Protokoll der Sitzung vom 19.07.2002

Beratung

Entwicklung der Schulsozialarbeit

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/47

Einbringer ist Herr Abgeordneter Gebhardt. Bitte, Herr Gebhardt, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schulsozialarbeit ist ein wichtiges Feld, ein wichtiges Feld in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber Schülerinnen und Schülern bzw. gegenüber den Heranwachsenden. Es ist für uns alle offensichtlich, dass die soziale Problemlage von Heranwachsenden ihre Lebensumstände und ihre Lebenssituation stark beeinflusst.

Schulsozialarbeit wird auch künftig eine wachsende Brisanz haben, meine Damen und Herren, denn Tatsache ist, dass immer mehr Elternhäuser - aus zugegebenermaßen unterschiedlichsten Gründen - nicht in der Lage sind, hierbei kompensierend zu wirken.

Unserer Auffassung nach gehört Sozialpädagogik auch zum systematischen Auftrag von Schule. Sie darf sich nicht nur auf Interventionen bei einzelnen Problemfällen reduzieren. Wir sehen Schule in der Pflicht, soziale Kompetenzen auszuprägen, im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld Erlerntes zu vertiefen, dann Motivation zu entwickeln und im Sinne von ausgleichender Gerechtigkeit soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb zu kompensieren sowie schließlich in Krisensituationen entsprechende Interventionsmöglichkeiten vorzuhalten. Das alles ist aus unserer Sicht Teil des Bildungsauftrages.

Die Lehrerinnen und Lehrer tragen dafür eine hohe Verantwortung; sie können damit aber nicht allein gelassen werden. Gebraucht werden professionelle sozialpädagogisch ausgebildete Fachkräfte. Dies wird von Lehrerinnen und Lehrern aller Schulformen bestätigt, besonders nach den tragischen Ereignissen im Erfurter GutenbergGymnasium. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass mich nach der Erfurter Tragödie besorgte Briefe von Lehrerinnen und Lehrern meines Wahlkreises erreichten, die genau diese Intention mit enthielten. Dies, meine Damen und Herren, sollten wir alle ernst nehmen.

Eine wichtige Säule bei der sozialpädagogischen Profilbildung von Schule ist das Programm „Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe - Schulsozialarbeit in Schulen Sachsen-Anhalts“. Dieses Programm greift Erfordernisse zu sozialpädagogischer Arbeit an Schule auf. Es baut auf einem breiten Konsens auf, der im Jahr 1998

in der Enquetekommission „Schule mit Zukunft“ nach mehrjähriger Arbeit gefunden wurde.

Natürlich hat dieses Programm auch Defizite und nicht alle geförderten Projekte sind superperfekt. Die PDS hat dies immer kritisch vermerkt. Wir haben ausführliche Beratungen - auch unter Hinzuziehung von Expertinnen und Experten - in den Fachausschüssen mit initiiert.

Trotz vieler kritischer Bemerkungen bleibt festzuhalten: In den derzeit 64 Projekten an 70 Schulen im Land Sachsen-Anhalt ist eine überwiegend solide Arbeit geleistet worden. Diese gilt es nun zu stabilisieren und den Projekten Planungssicherheit zu gewähren.

(Beifall bei der PDS)

In diesen Tagen verstärkte sich allerdings die Sorge, dass viele der Schulsozialarbeitsprojekte nicht fortgeführt werden können. Diese Befürchtungen sind übrigens nicht so neu und die PDS hat das auch gegenüber der damaligen SPD-Regierung thematisiert. Auch bei ihr gab es ernsthafte Überlegungen, den Anteil der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, also der Landkreise, schrittweise, jedoch in erheblichem Maße zu erhöhen und den Anteil des Landes prozentual zurückzufahren.

In diesem Licht sind die jüngsten Erklärungen der SPDFraktion gegenüber der Presse schon etwas pikant, wenn die SPD die möglichen höheren Belastungen der Kommunen beklagt. Allerdings - das ist der große Unterschied - war hier zumindest das offensichtliche Ziel, die Zahl der Projekte zu erhöhen und bei absolut gleich bleibendem Landesanteil durch einen höheren Beitrag der Landkreise insgesamt eine größere Finanzmasse zu mobilisieren.

Die nun allerdings vom Kultusstaatssekretär Herrn Willems angekündigte Kürzung der Landesmittel könnte bei steigendem Engagement der Kommunen gerade einmal den Status quo sichern. Angesichts der gegenwärtigen und der wohl auch in absehbarer Zeit nicht grundlegend verbesserten finanziellen Lage der Landkreise kommt eine generelle Erhöhung ihrer Verpflichtungen einem Aus für viele Projekte gleich. Landesmittel - egal, in welcher Höhe - werden dann nicht mehr abfließen.

Dennoch muss über die inhaltliche Ausgestaltung des Beitrags der Jugendhilfe diskutiert werden, ebenso über ihren finanziellen Anteil. Die PDS hält es für richtig, dass an dieser Stelle gemeinsam von Kultus- und Sozialministerium Verantwortung wahrgenommen wird, dass auch vor Ort Jugendhilfe- und Schulträger gemeinsam mit den freien Trägern der Jugendhilfe zusammenwirken und die Projekte gemeinsam tragen müssen. Die Zusammenarbeit von Schule und örtlicher Jugendhilfe wollen wir verstärken und effektiver gestalten, auch im Zusammenhang mit einer engeren Einbindung von Schule in ihr soziales Umfeld.

Wir hielten es für falsch, wenn sich einige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe unter dem Vorwand knapper Kassen gänzlich aus dem Projekt zurückziehen wollten. Im Moment aber drängt die Zeit. Die Projektträger, meist freie Träger der Jugendhilfe, kleine Vereine oder Ähnliches, brauchen Planungssicherheit. Sie haben für ungewisse Wechsel auf die Zukunft keinerlei finanzielle Polster. Wie sollen denn im kommenden Schuljahr Projekte gestaltet werden, wenn mitten im Schuljahr am 31. Dezember dieses Jahres die Förderrichtlinie ausläuft, ohne dass eine Perspektive klar ist?

(Zustimmung bei der PDS)

Auf diese Weise ist keine vernünftige Personalplanung denkbar, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die Entwicklung der Schulen und auf zahlreiche Fälle, die diese Sozialarbeiter begleiten.

Die Unsicherheit wird noch verstärkt, wenn es die CDU/ FDP-Mehrheit im Gleichstellungsausschuss wie auch im Finanzausschuss ausdrücklich ablehnt, ein Signal der Vorsorge für die Fortführung der Projekte zu setzen, und gegen eine Verpflichtungsermächtigung im Sozialhaushalt stimmt.

Die PDS hält es für erforderlich, mehr zu tun, um das sozialpädagogische Profil aller Schulen zu stärken. Ich betone, dass dies auch die Gymnasien und in besonderer Weise die Berufsschulen einschließt. Dazu bedarf es der Projekte von Schulsozialarbeit, deren Zahl erhöht werden sollte, denn es gibt nach wie vor einen hohen Bedarf. Es bedarf einer Qualifizierung der Tätigkeit der Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, die an den Schulen selbst beschäftigt sind, und einer Ausprägung der Professionalität bei den Lehrkräften, die verstärkt sozialpädagogische Kompetenz einschließt.

(Zustimmung von Herrn Höhn, PDS)

Meine Damen und Herren! Schulsozialarbeit ist weder eine minderwertige Leistung im Hinblick auf Freizeitangebote an der Schule noch eine Art Feuerwehrinstanz, auf die man im Notfall oder in besonderen Problemsituationen einfach zurückgreifen kann oder auf die man diese Probleme abwälzen könnte. Sozialarbeit muss zum gesamten pädagogischen Prozess, zum gesamten Bildungsauftrag an der Schule als fester und ebenso geachteter Bestandteil gehören. Im Hinblick auf das Ziel, kontinuierlich in dieser Richtung weiterzuarbeiten, sind die seit längerem auftauchenden Signale der Verunsicherung wenig hilfreich.

Deshalb fordern wir noch vor den Haushaltsberatungen eine solide Analyse des derzeitigen Standes der Projekte von Schule und Jugendhilfe. Ergänzend dazu sollte in den Fachausschüssen für Bildung und Wissenschaft sowie für Gleichstellung, Familie, Kinder, Jugend und Sport erneut ein Expertengespräch geführt werden. Gleichzeitig geht es uns, wie eben bereits erwähnt, um mehr Planungssicherheit für die Maßnahmenträger.

Ferner halten wir es für richtig und notwendig, über die inhaltlichen Zielorientierungen der neuen Förderrichtlinie in den genannten Fachausschüssen zu beraten. Hier sind Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen sowie neue Anforderungen aufzunehmen. Das bezieht sich auf die inhaltliche Zielsetzung der förderungswürdigen Projekte, das Antragsverfahren, die wissenschaftliche Begleitung und anderes mehr. Daher wollen wir die Entwürfe in den Fachausschüssen vor ihrer Verabschiedung kennen lernen.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

(Beifall bei der PDS)

Danke, Herr Gebhardt. - Wir treten damit in eine Debatte mit einer Redezeit von fünf Minuten je Fraktion ein. Als Erster hat jedoch Herr Minister Olbertz für die Landesregierung um das Wort gebeten. Bitte, Herr Minister.

Herr Präsident, ich habe gerade gelernt, dass ich Sie nicht mit „Herr Vorsitzender“ anreden soll. Ich bitte um Entschuldigung.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinder und Jugendliche sind gegenwärtig mit gesellschaftlichen Situationen und daraus resultierenden Lebensbedingungen konfrontiert, die hohe Anforderungen an ihre Belastbarkeit sowie an ihre Lebensplanung stellen, zum Beispiel unbewältigte Arbeitslosigkeit, der Wandel in der Familie, der Wertewandel, die Verlängerung der schulischen und beruflichen Ausbildung und die Instabilität von so genannten Normalbiografien.

Die gesellschaftlichen Probleme - so die Studien von Professor Olk und seinen Mitarbeitern aus der wissenschaftlichen Begleitung des Programms - werden immer häufiger in die Schulen hineingetragen und führen zu Problemen bei der Wahrnehmung des Bildungs- und Erziehungsauftrages der Schulen. Das sehen wir seitens der Regierungsfraktionen und der Regierung ebenso.

Oftmals kumulieren familiäre Probleme in Zukunftsangst, Gewalt, Drogen, Schulabsentismus oder Lernunlust. Der wachsende Anteil von Schülerinnen und Schülern, die in sozial beeinträchtigten Lebensverhältnissen aufwachsen, gibt in der Tat Anlass zur Sorge und verpflichtet zur Entwicklung sozialpädagogischer Beratungs- und Stützsysteme.

Das in Rede stehende Programm wurde von der MartinLuther-Universität wissenschaftlich begleitet und bewertet. Neben einer Reihe von kritischen Anmerkungen etwa zur Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern mit Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern und zur durchaus unterschiedlichen Qualität der Angebote kann man insgesamt von einem erfolgreichen Verlauf des Programms sprechen. Das gilt insbesondere für die Einzelfallbetreuung von sozial beeinträchtigten jungen Leuten sowie für die Steigerung sozialer Sensibilität und Kompetenz durch die offenen pädagogischen Angebote.

Ich bin aufgefordert worden, mich zu einigen ausgewählten Ergebnissen der Begleitforschung zu äußern. Ich nenne drei Punkte.

Erstens. Die Schulsozialarbeit hat sich als eine erfolgreiche Form der Kooperation von Schule und Jugendhilfe - das sollte damit angestoßen werden - erwiesen, da eine systematische Zusammenarbeit vor Ort in der Schule stattfindet und sich damit natürlich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten zwischen Lehrkräften, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und im Übrigen auch Eltern anbieten. Die Ziele der Schulsozialarbeit werden in zahlreichen Fällen erreicht. Von den meisten Schulleiterinnen und Schulleitern wurden in den Befragungen auch die positiven Auswirkungen auf das Schulklima hervorgehoben.

Zweitens. Der in Sachsen-Anhalt verfolgte sozialpädagogische Ansatz, unmittelbar vor Ort integrativ zu arbeiten, ist in der Studie als erfolgreich bewertet worden. Dabei wurden einzelfall- und gruppenbezogene Probleminterventionen mit offenen, präventiv ausgerichteten Angeboten der schulbezogenen Jugendarbeit verknüpft; ebenso wurde mit anderen Partnern im Umfeld der Schule kooperiert.

Drittens. In Abhängigkeit vom Schultyp sowie von der Situation und Konzentration an der einzelnen Schule bieten die Schulsozialarbeiter in Sachsen-Anhalt unterschiedliche Leistungen an. Mir kommt es aber ganz besonders darauf an, von den Kernleistungen in der Sekundarschule zu sprechen, also von der lebensweltbezogenen Schülerberatung, der sozialpädagogischen Begleitung von Schülern, die Schwierigkeiten haben, also in Gestalt der Einzelfallhilfe, von der Förderung der sozialen Kompetenz in Gruppen und schließlich auch von offenen Gesprächs- und Kontaktangeboten.

Nach meinem Eindruck aus der Lektüre der Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung müssen die Arbeitsfelder und Aufgaben der Schulsozialarbeit allerdings stringenter formuliert werden. Die Sozialpädagogen sollten sich künftig stärker auf die Bearbeitung spezieller sozialer Probleme konzentrieren und keine genuin pädagogischen Aufgaben des Lehrerkollegiums übernehmen, wie zum Beispiel die Beteiligung an Projektwochen, an Schulfesten, an Tagen der offenen Tür, Klassenfahrten usw. Das ist nicht genuin Aufgabe der Schulsozialarbeit, wobei ich gern einräume, dass es natürlich innere Zusammenhänge und Interferenzen gibt, die konzeptionell bedacht werden müssen. Es soll jedoch nicht zu einer Verlagerung professioneller Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten kommen.

Folgende Kernfelder der Schulsozialarbeit scheinen nach den Erfahrungen des Programms tragfähig und begründet: erstens die konkreten, einzelfallbezogenen schulsozialpädagogischen Hilfen für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Lern- und Verhaltensstörungen und zweitens die so genannten offenen schulsozialpädagogischen Angebote.

Abschließend ein Wort zur Landesförderung. Die Haushaltsansätze bei den beiden zuständigen Ministerien, also MS und MK, belaufen sich schuljährlich auf jeweils rund 1 Million €, also insgesamt auf rund 2 Millionen €. Davon sind zum 1. August 2002 etwa 1,4 Millionen € abgeflossen.

Der Eigenanteil, der bis zum Jahresende 2002 vom Schulträger, vom jeweiligen Träger der Jugendhilfe und vom Projektträger zu erbringen ist, beträgt mindestens 10 % der zuwendungsfähigen Gesamtausgaben. Es gibt gegenwärtig 64 Projekte, in denen 70 sozialpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Programm zur Schulsozialarbeit läuft zum 31. Dezember 2002 regulär und planmäßig aus. Die Landesregierung will für das Programm aber eine vernünftige Anschlusslösung finden. Hierüber sind sich das MK und das MS bereits im Klaren. Wir stehen in einem intensiven Gespräch, das von dem Einvernehmen getragen ist, die Schulsozialarbeit im Rahmen des Möglichen weiterhin zu fördern.

Festgehalten werden soll auch an der längerfristigen Kooperation einer Schule mit einem Träger der Jugendhilfe. Die Ziele entsprechender Angebote liegen auch künftig vor allem in der frühzeitigen Erkennung von Konflikten, Notlagen und defizitären Lebensbedingungen junger Leute und in der Bereitschaft, fallbezogene Unterstützungsangebote zu machen.

Ich möchte einen sehr wichtigen Kommentar noch hinzufügen: Systematisch - wohlgemerkt: systematisch - bestünde die schulpolitische wie pädagogische Aufgabe

darin, die Anlässe für Schulsozialarbeit zu minimieren. Viele dieser Anlässe - aber natürlich keineswegs alle - haben auch in einer nicht gelingenden Schule ihren Ursprung. Dies gilt vor allem dort, wo sie den Schülerinnen und Schülern zu wenig abverlangt oder ihnen keine verlässlichen Koordinaten für ihr Lernen und Verhalten mehr vermittelt.

Insofern ist die innere Umgestaltung der schulischen Lern-, Kommunikations- und Kooperationsprozesse selbst ein wichtiger Beitrag zur Schulsozialarbeit. Das heißt, solange der Handlungsbedarf hierbei so evident ist wie derzeit, sind solche Argumente natürlich akademischer Natur. Wenn wir jedoch konzeptionell denken, müssen wir insbesondere darauf aufmerksam machen, dass Schulsozialarbeit nicht die Lösung, sondern nur ein Weg dorthin ist.

Das ist mir sehr wichtig. Soweit ich das selbst mit entscheiden kann, fördere ich im Grunde genommen lieber Projekte, die unmittelbar in die Unterrichtswirklichkeit der Schule hineinwirken, wie etwa das Projekt des produktiven Lernens.

(Zustimmung von Herrn Schomburg, CDU)

Wenn das so funktioniert, wie es im Moment in Berlin angedacht ist, dann würden von 1 000 geförderten Fällen immerhin 800 auf diese Weise in eine gelingende berufliche Ausbildung einmünden. Damit würde ich die Effizienz und damit die Legitimation solcher Ansätze mit viel härteren Daten und Fakten untersetzen können, als ich es bei der Schulsozialarbeit kann.

(Zustimmung von Frau Feußner, CDU)