Protokoll der Sitzung vom 11.11.2005

Die von den Regierungsfraktionen befürwortete Differenzierung zwischen geheimer und anonymer Geburt lehnen die Oppositionsfraktionen ab. Sie schätzen den Schutz des Lebens gegenüber dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft als höherrangig ein. Die vorgeschlagene Einführung einer Beratungspflicht halten die Oppositionsfraktionen ebenfalls für eine zu große Hemmschwelle, die Frauen davon abhalten würde, anonym zu entbinden.

Der Ausschuss für Recht und Verfassung verabschiedete mit 7 : 6 : 0 Stimmen eine vorläufige Beschlussempfehlung an den mitberatenden Gleichstellungsausschuss in der Fassung des von den Regierungsfraktionen vorgelegten Änderungsantrages. Der Ausschuss für Gleichstellung, Familie, Kinder, Jugend und Sport befasste sich mit der Legalisierung der anonymen Geburt in Deutschland in seiner 36. Sitzung am 18. März 2005 und schloss sich der vorläufigen Beschlussempfehlung mit 6 : 5 : 0 Stimmen an.

Daraufhin befasste sich der Ausschuss für Recht und Verfassung in seiner 43. Sitzung am 26. Oktober 2005 erneut mit dem Antrag der Fraktion der PDS und verabschiedete mit 7 : 5 : 0 Stimmen die Ihnen in der Drs. 4/2453 vorliegende Beschlussempfehlung an den Landtag. Ich bitte den Landtag im Namen des Ausschusses, der Beschlussempfehlung zuzustimmen. - Danke.

(Zustimmung bei der FDP, von Herrn Schröder, CDU, und von Herrn Kurze, CDU)

Vielen Dank, Herr Wolpert. - Nun erteile ich Herrn Minister Becker das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Der Berichterstatter hat über den Gang der Beratungen sehr

ausführlich berichtet, sodass ich mich relativ kurz fassen kann. Meine Position und die der Landesregierung ist bekannt. Ich habe mich mit Nachdruck - das ist auch die Auffassung der Landesregierung - für einen von BadenWürttemberg in den Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf eingesetzt und im Februar dieses Jahres aufgrund der Beratungen im Ausschuss und der Anhörung die Kolleginnen und Kollegen in den einzelnen Bundesländern nochmals um die Unterstützung des Vorhabens ersucht und ihnen dabei das Ergebnis der Anhörung im Ausschuss für Recht und Verfassung zukommen lassen.

Indes war die Resonanz auf mein Schreiben - das muss ich leider feststellen - eher verhalten. In diesem Zusammenhang räume ich ein, dass die Zahl der Kindesaussetzungen und Kindestötungen trotz der Einführung etwa der Babyklappe bundesweit im Wesentlichen unvermindert ist. Ich kann daher auch nicht verlässlich prognostizieren, dass sich mit der Zulassung etwa der anonymen Geburt die Zahl der Kindesaussetzungen und der Kindestötungen verringern wird.

Ich erkenne auch, dass die Babyklappe in ihrer Wirkungsweise der anonymen Geburt sehr nahe kommt, möglicherweise aber das psychologisch niedrigschwelligere Angebot für die betroffenen Frauen ist. Trotzdem bin ich nach wie vor der Auffassung, dass die Legalisierung der anonymen Geburt eine Chance ist, Abtreibungen zu vermeiden sowie Kindesaussetzungen und Kindestötungen zu verhindern. Auf diese Chance sollten wir nicht ohne Not verzichten. Jedes gerettete Leben, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wäre ein Erfolg.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Budde, SPD)

Ich werde mich daher auch in Zukunft dafür einsetzen, dass der in den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf des Landes Baden-Württemberg zur Regelung der anonymen Geburt weiterverfolgt wird. Gegenwärtig sehe ich für die Einbringung dieses Entwurfs in den Bundestag keine Mehrheit im Bundesrat. Ich hoffe aber, dass sich eine breitere Unterstützung erreichen lässt, wenn es mir gelingt, die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Bundesländern zu überreden, dieses Gesetz von vornherein zeitlich zu befristen, um damit eine gewisse wissenschaftliche Evaluierung dieses Gesetzes zu erreichen. Dann kann erneut darüber diskutiert werden, ob dieses Gesetz weiter Anwendung finden soll oder nicht.

So gesehen bin ich dankbar für die Unterstützung, die die Regierung durch die Diskussion und durch die Anhörung im Rechtsausschuss auf diesem Gebiet erhalten hat. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Vielen Dank, Herr Minister Becker. - Die Debatte beginnt mit dem Beitrag der SPD-Fraktion. Es spricht Frau Grimm-Benne. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Wolpert hat es vorhin schon gesagt: Der SPD-Fraktion muss die Beschlussempfehlung des Ausschusses zum Antrag zur Legalisierung der anonymen Geburt leider ablehnen. Ich möchte ausdrücklich klarstellen, dass wir uns grundsätzlich für die Legalisierung

aussprechen. Wir lehnen aber ausdrücklich den in der Beschlussempfehlung vorgeschlagenen Weg ab, der eine Pflichtberatung der Frau vorsieht.

Die Diskussion über die Legalisierung der anonymen Geburt, die wir im Ausschuss für Recht und Verfassung geführt haben, hat gezeigt, dass es aus rechtlicher Sicht sehr schwierig ist, eine gesetzliche Regelung zu finden. Es wird in Rechtspositionen der Eltern und der Kinder in gravierender Weise eingegriffen. Auf der einen Seite steht das Recht eines jeden Menschen auf Kenntnis seiner biologischen Abstammung, auf der anderer Seite das Leben des betroffenen Kindes.

Darum geht es: Durch die Legalisierung der anonymen Geburt soll verhindert werden, dass Frauen Kinder in der Illegalität gebären und zum Äußersten greifen und aus der Notsituation heraus ihre Kinder möglicherweise aussetzen oder umbringen. Es geht auch um die Gesundheit der Mütter, die bei der Legalisierung der anonymen Geburt ärztliche Hilfe und medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können.

Kommen wir zu dem Punkt in der Beschlussempfehlung, an dem wir Anstoß nehmen, der Pflichtberatung. Ein Beratungsangebot wird auch von der Bundestagsfraktion der SPD begrüßt, eine Beratung, die der Frau Alternativen und Perspektiven aufzeigt. Dabei soll es sich aber eben um ein Beratungsangebot handeln und nicht um eine Pflichtberatung.

Man darf bei der Diskussion nicht vergessen, dass es sich um Frauen handelt, die sich in Not- und Konfliktsituationen befinden. Vergegenwärtigt man sich diese Situation, wird durch die Forderung nach einer Pflichtberatung die Schwelle für diese Frauen erhöht, sodass die eine oder andere von dem Angebot der anonymen Geburt Abstand nehmen wird.

Die Frau muss sich nach dem Gesetzentwurf, der im Bundesrat liegt, eine Bescheinigung über die Beratung geben lassen und diese bei der anonymen Geburt vorzeigen - dies alles in einer absoluten Notsituation für die Frau. Da wir dies für falsch erachten und damit die gesamte Legalisierung der anonymen Geburt gefährdet sehen, lehnen wir eine Beschlussfassung in der vorliegenden Form ab. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD, von Frau Bull, Links- partei.PDS, und von Herrn Dr. Thiel, Linkspar- tei.PDS)

Vielen Dank, Frau Grimm-Benne. - Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Stahlknecht.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 40 bis 50 Kinder werden Schätzungen zufolge pro Jahr in Deutschland nach der Geburt ausgesetzt; nur etwa die Hälfte von ihnen überlebt. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen. Dies sind Tatsachen, die uns alle erschrecken, die uns aber auch mit Eindringlichkeit vor Augen führen, dass wir den betroffenen Frauen Hilfe und Unterstützung anbieten müssen. Hierüber besteht - dessen bin ich mir sicher - parteiübergreifend Konsens, sodass wir die Frage des Ob auch hier nicht weiter vertiefen müssen.

Wir dürfen aber mit der gut gemeinten Absicht, bestehendes Unrecht zu beseitigen, so denke ich, nicht neues

Unrecht schaffen. Während das Ob einer Regelung von allen Parteien für erforderlich gehalten wurde, war die Frage der konkreten Ausgestaltung der notwendigen Hilfe für die in Not geratenen Frauen im Ausschuss umstritten.

Der von der PDS-Fraktion ursprünglich vorgelegte Antrag war unserer Ansicht nach nicht ausgewogen, weshalb ihm die Koalitionsfraktionen mit einem Änderungsantrag begegnet sind, der sich inhaltlich in der heute zur Beratung anstehenden Beschlussempfehlung wiederfindet.

Der Antrag der PDS-Fraktion enthielt keine verbindliche Regelung darüber, wie das verfassungsrechtlich garantierte Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung gesichert werden sollte. Er ließ damit die durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich entworfene neue Rechtslage auf europäischer Ebene außer Acht. Der Antrag der PDS-Fraktion war darüber hinaus insgesamt zu undifferenziert. Er enthielt keine Güterabwägung zwischen den verschiedenen betroffenen Rechten und Interessen.

Ganz anders verhält es sich mit unserer Beschlussempfehlung. Diese enthält nach Auffassung der CDU ein an der Intensität der Konfliktlage der Mutter orientiertes abgestuftes Modell, das zwischen einer geheimen und einer anonymen Geburt differenziert. Eingerahmt ist das Konzept durch eine Beratungspflicht sowie durch die Herausstellung der Persönlichkeit des Kindes.

Lassen Sie mich die Kerngedanken des Gesetzentwurfes der Landesregierung von Baden-Württemberg, auf den wir Bezug nehmen, kurz erläutern. Ein wesentlicher Kern dieses Gesetzentwurfes ist die Regelung der Pflichtberatung der werdenden Mutter. Wir glauben, dass sich die extreme Konfliktlage, in der sich die schwangere Frau befindet, nur durch eine Verzahnung verschiedener Institutionen am effektivsten bewältigen lässt. Viele der in der Anhörung befragten Institutionen räumten der Beratung der in einer Konfliktlage befindlichen Frau einen enormen Stellenwert ein.

(Zustimmung bei der CDU)

Sie konnten sogar berichten, dass sich der größte Teil der Frauen nach einer solchen Beratung für eine offene Adoption entscheiden konnte.

Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist ein Stufenmodell, das die geheime Geburt und nur im extremen Konfliktfall die gänzlich anonyme Geburt ermöglicht. Bei einer geheimen Geburt prüft die Beratungsstelle die Not- und Konfliktlage der Frau, nimmt ihre Personenstandsdaten auf und übermittelt sie in einem verschlossenen Umschlag an das Standesamt. In diesem Fall erhält das Kind mit der Vollendung des 16. Lebensjahres ein Einsichtsrecht, das wiederum die Mutter unter bestimmten Voraussetzungen mit einem Veto ausschließen kann. Dieses Vetorecht kann die Mutter ab Vollendung des 15. Lebensjahres des Kindes ausüben.

Stellt die Beratungsstelle aber eine extreme Konfliktsituation fest, wird auf eine Aufnahme der Personenstandsdaten vollständig verzichtet, was zu einer anonymen Geburt führt. Wir halten dies für ein am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientiertes Modell, das geeignet ist, die Interessen sowohl der Mutter als auch des Kindes in einer feingliedrig ausdifferenzierten Weise zu berücksichtigen. Im Interesse der Mutter und des Kindes

bitte ich Sie um Zustimmung zu dieser Beschlussempfehlung. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Stahlknecht. - Nun bitte für die Linkspartei.PDS Frau von Angern.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Zunächst möchte ich skizzieren, warum meine Fraktion im Juni 2004, also vor nunmehr anderthalb Jahren, durch Frau Ferchland den Antrag zur Legalisierung der anonymen Geburt eingebracht hat. Zu den Zahlen brauche ich nichts mehr zu sagen. Herr Stahlknecht hat bereits Ausführungen dazu gemacht. Es ist tatsächlich so, dass die Dunkelziffer erheblich höher ist.

Vor dem Hintergrund einer subjektiv empfundenen Notlage oder Konfliktsituation setzen die Mütter ihre neu geborenen Kinder aus, die sie in der Regel ohne medizinische Hilfe entbunden haben. Interessant fand ich, dass die Vertreterin des Sterni-Parks e. V. in der Anhörung sagte, dass diese Frauen aus allen sozialen Schichten kommen.

Im Vordergrund stand deshalb für meine Fraktion, dass die Politik die rechtliche Möglichkeit für ein niedrigschwelliges und dadurch wirksames Hilfsangebot für schwangere Frauen schafft, die sich in extremen Notsituationen befinden, um damit zugleich Neugeborenen eine Chance auf Leben zu geben und sie vor einem schrecklichen Tod zu bewahren.

Weiterhin brauchen Frauen in diesen Konfliktsituationen dringend Rechtssicherheit. Die Anhörung im Ausschuss für Recht und Verfassung hat es gezeigt: Anonyme Geburten werden bereits jetzt praktiziert. Keine Schwangere kann in der Klinik zur Angabe ihrer Personalien gezwungen werden. Macht sie falsche oder keine Angaben, begeht sie eine Ordnungswidrigkeit, lässt sie ihr Kind nach der Entbindung allein zurück, macht sie sich strafbar.

Ein weiterer wichtiger Grund zu handeln war und ist die Situation im Bundesrat. Das Land Baden-Württemberg brachte im Juni 2002, also vor mehr als drei Jahren, einen entsprechenden Gesetzesantrag in den Bundesrat ein. Dieser Antrag ging durch die zuständigen Ausschüsse, wurde jedoch in der Bundesratssitzung am 24. September 2004 wieder von der Tagesordnung genommen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von unserer Kritik an der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses im Bundesrat und der heute zu behandelnden Beschlussempfehlung ist die Situation, dass dieses dringende Thema irgendwo in der Schublade verschwindet, nicht hinnehmbar. Ich bin froh darüber, dass dieses Thema heute öffentlich debattiert wird. Verehrte Abgeordnete von CDU und FDP, wird sollten aber auch in der Sache ein Stück weiterkommen.

Ich komme zu den Einzelheiten der vorliegenden Beschlussempfehlung. Eingangs möchte ich festhalten, dass ich es als positiv erachte, dass sich hinsichtlich des Problembewusstseins - das hat die heutige Debatte auch gezeigt - und der Problemwahrnehmung ein Konsens zwischen den Fraktionen abzeichnet. Es muss et

was getan werden. Die Frage ist nur wie. Und dort setzt unsere Kritik an.

Dabei möchte ich mich weniger auf die unbestrittenen, ebenfalls sehr wichtigen Fragen der Rechtsgüterabwägung zwischen Kind und Mutter, der in Abhängigkeit vom jeweiligen Einzelfall zu regelnden Vormundschaft sowie der Unterhalts- oder Erbschaftsregelungen beziehen. Diese Fragen haben wir wenn auch nicht geklärt, so doch bei der Einbringung unseres Antrages bereits ausführlich diskutiert. Diese Fragen sind sehr grundlegend und müssen eingehend geprüft werden.

Jedoch sollte dabei nicht das eigentliche Kernproblem übersehen werden, das da heißt: Wie wird der schwangeren Frau in Not am besten geholfen und vor allem auch dem Kind? – An dieser Stelle kann ich mir einen kleinen Seitenhieb in Richtung der Koalitionsfraktionen nicht verkneifen. Ich frage Sie: Was nützt dem Kind sein Recht auf Kenntnis seiner Herkunft, wenn es infolge von Unterkühlung oder Unterernährung stirbt?

(Oh! bei der CDU)

Unsere zentrale Kritik bezieht sich daher auf die Pflichtberatung als Voraussetzung für eine anonyme Geburt. In Artikel 1 § 2 der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verfassung des Bundesrates heißt es:

„Ziel der für eine anonyme Geburt erforderlichen Beratung ist, die zugrunde liegende Not oder Konfliktlage zu bewältigen.“

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass in einem einzigen Beratungsgespräch die individuelle und mitunter auch hochkomplexe Leidenssituation einer in Not geratenen schwangeren Frau bewältigt werden kann?