Protokoll der Sitzung vom 11.11.2005

Ich gehe aber stark davon aus, dass wir uns insbesondere nach dem März 2006, wenn es um das Umsetzen geht, mit diesem Thema beschäftigen werden; denn wir können diese Parallelstrukturen, die sich entwickeln und die inzwischen eine große Menge von Menschen betreffen, nicht ignorieren. Wir müssen eine Lösung dafür finden.

(Beifall bei der SPD und bei der Linkspartei.PDS)

Danke, Frau Budde. - Als letzter Debattenredner wird Herr Rauls für die FDP-Fraktion sprechen. Zuvor möchte ich Damen und Herren des Europäischen Bildungswerkes für Beruf und Gesellschaft e. V. Magdeburg bei uns begrüßen. Seien Sie willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den grundsätzlichen Ausführungen des Ministerpräsidenten, die ich gut nachvollziehen konnte, bleiben mir nur einige Ergänzungen.

Allein die für dieses Thema der Aktuellen Debatte gewählte Überschrift unterstellt, dass es Kräfte gibt - auch hier in Sachsen-Anhalt -, die bewusst die Kluft zwischen Arm und Reich ausweiten oder das zumindest zulassen. Für die Liberalen und die gesamte Koalition in SachsenAnhalt sage ich deutlich: Wir nehmen sehr wohl und bewusst soziale Verantwortung wahr und leiten davon unser Handeln ab.

(Zustimmung bei der FDP)

Wenn Sie, Herr Gallert, allerdings auf Deutschland verweisen, dann kann ich nur sagen: Für die bisherige rotgrüne Bundesregierung verwende ich mich nicht.

Ich möchte auf einige Punkte der Begründung zu der Aktuellen Debatte eingehen. Sie ist damit begründet worden, dass auf Bundesebene weitere Einschnitte bei den sozialen Sicherungssystemen und öffentlichen Finanzen angekündigt wurden. Damit ist sicherlich zu rechnen. Aus unserer Sicht ist deshalb ein Politik- und Paradigmenwechsel auf Bundesebene notwendig. Ich bezweifle allerdings, dass dazu die Weichen in ausreichendem Maße in die richtige Richtung gestellt werden.

Die bisher bekannt gewordenen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen in Berlin sind nach unserer Ansicht kaum geeignet, eine deutliche Belebung des Arbeitsmarktes zu bewirken oder notwendige Steuererleichterungen einzuleiten. Die Arbeitslosigkeit als eine Ursache sozialer Ungleichheiten und Spannungen ist nach unserer Auffassung auf diese Weise nicht deutlich zu reduzieren.

Natürlich begrüßen auch wir es, wenn die Leistungen für die ALG-II-Empfänger neu geregelt werden; die Höhe ist allerdings nicht nur ein Ost-West-Problem, sondern auch ein Problem regionaler Besonderheiten in den alten Bundesländern.

Im Zusammenhang mit diesem Thema begrüße ich ausdrücklich, dass Herr Minister Kley für die B-Länder das Bundessozialministerium aufgefordert hat, die Länder an der Auswertung der Neuberechnung des so genannten soziokulturellen Existenzminimums und der damit verbundenen Neufestsetzung der Regelsätze zu beteiligen.

Die Aktualität der Debatte wird auch damit begründet, dass Sachsen-Anhalt in besonderer Weise betroffen sei, weil ein überdurchschnittliches Armutspotenzial bestehe. Richtig ist sicherlich, dass eine Reihe von Bürgern in schwieriger finanzieller Lage ist und viele ihre Situation als unbefriedigend empfinden und Perspektiven vermissen.

Zur Begründung der Aktualität hat der Antragsteller auf die sicher als dramatisch zu bezeichnende Entwicklung in Frankreich verwiesen; allerdings konnte ich das als Anlass für die Debatte von Anfang an nicht nachvollziehen. Ich begrüße, dass viele in den letzten Tagen veröffentlichte Beiträge - nicht zuletzt das schon erwähnte Interview in der Ausgabe der „Volksstimme“ von gestern - deutlich machen, dass ein Vergleich unangebracht ist, da die Gefahr eines Konfliktes wie in Frankreich in Deutschland unwahrscheinlich ist. Herr Gallert hat diese Wertung kritisiert und gleich danach wieder relativiert.

Der Aufstand der Jugendlichen in Frankreich hat sicherlich andere Ursachen. Die Unterschiede zu der Situation in Deutschland sind in vielen Beiträgen in den Medien, aber zum Teil auch in den Redebeiträgen hier deutlich gemacht worden.

Nichtsdestotrotz nimmt die FDP-Fraktion die Frage der Integration von Migranten ernst. Deutschland und Sachsen-Anhalt müssen Integrationswilligen eine Chance bieten und sollten zugleich die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit einfordern.

Wir stellen uns der sozialen Verantwortung. Das Ergebnis, das wir dabei bisher erreicht haben, kann sich durchaus sehen lassen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Landespolitik in den letzten Jahren alles ihr Mögliche und Finanzierbare für die Beseitigung sozialer Unterschiede und Spannungen getan hat.

Herr Gallert, ich wäre gespannt, was dabei herauskäme, wenn sich einmal jemand die Mühe machen würde, Forderungen, die Ihre Fraktion in den letzten Monaten für die künftige Politik aufgestellt hat, in Euro zusammenzurechnen.

(Herr Gallert, Linkspartei. PDS: Gibt es massen- haft, Herr Rauls!)

Vielleicht haben Sie es selbst einmal gemacht. Ich wäre auf das Ergebnis wirklich gespannt.

(Herr Gallert, Linkspartei. PDS: Die Schätzungen liegen zwischen 70 Millionen und 3 Milliarden €!)

Es wird auch in den kommenden Jahren noch viel zu tun geben, um die hier aufgeworfenen Probleme zu verringern. Es gibt aus unserer Sicht aber keinen Grund, die Situation übermäßig zu dramatisieren und das Geleistete zu negieren. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Danke sehr, Herr Rauls. - Damit ist die Aktuelle Debatte - -

(Unruhe bei der Linkspartei.PDS - Herr Gallert, Linkspartei.PDS: Dürfte ich als Fraktionsvorsit- zender noch einmal das Wort ergreifen?)

- Ja. Bitte sehr.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich nehme jetzt noch einmal als Fraktionsvorsitzender das Wort zu dem Thema der Aktuellen Debatte.

Ich habe jetzt etwa 15 Minuten lang darüber nachgedacht, was Herrn Scharf zu der Rede, die er hier gehalten hat, getrieben hat. Mir sind dazu viele Gedanken gekommen; die meisten werde ich nicht äußern, zwei Dinge aber doch.

Erstens. Ich habe niemandem in diesem Land unterstellt, dass er das politische Ziel hat, soziale Polarisierungen voranzutreiben. Ich weiß, dass es nicht so ist, und ich weiß, dass es vor allen Dingen bei Ihnen, Herr Scharf, nicht so ist. Sie sind durchaus in der Lage, innerhalb Ihrer eigenen Partei für diese Dinge zu streiten.

Ich sage aber auch: Alle Statistiken, alle Analysen in diesem Land belegen, dass wir es mit einer sozialen Polarisierung zu tun haben, an der Achse des Einkommens,

an der Achse der Bildung und an der Achse des sozialen Kapitals. Davor werden wir nicht die Augen verschließen.

Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir hatten vor kurzem den Wohnungsverbandstag in Sachsen-Anhalt. Nach den offiziellen Begrüßungen gab es einen Vortrag von jemandem, der die Wohnungsgesellschaften in ihrem Marketing beraten hat. Er sagte als Erstes zu dem Thema: Eines muss Ihnen von vornherein klar sein: Es gibt zwei Marktsegmente, die wachsen, und eines, das schrumpft. Die beiden Marktsegmente, die wachsen, sind der Billigmarkt und der Markt am oberen Ende der sozialen Skala; der in der Mitte schrumpft. Diesbezüglich besteht Einigkeit und darüber diskutiert niemand mehr.

Wenn er das so sagt, dann dürfen wir solche Prozesse einfach nicht leugnen. Er ist auch kein Sozialist, weil er das sagt. Es sind einfach Marktanalytiker, die das ermittelt haben.

Die Politiker sind nicht nur für das zur Verantwortung zu ziehen, was sie wollen. Die Politiker sind für das zur Verantwortung zu ziehen, was sie bewirken. Das ist wie im richtigen Leben: Nicht der Wille, sondern die Wirkung ist entscheidend.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Deswegen sind wir sehr wohl dafür zur Verantwortung zu ziehen, wenn sich soziale Polarisierungsprozesse abspielen.

Mit einem zweiten Gedankengang möchte ich enden. Ich habe mich gefragt, warum Sie so aggressiv und auch auf mich persönlich reagiert haben. Dahinter steckt natürlich ein Stück weit System: Es wird versucht, in dieser Bundesrepublik - das erleben wir seit den Hartz-IV-Protesten - eine gewisse Tabuisierung in der politischen Diskussion über soziale Problemlagen zu erreichen. Das haben wir erlebt.

Wir haben genau diese Situation auch in dieser Debatte erlebt. Natürlich hat Frau Budde Recht: Wir haben über die sozialen Problemlagen gesprochen und nach mir hat Herr Böhmer über Zahlen gesprochen. Wir wissen, dass wir auch über Zahlen sprechen müssen. Aber wenn wir den Eindruck gewinnen, dass in dieser Bundesrepublik, so auch bei den Koalitionsverhandlungen zurzeit, nur über Zahlen gesprochen wird, dann werden wir uns das Recht herausnehmen, über die sozialen Problemlagen zu sprechen, die dahinter stehen.

(Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

- Herr Tullner, warten Sie doch ab!

(Herr Tullner, CDU: Sie haben aber nicht das Monopol darauf!)

- Sie können doch gern darüber sprechen. Aber die Frage ist: Wer außer uns hat denn eine Debatte dazu beantragt?

Ein letzter Satz zum Wahlkampf.

(Herr Wolpert, FDP: Das ist billig! - Weitere Zuru- fe von der FDP)

- Warten Sie doch ab! - Zum Wahlkampf. Die letzte Bundestagswahl hat sich - im Gegensatz zu vielen Erwartungen - genau an der Frage der sozialen Erwartung und der sozialen Positionierung in der Gesellschaft entschieden. Das war so. Das hat die SPD und unwahrscheinlich geschickt und gut gemacht. Das hat die Schwarz-Gelben

die zu einer Regierung nötige Mehrheit gekostet, die sie vorher in den Umfragen hatten. Deswegen haben wir jetzt eine große Koalition.

Wir sagen ausdrücklich: Wenn es möglich ist, die sozialen Auswirkungen politischer Aktionen - so hat es die SPD getan - auf eine Familie mit einer Krankenschwester und einem Facharbeiter denen auf einen Unternehmensberater oder meinetwegen einen Selbständigen gegenüberzustellen,

(Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

dann werden wir uns in diese Diskussion hineinbegeben und fragen: Wie wirkt das auf Hartz-IV-Empfänger? Wie wirkt das auf diejenigen, die ganz am Rand dieser Gesellschaft sind? Das lassen wir uns nicht wegnehmen und das lassen wir uns auch nicht tabuisieren, Herr Scharf. - Danke.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Damit ist die Aktuelle Debatte beendet und wir verlassen den Tagesordnungspunkt 3.