Protokoll der Sitzung vom 19.07.2002

Warum ist diese Großforschungseinrichtung für Europa so dringend erforderlich? - Zunächst muss man wissen, dass die physikalisch-wissenschaftliche Materialuntersuchung Neutronen verwendet, und zwar für alle dazu geeigneten Anwendungsgebiete, wie in der Biologie, der Medizin, zum Beispiel Knochentextur, der Pharmazie, der polymeren Werkstoffe, der Keramikwerkstoffe, der metallischen Werkstoffe - für Flugzeuge, Eisenbahn usw. bedeutungsvoll - und für entsprechende Ausgangsstoffe für Beschichtungstechnologien. Dazu muss in Wissenschaft, Forschung und Technik ein kontinuierlicher Angebotsfluss an Neutronen gewährleistet sein.

Die Forschungsreaktoren, die uns zurzeit Neutronen über Kernspaltung aufbereiten, werden in den kommenden Jahren insbesondere aus Altersgründen abgeschaltet. Der Forschungsbedarf für diese Neutronen hat aber weltweit ständig zugenommen. Die Konsequenz ist: Weitere wissenschaftliche Anwendungsgebiete unter Nutzung der Neutronenstreuung wurden erschlossen. Die Entwicklung weiterer und neuer Neutronenquellen mit noch intensiverer Leistungsfähigkeit wurde daher zwingend notwendig.

So wurden bereits Erfolg ersprechende Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und in Japan in die Wege geleitet. Gleiches erfolgte bisher schon für Europa. Die entsprechenden Abstimmungen und Vorbereitungsarbeiten wurden getätigt. Über eine erarbeitete Machbarkeitsstudie wurden aus 18 europäischen Ländern Forschungslaboratorien für entsprechende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten verpflichtet.

Das ins Auge gefasste neue europäische Großprojekt ESS ist kein Kernreaktor. Mit so genannter Lichtgeschwindigkeit-Linearbeschleunigung werden durch Protonenbeschuss an schweren Atomkernen - möglicherweise Quecksilber - Neutronen freigesetzt. Das erfolgt dann durch Aufheizung. Das ist ein anderes Prinzip. Das als technische Allgemeingutvermittlung.

So aufwendig die Entwicklungsumsetzung auch ist - immerhin 1,5 Milliarden € Projektkosten, neben jährlichen Betriebskosten von 150 Millionen € -, so hoch leistungsfähig für alle zutreffenden Wirtschafts- und Innovationsfelder wird diese europäische Neutronenquelle sein. Es ist immerhin ein etwa 100-fach gesteigerter Neutronenfluss.

Meine Damen und Herren! Zurzeit gibt es fünf bis sechs Standortbewerber: einen skandinavischen, zwei englische und gegebenenfalls einen französischen Standort sowie Jülich neben unserer Region für Deutschland.

Für den jeweiligen Standort entscheiden sich die europäischen Länder voraussichtlich Ende des Jahres 2002. Eine Grundsatzentscheidung des BMWF für den deutschen Standort wird somit voraussichtlich Ende 2002 erwartet. Im Jahr 2003 könnten sich dann die europäischen Regierungen auf einen endgültigen europäischen Standort einigen, sodass die Bauphase im Jahr 2004 beginnen könnte. Die Zeit drängt, denn für den Bau werden immerhin sechs bis sieben Jahre benötigt. Die vollständige Inbetriebnahme würde dann in den Jahren 2012/2013 erfolgen.

Das Interesse unserer Region an der Bewerbung wurde beim zentralen ESS-Projektteam registriert und unser überregionales Angebot auf der Europäischen Konferenz „ESS - Source of Science“ in Bonn am 16. und 17. Mai 2002 mit einem guten Eindruck präsentiert. Ver

antwortlich für die Koordinierung ist eine Länder übergreifende interministerielle Arbeitsgruppe.

Im Raum Halle/Leipzig im Bereich der Landesgrenze Sachsen-Anhalts zu Sachsen wurde im Ergebnis umfangreicher Recherchen und nach den entsprechenden Anforderungsprofilen ein geeignetes Gebiet in der Größenordnung von ca. 110 Hektar bereitgestellt.

Was gibt uns den Antrieb und den Auftrieb für eine Bewerbung für ein derartig großes europäisches Projekt?

Erstens. In unserer Region ist ein großes wissenschaftlich-technisches Potenzial vorhanden. Das betrifft die Universitäten und Hochschulen im Bereich Halle und Leipzig sowie die Max-Planck- und die An-Institute der Fraunhofer-Gesellschaft sowie die Zentren der Biotechnologie und der Umweltforschung sowie weitere Forschungseinrichtungen. Ich erinnere hierbei an die ausgeführten Vorbereitungsarbeiten zum ehemaligen deutschlandweiten Bioregio-Wettbewerb.

Zweitens ist nicht auszuschließen, dass auch das Wissenschaftspotenzial Thüringens einbezogen werden kann.

Drittens. Ebenso erschließen sich weitere Wissenschafts- und Anwendungsräume im Rahmen der erwarteten Osterweiterung der Europäischen Union.

Damit kann eine derartige strukturpolitische Entscheidung die Ausgangsbasis für die forcierte Ausbildung einer starken Wissenschafts- und Wirtschaftsregion bilden. Das wäre gewissermaßen ein bedeutsamer Kristallisationskern für die vorgesehene Initiative Mitteldeutschland. Damit ist ein weiterer Baustein auf dem Wege zur Umsetzung des Eurogipfels von Barcelona gelegt worden.

Nun sind unsere führenden Politiker gefordert. Wir werden auch sie daran messen, inwieweit ihre verbalen Aussagen, wie zum Beispiel den Osten zur Chefsache zu machen, mit der praktischen Realität übereinstimmen. Auch der Wirtschaftsexperte Lothar Späth hat sich bereits in der Öffentlichkeit unmissverständlich für unsere Region ausgesprochen.

Neben dem hohen wissenschaftlichen Nutzen und dem Gewinn an wissenschaftlichem Prestige werden in der sechs- bis siebenjährigen Bauphase ca. 2 000 Arbeitskräfte benötigt sowie 600 direkte und 2 000 indirekte Arbeitsplätze geschaffen.

Dem kann man nur zustimmen. Meine Damen und Herren, dafür werbe ich auch bei Ihnen als Parlamentarier der Region unseres Landes.

Meine Damen und Herren! Ihnen liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion vor. Dieser Änderungsantrag sieht in Punkt 4 folgende Ergänzung vor - ich lese die Änderung vor -:

„Der Landtag fordert die Landesregierung weiterhin auf, gegenüber dem Bund bei Entscheidung über weitere neu einzurichtende Großforschungszentren auf eine vorrangige Berücksichtigung Sachsen-Anhalts zu drängen.“

Dieser Antrag ist nicht nur nicht schädlich, sondern er ist sehr nützlich. Deshalb schlage ich vor, dem Antrag mit der Ergänzung zuzustimmen. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Vielen Dank, Herr Dr. Sobetzko. - Für die Landesregierung spricht Herr Minister Dr. Rehberger. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Neutronenforschung ist eines jener Gebiete, in denen Europa weltweit eine Spitzenposition einnimmt. Die Realisierung der ESS wird die derzeit führende Rolle Europas in der Neutronenforschung sichern und damit die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinentes weiter ausbauen.

Es ist wichtig, den wissenschaftlichen und technischen Vorsprung gerade auf diesem Gebiet zu erhalten, denn auch in den USA und in Japan werden gegenwärtig Hochleistungsspallationsquellen gebaut. Diese Anlagen werden im Jahr 2006 fertig gestellt und in Betrieb genommen. Die europäische Spallationsneutronenquelle ist damit ein Großprojekt mit überragender Bedeutung, das von 18 nationalen Forschungszentren in Europa getragen wird.

Herr Dr. Sobetzko hatte schon ausgeführt, dass die Präsentationen der Standortbewerber auf dem internationalen Kongress der Neutronenforscher Mitte Mai in Bonn das starke, vor allem wirtschaftlich motivierte Interesse einer Reihe von Regionen in Europa an der Ansiedlung der ESS deutlich machten. Im Ergebnis der Präsentationen und Diskussionen zeigte sich, dass dem bislang favorisierten Standort Jülich mehrere ernsthafte Konkurrenten, darunter auch die Region Mitteldeutschland, erwachsen sind.

Für diesen Standort Mitteldeutschland gibt es eine ganze Reihe wichtiger Argumente.

Der Freistaat Sachsen und das Land Sachsen-Anhalt stellen für den Bau der ESS eine komplett erschlossene große und erweiterungsfähige Fläche von 120 Hektar zur Verfügung. Der Standort zwischen den Städten Leipzig und Halle erfüllt sämtliche Anforderungen für eine solche Anlage: Die geologischen, seismischen und hydrologischen Bedingungen sind ideal; alle technischen Voraussetzungen sind gegeben; eine optimale Verkehrsinfrastruktur ist vorhanden. In unmittelbarer Nähe befinden sich das Schkeuditzer Autobahnkreuz, der internationale Flughafen Leipzig-Halle sowie ICE- und Nahverkehrsanschlüsse.

Das wirtschaftliche und soziale Umfeld ist gut. Die Region befindet sich in einem dynamischen Aufbruch. Bislang wurden über 100 Milliarden € an öffentlichen und privaten Mitteln in Infrastruktur, Wirtschaft und Wissenschaft, Wohn- und Freizeitmöglichkeiten investiert. Wenn wir an die wirtschaftlichen Großinvestitionen denken, dann darf man auf Dow Chemical ebenso verweisen wie etwa auf die Leuna-Raffinerie, auf Porsche ebenso wie auf die geplante Ansiedlung von BMW in Leipzig.

In der Region Leipzig hat sich - meine Damen und Herren, das ist sicherlich ein ganz besonders wichtiger Aspekt - eine leistungsfähige und effektive Forschungsinfrastruktur etabliert. Im Umkreis von 150 km, das heißt im Mitteldeutschen Raum, befinden sich 14 Universitäten, 29 Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, 23 Institute der Max-Planck-Gesellschaft, 18 Institute der Fraunhofer-Gesellschaft, fünf

Institute der Helmholtz-Gemeinschaft, drei Hochschulen, 15 Fachhochschulen sowie zahlreiche weitere universitäre und außeruniversitäre Forschungsinstitute, unter anderem die Zentren der biotechnologischen Forschung in Gatersleben, Halle und Leipzig.

Meine Damen und Herren! Wer hat anderwärts so viel zu bieten wie wir?

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Lachen bei der SPD und bei der PDS)

Das ändert aber nichts daran, meine sehr verehrten Damen und Herren - -

(Herr Bullerjahn SPD: Das hätten wir vor der Wahl hören müssen! Das geht uns runter wie Öl! - Herr Reck, SPD: In acht Wochen haben Sie das alles geschafft! - Weitere Zurufe von der SPD)

- Wie wir in Mitteldeutschland!

(Anhaltende Unruhe bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Obwohl wir - wir in Mitteldeutschland! - so viel zu bieten haben, hat unsere Bewerbung drei sehr hohe Hürden zu nehmen. Das muss ich in diesem Zusammenhang doch noch einmal erwähnen.

Die erste Hürde heißt Wissenschaftsrat. Der Wissenschaftsrat ist noch in einer Diskussion über die Bedeutung und die Dringlichkeit einer solchen Anlage. Wenn der Wissenschaftsrat nicht zu einer positiven Stellungnahme kommt, dann ist das Thema wahrscheinlich bundesweit erledigt.

Die zweite Hürde, wenn wir uns im Wissenschaftsrat mit unserer Bewerbung durchsetzen können, ist die Bundesregierung. Denn sie wird letztlich im Zusammenwirken mit den Bundesländern über die Standortfrage innerhalb der Bundesrepublik zu entscheiden haben. Da gibt es einen ernst zu nehmenden Mitbewerber, nämlich den Standort Jülich.

Selbst wenn wir diese Hürde - was ich hoffe - nach der Bundestagswahl nehmen können, ist immer noch eine dritte, noch höhere Hürde zu nehmen: Die Regierungen, die in der Europäischen Union zusammengeschlossen sind, müssen sich nämlich auf einen Standort einigen. Jeder weiß, dass das ein enorm schwieriger Prozess ist. Wie ein solcher Prozess ausgeht, das weiß niemand ganz genau.

Aber gehen Sie davon aus, dass die Landesregierung von Sachsen-Anhalt gemeinsam mit der Regierung des Freistaates Sachsen alles tun wird, um die Position unserer Bewerbung zu verbessern.

Zum Schluss darf ich sagen: In diesem Zusammenhang ist es wirklich hocherfreulich und ich danke namens der Landesregierung und insbesondere meines Kollegen Professor Olbertz diesem Hohen Hause, dass alle vier Fraktionen einen gemeinsamen Antrag stellen und damit der Landesregierung die denkbar breiteste Unterstützung geben. Recht herzlichen Dank!

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Danke, Herr Dr. Rehberger. Möchten Sie eine Frage beantworten?

Gern.

Frau Budde, bitte.

Herr Minister, eine Vorbemerkung: Jetzt weiß ich endlich, was Sie gestern mit der Wendung „rasantes Tempo“ gemeint haben. Wie Sie vom 21. April bis jetzt von der damaligen Beschreibung zu der jetzt realistischen Beschreibung des Landes Sachsen-Anhalt umschalten, das ist echt ein rasantes Tempo. Die Region hätten Sie vor dem 21. April auch einmal so beschreiben sollen.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Aber ich habe folgende Frage: Sie haben als erste Hürde den Wissenschaftsrat genannt. Können Sie mir erklären, warum der Wissenschaftsminister nicht anwesend ist? Das ist wirklich keine rhetorische Frage, sondern ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Tat beide Ressorts dafür brauchen.

Sie können davon ausgehen, dass selbstverständlich beide Ressorts und insbesondere Kollege Olbertz mit allem Nachdruck daran arbeiten, die Position des Landes im Wettbewerb - zunächst einmal innerhalb der Bundesrepublik - nachhaltig zu unterstützen.