Meine Damen und Herren! Wenn wir uns einen Überblick verschafft haben, werden wir entscheiden, wann wir eine Trauerminute abhalten. Wir können aber jetzt schon so viel sagen: Wir trauern mit dem britischen Volk.
In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion zehn Minuten. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Für die Debatte wird folgende Rednerreihenfolge vorgeschlagen: PDS, FDP, SPD und CDU.
Zunächst hat für die Antragstellerin, die PDS, die Abgeordnete Frau Dr. Klein das Wort. Bitte sehr, Frau Dr. Klein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schwierig, nach einer solchen Meldung wie eben direkt etwas zu dem Thema EU zu sagen; denn es macht betroffen und wird sicherlich Auswirkungen auf die Politik der Europäischen Union in den nächsten Wochen und Monaten haben, wenn es um die Frage der Terrorismusbekämpfung geht. Wir hatten diese Aktuelle Debatte aber aus einem anderen Grund beantragt.
Die Krise der Europäischen Union ist nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und in den Niederlan
den und des Gipfels im Juni 2005 vollständig zum Ausbruch gekommen; denn neu ist diese Krise nicht. Die Krise ist mindestens seit Anfang der 90er-Jahre existent. Spätestens seit dem Gipfel in Nizza im Jahr 2000 war sie für alle, die sie sehen wollten, sichtbar.
Trotz des Konventprozesses und der Erarbeitung der Verfassung konnte diese Krise nicht überwunden werden. Im Gegenteil, wir haben jetzt eine EU-Verfassungskrise, wir haben eine EU-Finanzkrise und wir haben eine EU-Legitimationskrise.
Die ungelösten Krisen können auch auf Sachsen-Anhalt schwerwiegende Auswirkungen haben; denn Lösungen sind nicht greifbar, weil die Staats- und Regierungschefs an ihrem jeweiligen Kurs „weiter so!“ festzuhalten gedenken und meinen: Wenn man eine Denkpause einlegt, wird man die Probleme schon aussitzen.
Die Auseinandersetzungen im Europäischen Rat im Monat Juni zeigen die Grundlinien europäischer Politik sehr deutlich. Da geht es zum einen um die weitere Festschreibung neoliberaler Politik auf der Grundlage von Binnenmarkt, Währungsunion und Finanzmarktintegration, zum anderen geht es um die machtpolitische Ordnung Europas. Jean-Claude Juncker sprach nach dem Scheitern des Gipfels von zwei Konzepten für Europa. Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident:
„Es gibt jene, die, ohne es wirklich zu sagen, einen großen Markt und nichts als einen großen Markt wollen, und jene, die ein politisch integriertes Europa wollen.“
Aber auch Letzteres ist wohl mehr eine romantische Verklärung des allgegenwärtigen neoliberalen Projekts Europa.
Meine Damen und Herren! Der Unmut, der sich bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden wirkungsvoll und nachhaltig Luft machte, ist bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eigentlich kein Unmut über das Projekt Europa an sich, sondern es ist der Unmut über seine aktuelle Gestaltung durch neoliberale und arrogante Politik, die sich rigoros über die Interessen und Lebenslagen der Menschen hinwegsetzt.
In der Bundesrepublik kommt noch hinzu, dass die Bürgerinnen und Bürger - im Gegensatz zu denen in anderen EU-Staaten - nicht einmal bei den wichtigsten Entscheidungen über die EU mitentscheiden dürfen. Europawochen und ähnliche Feierlichkeiten reichen eben nicht, um den Bürgerinnen und Bürgern die Europäische Union nahe zu bringen. Entweder ist sie für sie ein fernes Gebilde mit sehr viel Bürokratie, das nichts Gutes bringt, oder aber sie wissen überhaupt nichts über die Europäische Union und es interessiert sie auch nicht.
Ich habe das in der vergangenen Woche wieder sehr deutlich gemerkt. Ich war Gast in einer außerbetrieblichen Berufsbildungseinrichtung und sollte eigentlich mit zukünftigen Wirtschafts- und Tourismusassistenten und -assistentinnen über die Werte und Ziele der EU diskutieren. Das war überhaupt nicht möglich, weil sie nichts oder fast nichts über die Europäische Union wussten. Abgesehen davon, dass diese Unkenntnis mit einem massiven Desinteresse an Politik generell verbunden war: Betroffen machte mich dies angesichts der Tatsache, dass sowohl Wirtschaft als auch Tourismus eigentlich sehr viel mit Europa zu tun haben und man die Vermittlung zumindest bestimmter Grundkenntnisse in den Lehrplänen für diese Ausbildung vermutet hätte.
Ich halte aber diesen Zustand generell für schlimm und nehme ihn sehr ernst. Ändern kann man diesen Zustand weder durch Lamentieren noch durch Vorträge und Diskussionsrunden über die EU allein. Nur dann, wenn die Europäische Union eine Politik macht, die die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellt und sie in die Gestaltung der Union aktiv einbezieht, wird sich das ändern. Dazu müssen wir als Politikerinnen und Politiker unseren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, die EU-Finanzkrise kann diesen Zustand noch weiter verschärfen; denn wenn das Geld nicht mehr verlässlich aus Brüssel kommt, bekommt die EU den schwarzen Peter und nicht die eigenen Regierungschefs, die die eigentlichen Auslöser sind, und wir bekommen wieder eine Debatte über Renationalisierung. Einige italienische Minister denken ja schon wieder über die Einführung der Lira nach.
Wurden bei den Debatten um die europäische Verfassung von den Regierungen die Werte und Ziele der EU noch hoch gelobt, so sind sie, wie es gegenwärtig scheint, nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie stehen. Auf dem Juni-Gipfel in Brüssel war von ihnen nichts mehr zu spüren. Es ist halt so: Beim Geld hört die Freundschaft auf und Solidarität wird ein Fremdwort. Das Angebot der neuen Mitgliedstaaten, zugunsten der reichen europäischen Staaten auf Fördergelder zu verzichten, um die finanzielle Vorausschau zu verabschieden und somit die Krise der EU zu entschärfen, stellt die Bedeutung von Solidarität nicht nur auf den Kopf, sondern ist zugleich eine Peinlichkeit ohne Beispiel für die reichen Mitgliedstaaten.
Die britische Ratspräsidentschaft wird vermutlich keinen akzeptablen Ausweg aus dieser Krise aufmachen. Im Gegenteil: Blair hat sehr deutlich gemacht, was er durchsetzen will. Abgesehen davon, dass der Britenrabatt bleiben soll, spricht Blair von einem sozialen Europa, das funktionieren muss, und meint den neoliberalen Umbau und den Verzicht auf soziale Ausgewogenheit. Blair spricht von einer Entbürokratisierung Europas und meint die Abkehr von der politischen Gemeinschaft hin zur reinen Freihandelszone. Blair spricht von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und meint eine weitere Deregulierung, die insbesondere zulasten der über 20 Millionen Arbeitslosen in der Union gehen wird.
Mit diesen Vorstellungen werden sich die Probleme, die mit der Erweiterung der Europäischen Union und der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa verbunden sind, nicht lösen lassen. Gerade die Regional- und Strukturpolitik sollte aber in der Lage sein, das wirtschaftliche und soziale Auseinanderdriften der Union zu verhindern. Mit diesem Anspruch ist sie zumindest vor Jahren angetreten. Die Weigerung einiger Regierungen, darunter der deutschen, die Ausgaben angesichts der weitreichenden Konsequenzen der EU-Erweiterung deutlich zu erhöhen, war bereits eine Absage an eine Kohäsionspolitik, die den völlig neuen Bedingungen seit dem 1. Mai 2004 entsprechen würde.
Ich fürchte, dass auch eine CDU-geführte Bundesregierung diesen Kurs der gegenwärtigen Bundesregierung fortführen wird. In der Debatte im Bundestag noch vor dem Brüsseler Gipfel machte Frau Merkel denselben Konflikt wie Blair auf: Agrarsubventionen kontra Mittel für Zukunftsaufgaben. Ansonsten begrüßt sie die klare Priorität für Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung in der zusammengestrichenen Lissabon-Agenda.
Die CDU-Forderung nach konsequenter Durchsetzung des Stabilitätspakts wird bei ihrer Umsetzung noch mehr Löcher in das soziale Netz schneiden. Da braucht man sich dann nicht zu wundern, dass die Bürgerinnen und Bürger die EU ablehnen. Soziale, ökologische und demokratische Werte und Standards müssen sich in einem Sozialpakt, der gleichberechtigt neben Wirtschafts- und Währungspolitik steht, greifbar für die Menschen niederschlagen.
Ich sagte bereits, die EU-Krise, insbesondere die Finanzkrise, wird möglicherweise auch auf Sachsen-Anhalt negative Auswirkungen haben. Die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 muss enormen Herausforderungen begegnen. Der vorgelegte Entwurf wurde diesen nicht gerecht. Die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Notwendigkeiten, insbesondere die Erfordernisse des regionalen Zusammenhalts, die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, der Armut und Einkommensungleichheit müssen in einem makroökonomischen Rahmen betrachtet und erfüllt werden.
Ich habe in diesem Haus auch schon mehrfach festgestellt, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Obergrenzen für den Haushalt zu gering sind. Dies gilt erst recht unter den Bedingungen einer um zehn Mitgliedstaaten erweiterten Union. Trotzdem aber wäre Sachsen-Anhalt mit einem generellen Entscheid, mit einer Entscheidung über die finanzielle Vorausschau handlungsfähig gewesen.
Für die zwei Regionen Sachsen-Anhalts, die weiterhin die höchste Förderung erhalten, und für die Region Halle, die Übergangsregelungen für die Regionen erhalten soll, die aus statistischen Gründen aus der Ziel-1-Förderung herausfallen, hätten die konkreten Planungen beginnen können. Das ist jetzt noch nicht möglich.
Zudem war in dem nun verworfenen Kompromisspapier der luxemburgischen EU-Präsidentschaft für Ostdeutschland ein Sonderbonus vorgesehen. Regionen mit einer Arbeitslosenquote von 16 % und mehr sollten pro Arbeitslosen eine Sonderhilfe von 700 € erhalten. Dies wären für Sachsen-Anhalt für die gesamte Förderperiode rund 152 Millionen € gewesen. Das mag manchem angesichts anderer dreistelliger Millionensummen, die wir jährlich im Haushalt hin und her schieben, ohne nach nachhaltigen Arbeitsplätzen zu fragen, nicht viel erscheinen. Aber es wäre eine Möglichkeit gewesen, bestimmte Beschäftigungsprojekte fortzusetzen. Aber all das war in Brüssel von den Regierenden - nicht nur von Blair nicht - nicht gewollt.
Das Scheitern der Haushaltsverhandlungen erschwert die ohnehin nicht einfache Planung der kommenden Förderperiode. Das Land hat keine Planungssicherheit und auch die Auszahlung der Mittel kann sich verzögern. Damit kann es auch Verzögerungen für verschiedene Programme geben, wie es sich in der Vergangenheit gezeigt hat.
Nun könnte man sagen: Warum diese Aufregung? Bis zum Beginn der neuen Förderperiode sind es noch anderthalb Jahre. Auch die Mittel für die gegenwärtige Förderperiode wurden erst auf dem Frühjahrsgipfel 1999 in Berlin verabschiedet. Die Zeit bis zum Beginn der Förderperiode im Januar 2000 erwies sich dann allerdings als zu kurz, um alle Vorhaben rechtzeitig startklar zu machen.
Sieht man sich den Zeitplan der britischen Präsidentschaft an, so kann man feststellen, dass der Allgemeine
Rat erst am 3. Oktober das erste Mal zusammentrifft und die nächste Zusammenkunft der Europäischen Rates für den 27./28. Oktober vorgeschlagen wird. Blairs Ambitionen gehen also kaum in die Richtung, die Krise der EU schnell zu überwinden.
Allerdings hat die Kommission am Dienstag dieser Woche die strategischen Leitlinien der Gemeinschaft für Kohäsionspolitik angenommen. Diese behalten aber Entwurfscharakter, bis die finanzielle Vorausschau vom Rat beschlossen wird. Ohne den von allen Beteiligten abgesegneten Finanzrahmen lassen sich nun einmal keine rechtsverbindlichen Verordnungen für die Verwendung der Mittel aus den Strukturfonds verabschieden.
Anhand der strategischen Leitlinien der Kommission können und müssen die Länder zumindest Schwerpunkte und Projekte planen. Aber ob diese dann den Anforderungen entsprechen, steht zunächst in den Sternen. Trotzdem sollte dieser Vorlauf schnellstens in Gang gesetzt werden; denn niemand weiß, wann es in Brüssel so richtig weitergeht. Wenn es erst im Laufe der österreichischen Präsidentschaft im nächsten Jahr weitergeht, sind wir mitten in den Vorbereitungen für die Landtagswahl bzw. bei der Neuaufstellung des Landtages.
Unabhängig von der Krise der EU und den damit verbundenen Unwägbarkeiten muss die Landesregierung einen entsprechenden Planungsvorlauf schaffen, der möglicherweise noch entsprechend den aktuellen Zahlen und Anforderungen verändert werden kann.
Wir haben bereits in der vergangenen Sitzung beschlossen, dass sich der Landtag aktiv in diesen Prozess einbringt. Daran sollten wir trotz aller Zeitprobleme und Wahlen festhalten; denn auch von uns und von unserer Politik wird es abhängen, ob die Bürgerinnen und Bürger die EU annehmen, weil sie eine soziale, demokratische und friedliche Union ist, oder ob sie sie ablehnen, weil die Union nur die Tarnung für eine Freihandelszone ist. - Danke.
Vielen Dank, Frau Dr. Klein. - Meine Damen und Herren! Nun hat für die Landesregierung Herr Staatsminister Robra um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir angesichts der Katastrophe, die über London gekommen zu sein scheint, schwer, jetzt über die vergleichsweise banalen Probleme der EU zu sprechen und den insofern notwendigen Optimismus zu vermitteln. Gleichwohl will ich es tun und mich dabei auf das Wesentliche beschränken.
Meine Damen und Herren! In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament zur Einschätzung der Ergebnisse des Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005 konstatierte ein erkennbar frustrierter Jean-Claude Juncker, dass das Scheitern einer Einigung über die finanzielle Vorausschau für den Zeitraum von 2007 bis 2013 „normalerweise nur ein Wegeunfall“ gewesen wäre. Allein durch die Verknüpfung mit den gescheiterten Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden komme darin eine tiefe Krise und
„Wir alle sind aufgerufen, Antworten zu geben, wie wir die Unterstützung für das europäische Projekt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger stärken können. In diesem Sinne ist die Krise auch eine Chance.“
Lassen Sie mich zunächst auf den Verfassungsvertrag eingehen. In dem Verfassungsvertrag war, wie in allen Änderungen der europäischen Verträge zuvor, die Zustimmung aller Mitgliedstaaten nach den jeweiligen innerstaatlichen Regelungen vorgesehen. Nunmehr gilt es, die demokratischen Entscheidungen in zwei Mitgliedstaaten zu achten.
Dennoch ist damit eine schwierige Lage entstanden, die sich mit Korrekturen am Vertragstext allein wohl nicht wird lösen lassen. Umfragen von Euro-Barometer belegen, dass die Ablehnung des Vertragsentwurfs in Frankreich und in den Niederlanden aus äußerst unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Motiven zustande kam, die wir ernst nehmen müssen.
Mehr als 50 % der Franzosen, die mit Nein gestimmt haben, befürchten negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf den Arbeitsmarkt in Frankreich, 19 % war die Verfassung im wirtschaftlichen Sinne zu liberal, 16 % vermissten Aussagen zu sozialen Fragen und 18 % gaben an, damit ihrer Kritik am Präsidenten der Republik Ausdruck zu verleihen.
In den Niederlanden wiederum kritisierten 19 % einen Verlust an nationaler Souveränität, 13 % war Europa schlicht zu teuer, aber nur 7 % befürchteten negative Auswirkungen auf die nationale Wirtschaft und auf den niederländischen Arbeitsmarkt.
Diese Umfrageergebnisse bestätigen vor allem eines: dass es den Politikern in beiden Ländern nicht gelungen ist, den Bürgerinnen und Bürgern den tatsächlichen Inhalt des Verfassungsvertrages zu vermitteln und seine Instrumentalisierung für innenpolitische Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Unabhängig von der Beurteilung der Ursachen dafür müssen wir eingestehen: Der jetzige Verfassungsvertrag ist in der vorliegenden Fassung gescheitert - auch wenn sich manche Politiker noch gegen diese so einfache wie logische Einsicht wehren.