder gegen eine solche Verkehrspolitik dringend erforderlich. Die PDS fordert das seit langem. Nur ein angebotsorientierter öffentlicher Personennahverkehr ist letztendlich für die Bürger attraktiv. Er bedarf einer entsprechenden dauerhaften Finanzierung, aus der sich kein Verantwortungsträger, sei es Bund, Land oder Kommune, zurückziehen darf.
Leider ist ein solcher Wille nicht erkennbar. So bleibt auch hier wiederum nur Schadensbegrenzung. Der wollen wir uns auch nicht verweigern. Deshalb könnten wir dem Änderungsantrag der CDU und der FDP dann folgen, wenn in Punkt 1 eine Ergänzung aufgenommen werden würde. Der Punkt 1 würde dann lauten: „... die zum 1. Oktober 2002 beabsichtigten Abbestellungen des SPNV“ - jetzt kommt der Einschub - „in Gesprächen mit den betroffenen Kommunen und zuständigen Gewerkschaften zu überprüfen und auszusetzen, wenn die betroffenen Landkreise oder die Nasa keine Ersatzlösungen sicherstellen können“. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Dr. Köck, Sie haben nicht gesagt, was mit Ihrem Antrag geschehen soll, Überweisung oder Direktabstimmung.
Ich danke Ihnen, Herr Dr. Köck. - Ich rufe als nächsten Redner für die FDP-Fraktion Herrn Qual auf. Bitte, Herr Qual.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Konsequenz aus der Revision des Regionalisierungsgesetzes hat die Landesregierung beschlossen, die betreffenden 13 Linien im SPNV voraussichtlich zum Oktober dieses Jahres abzubestellen.
Die Fraktion der FDP geht davon aus, dass dies eine notwendige Maßnahme darstellt, um für das Jahr 2002 weitere vermeidbare finanzielle Lasten für das Land auszuschließen. Dies halten wir für nicht nur vertretbar und vernünftig, sondern angesichts der äußerst angespannten finanziellen Lage, in welcher sich unser Land befindet, für geradezu unumgänglich.
Ich darf darauf verweisen, dass, basierend auf einer Vorlage vom 28. September 2001 und untersetzt durch entsprechende Vorschläge der Nasa, die SPD-Vorgängerregierung bereits Stilllegungen geplant hatte, sicherlich aus nicht anderen ökonomischen Sachzwängen heraus. Eine entsprechende Entscheidung wurde aber aus unerklärlichen Gründen durch die SPD-Landesregierung unter Duldung der PDS nicht getroffen. So wurde es der neuen Landesregierung überlassen, sich mit dieser schwierigen und nicht gerade populären, aber nicht weiter aufschiebbaren Entscheidung zu befassen.
Die benannten Vorschläge der Nasa waren Grundlage für die Informationen durch Herrn Minister Daehre vor dem Verkehrsausschuss des Landtages einschließlich seiner weitergehenden Vorschläge. Der Auswahl der zur Abbestellung vorgesehenen Strecken sind umfangreiche Untersuchungen - daran möchte ich erinnern - im Vorfeld der Fortschreibung des SPNV-Planes vorausgegangen.
Prüfkriterien waren die heutige Fahrgastnachfrage, hauptsächlich aber die Fahrgastprognose unter optimalen Rahmenbedingungen, das heißt unter Berücksichtigung von Reisezeit, Bedienungshäufigkeit, Fahrzeugeinsatz, Lage der Zugangsstellen, Integration in den integralen Taktfahrplan und Tarifintegration, sowie der bisherige Schwellenwert, das heißt die Frage nach dem Potenzial für die Bedienungswürdigkeit einer Strecke im SPNV. Bei den Untersuchungen wurden ebenfalls notwendige Investitionen zur Ausschöpfung des Potenzials und der notwendige, gegebenenfalls auch erhöhte Zuschussbedarf berücksichtigt.
Diese Form der Untersuchung umfasst damit eine grundsätzliche Kosten-Nutzen-Betrachtung. Bisher verwendete Prognosen in Bezug auf die Struktur und die Entwicklung des SPNV in den zurückliegenden Jahren zeigten zum Teil eine optimistischere Entwicklung auf, als diese tatsächlich eintrat. Folgernd daraus mussten für einige Strecken die Potenzialeinschätzungen überarbeitet werden.
Ungeachtet der Erkenntnis, dass die Aufgabenträger des öffentlichen Straßenpersonennahverkehrs in geringerem Maße als angenommen bereit sind, ihre Angebotsnetze - das betrifft Fragen der Linien- und der Fahrplanabstimmung - auf das SPNV-Angebot abzustimmen, müssen sich aus der Sicht der FDP-Fraktion gerade in diesem Bereich noch bestehende Reserven ausschöpfen lassen.
Die Landesregierung muss bei ihren gegenwärtigen und weiteren Entscheidungen neben der Potenzialausschöpfung auch davon ausgehen, dass bei einer Reihe von Strecken des Nebennetzes in Kürze durch die DB Netz AG Ersatzinvestitionen vorzunehmen sind. Somit ist das Land gefordert, sich entweder zu den Strecken zu bekennen und eine langfristige Bestellgarantie abzugeben oder den Verzicht durch eine Abbestellung zu erklären und damit für die Einsparung von öffentlichen Investitionen in einem großen Umfang den Weg frei zu machen.