Protokoll der Sitzung vom 14.11.2002

Immerhin, Herr Ministerpräsident, haben Sie kürzlich eine Kurskorrektur angedeutet. Sie sprachen zwar weiterhin von freiwilligen Zusammenschlüssen, aber auch von Druck, weil Sie eingesehen hätten, dass Freiwilligkeit allein nicht ausreichen wird. Wie dieser Druck aussehen wird, darauf bin ich, darauf sind wir alle gespannt. Dann

rede ich wieder mit Ihren Kollegen, die wochenlang die Freiwilligkeit so gepriesen haben.

Außerdem sprachen Sie davon - wenn ich Sie richtig verstanden habe -, dass Sie sich die Verwaltungsgemeinschaften ansehen wollten und die effizientesten Strukturen als Maßstab nehmen wollten. - Herr Professor Böhmer, Sie müssen sich die Verwaltungsgemeinschaften gar nicht mehr ansehen. Lesen Sie die Antwort auf die Kleine Anfrage von Herrn Becker zur Verwaltungsgemeinschaftsumlage. Dann wissen Sie genau Bescheid. Die größten Verwaltungsgemeinschaften erheben eine Umlage von ca. 100 € pro Einwohner und Jahr und haben Einwohnerzahlen von 8 500 aufwärts. Die Umlagen kleiner Verwaltungsgemeinschaften liegen dagegen bei 170 bis 180 € pro Einwohner. Das ist die Aussage, das ist die Antwort, die Sie brauchen.

Oder ein anderes Beispiel aus Ihrer ersten Amtszeit: Das Innenministerium hat 1992 Vergleiche zwischen verschiedenen Kreisgrößen angestellt. Beim Vergleich von Landkreisen mit 120 000 Einwohnern und solchen mit 180 000 Einwohnern - in diesen Größenordnungen hat man einmal gedacht - war das MI zu dem Ergebnis gekommen, dass allein beim höheren Dienst in den Landkreisen landesweit pro Jahr 40 Millionen € eingespart werden könnten, wenn man Landkreise mit 180 000 Einwohnern schafft. Sind das keine überzeugenden Zahlen?

(Herr Gürth, CDU: Das glaube ich einfach nicht!)

Diese beiden Beispiele - größere Verwaltungsgemeinschaften und größere Landkreise - zeigen, welches Einsparpotenzial eine Kommunalreform bringt. Begreifen Sie dies endlich, meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, vor allem Sie, Herr Gürth.

Herr Ministerpräsident, seit dem Sommer konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Benchmarking-Report von Professor Seitz für Sie zur Bibel der Finanzpolitik Sachsen-Anhalts geworden ist. „Benchmarking“ ist das neue Modewort, der Ländervergleich die einzig entscheidende Politikkategorie. Man kann auch sagen, Benchmarking ist ein Apfel-und-Birnen-Kompott, wie der Innenminister es ausgedrückt hat.

Nur, bei der Frage Kommunalreform spielt der Benchmarking-Report, den ich übrigens wirklich gut finde, keine Rolle. An dieser Stelle greifen Sie das, was der Report enthält, nicht auf, sondern verschließen einfach die Augen.

Meine Damen und Herren! Ich komme nun zu einem Teil meiner Rede, dem Sie bitte besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Es geht um die Frage von Scheinheiligkeit und Amnesie. Auch Herr Gürth ist angesprochen. Es geht um die Frage, ob die schärfsten Kritiker der Elche früher selbst welche waren. Es geht des Weiteren um die Frage, was bedeutende Politiker dieses Landes in anderen Positionen gesagt und getan haben.

Sinngemäß sagte der Ministerpräsident kürzlich zum Thema Haushalt in Halle, dass er schon die vielen Demonstranten auf dem Domplatz sehen würde. Auch die Opposition - so spekulierten Sie vorwurfsvoll - würde ihre Proteste auf die Straße verlegen.

(Ministerpräsident Herr Prof. Dr. Böhmer: Das habt ihr doch heute früh gemacht!)

- Warten Sie doch einmal ab, ich bin noch nicht fertig. Herr Böhmer, sonst haben Sie so viel Geduld. Haben Sie ein klein wenig Geduld.

Ich frage Sie ernsthaft - jetzt kommen wir zu dem Punkt -: War das scheinheilig oder haben Sie vergessen, was die CDU in den vergangenen Jahren getrieben hat? Die größte Apo-Kampfgruppe im Lande, also die größte Kampfgruppe der außerparlamentarischen Opposition, war doch wohl Ihr heutiges Kabinett.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Ich kann mir so richtig vorstellen, wie sich Ihr Kabinett der verspäteten 68er zum Sit-in trifft und Erinnerungen austauscht, zum Beispiel an die 96er-Bürgermeisterdemo gegen die damals angestrebte Kürzung der Kommunalfinanzen. Wer hat diese Demonstration organisiert? - Der heutige Justizminister Becker.

(Zustimmung bei der SPD)

Wahrscheinlich schwärmt er heute noch beim Sit-in davon und erzählt, dass eine violette Baskenmütze, die er als Anführer damals trug, ins Museum für Deutsche Geschichte neben Joschkas Turnschuhe soll.

(Heiterkeit bei der SPD)

Minister Daehre wird berichten, wie er den damaligen Innenminister beschimpft hat, der vor ihm auf dem Podium stand. Innenminister Jeziorsky wird einwerfen: Und ich habe daneben gestanden und gelacht.

Herr Dr. Püchel, gestatten Sie eine Frage?

Am Ende, bitte.

Aus dem Hintergrund meldet sich dann noch ganz begeistert unser Kollege Gürth und ruft: Ich habe ein Plakat gehalten; neben mir stand Landrat Leimbach.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Worauf Frau Ministerin Wernicke erwidert: Das ist noch gar nichts; ich habe bei einer Demo auf dem Domplatz mitgemacht, als sechs Waldarbeiter entlassen werden sollten.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Herrn Schröder, CDU)

Als Letzter im Bunde meldet sich Staatsminister Robra: Ich war der Anwalt der Volksinitiative „Für die Zukunft unserer Kinder.“

(Heiterkeit und starker Beifall bei der SPD)

Ach ja, unsere alten Freunde von der Apo. Wahrscheinlich muss man bei der CDU erst einmal richtig Revoluzzer gespielt haben, bevor man Karriere machen kann. Da wage sich noch jemand, Sie als konservativ zu bezeichnen!

Meine Damen und Herren! Auf der gleichen Linie wie bei den Kommunalfinanzen liegt das, was die Landesregierung bei der Kinderbetreuung vorhat. Mit einem Schlag werden dem System 25 % der Geldmittel entzogen. Gleichzeitig gibt es Einschränkungen bei den Standards. Diese sind auf den ersten Blick moderat. Es geht um die Verkürzung der Öffnungszeiten um eine Stunde, um die

Erhöhung des Betreuungsschlüssels um ein Kind in den Kindergärten und um Abstriche bei den Raumgrößen.

Weitaus gravierender - jedenfalls auf mittlere Sicht gesehen - ist die De-facto-Abschaffung des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz.

(Beifall bei der SPD)

Das ist der Ausdruck einer Zurück-an-den-Herd-Politik, die eigentlich auch CDU und FDP programmatisch überwunden haben sollten.

(Minister Herr Kley: Das stimmt doch nicht!)

Ich frage Sie, mit welchem Recht teilen Sie junge Eltern in Gut und Böse ein. Böse ist nach Ihrer Lesart die Mutter, die keinen Job hat und sich dennoch für eine Krippenbetreuung entscheidet.

(Minister Herr Kley: Das stimmt doch gar nicht! - Zurufe von der SPD und von der PDS: Doch!)

Dafür kann sie viele gute Gründe haben, aus denen sie nach unserer Auffassung selbst entscheiden sollte.

Sie haben keinen Grund zu schreien, Herr Kley. Erinnern Sie sich daran, was Sie im Sommer alles gesagt haben, und bleiben Sie erst einmal ruhig.

(Beifall bei der SPD)

Die Mutter kann gute Gründe haben und sollte selbst über die Frage der Betreuung entscheiden. Familienfreundliche Politik heißt eben nicht, Zwang auszuüben, sondern familienfreundliche Politik besteht darin, Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Dafür steht die SPD.

(Herr Gürth, CDU, und Frau Feußner, CDU: Die haben sie doch!)

- Ja, die Wahlmöglichkeit besteht in der Frage, zahlen oder nicht zahlen.

Aber zurück zu den finanziellen Auswirkungen. Was Sie erreichen werden, ist eine brutale Lastenverschiebung hin zu den Kommunen, hin zu den Eltern. Die Kommunen werden, gerade wegen der Kürzungen bei den allgemeinen Zuweisungen, wenig Möglichkeiten haben, die Lasten aufzufangen, ebenso wenig wie die freien Träger. Das heißt im Klartext: Die Kommunen werden gezwungen sein, die Elternbeiträge zu erhöhen. Die Eltern werden mehr zahlen müssen, obwohl die Qualität der Betreuung sinkt.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Das Personal in den Kindertagesstätten darf nicht weniger werden; die Kinder werden es nämlich auch nicht. Der Betreuungsbedarf ist in den letzen Jahren wieder gestiegen, zum einen weil sich die Geburtenzahlen stabilisiert haben, zum anderen weil das Betreuungsangebot sehr gut und wertvoll ist. An dieser Stelle massiv einzuschneiden birgt die Gefahr in sich, dass entweder weniger Kinder geboren werden oder junge Leute sich mit Abwanderungsgedanken tragen. Hier geht ein weicher Standortfaktor im Lande verloren.

Meine Damen und Herren! Die SPD ist für einen anderen Weg: Schreiben wir das finanzielle Niveau der Kinderbetreuung fest. Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie Betreuung effizienter organisiert werden kann. Aber lassen Sie uns dann darüber nachdenken, wie wir die Effizienzrenditen wieder in die Zukunft unserer Kinder refinanzieren können.

Meine Damen und Herren! Schon heute kann ich ankündigen, dass auch andere Einschnitte so für uns nicht hinnehmbar sind. Ich denke dabei an die Kürzung des Blindengeldes und an die geplanten Einsparungen bei der Jugendarbeit. Ich meine damit auch den Unsinn, den Sie in Bezug auf die Lotteriezweckerträge vorhaben.

Wir werden uns im Laufe der kommenden Monate noch über viele weitere Fragen hoffentlich konstruktiv streiten. Die SPD wird dabei keine Fundamentalopposition betreiben, sondern in den Ausschüssen um Veränderungen bei einzelnen Positionen ringen. Wir werden kein Sammelsurium von Einzelforderungen aufmachen, das nicht bezahlbar ist, sondern uns auf die von mir genannten Schwerpunkte konzentrieren und auch nach Gegenfinanzierungsvorschlägen suchen.

Helfen wird uns dabei die Tatsache, dass wir in der Endphase der Haushaltsberatungen bereits den Mittelabfluss des Jahres 2002 berücksichtigen können. Ich appelliere an die Koalitionsfraktionen: Verweigern Sie sich nicht! Die Beratungen zum Nachtragshaushalt, in denen Sie alle Ihre Vorstellungen durchgepeitscht haben, dürfen nicht zum Vorbild für die Haushaltsberatungen werden.

Außerdem erwarten wir schon in Kürze von Ihnen, Herr Finanzminister, die Ergänzungsvorlage zum Haushalt. Sie haben der Presse gegenüber gesagt - wenn ich es richtig gelesen habe -, dass Sie noch keine Streichliste haben. Das verstehe ich allerdings nicht. Sie wussten seit Wochen, in welchen Größenordnungen gestrichen werden muss. Sie hätten bereits kreativ werden können und dem Landtag die ersten Vorschläge unterbreiten können.

Schade, ein noch besserer Finanzminister als Sie hätte garantiert heute schon die ersten Zahlen vorgelegt. Den Haushaltsberatungen jedenfalls würde es gut tun, wenn Ihre Vorschläge bald kämen. Sagen Sie uns, ob Sie an Stellschrauben wie Zinsausgaben, Bürgschaften oder globale Minderausgabe drehen wollen oder ob Sie den schweren Weg echter Einsparungen gehen wollen.