Protokoll der Sitzung vom 28.02.2008

Ich frage die Landesregierung:

1. Wie hat sich die Landesregierung Sachsen-Anhalts im Rahmen des Abstimmungsverfahrens der Kultusministerkonferenz verhalten?

2. Wie begründet sie ihr Abstimmungsverhalten?

Vielen Dank. - Herr Minister Professor Dr. Olbertz hat das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Landesregierung beantworte ich die Anfrage der Abgeordneten Birke Bull wie folgt, bitte aber um Verständnis, wenn ich die zweite Frage zuerst beantworte.

Die Kultusministerkonferenz hat über den von Ihnen erwähnten Übersetzungstext so und in Gänze gar nicht abgestimmt. Stattdessen hat das Sekretariat der KMK aber im August 2007 empfohlen, den Terminus „Integration“ zur Übersetzung des englischen Wortes „inclusion“ beizubehalten. In einem zweiten Schreiben wurde der Vorschlag unterbreitet, die Doppelübersetzung „Integration/Inklusion“ zu verwenden. Dazu sollten wir uns als Land - übrigens innerhalb von drei Arbeitstagen - äußern.

Gegen eine solche Doppelübersetzung gibt es verschiedene Gründe. Grundsätzlich gegen sie hatte sich auch der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes geäußert. Sie erscheint deswegen nicht notwendig, weil der Artikel 24 völlig unabhängig von dieser Übersetzungsfrage an drei verschiedenen Stellen übrigens ganz klar deutlich macht, was inhaltlich angestrebt wird, nämlich vor allem die Entfaltung der Selbstgewissheit, der Persönlichkeit, der Begabung, der Kreativität und die wirkliche Teilhabe behinderter Menschen an einer freien Gesellschaft.

Da es nicht ganz einfach ist - ich glaube, auch für die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten -, einen solchen Disput zu bewerten, der natürlich auch ein akademischer Diskurs ist, habe ich eine Parabel erfunden. Der Begriff „Integration“ setzt voraus und geht von Kindern aus, die ausgegrenzt sind und deshalb integriert werden sollen. Der Begriff „Inklusion“ dagegen geht von vornherein von Heterogenität und Diversität aus und entwickelt eine Pädagogik, die dies als einen Normalfall für alle bewertet. Das klingt zunächst überzeugend, macht

Integration in der Praxis aber nicht überflüssig, sondern setzt sie geradezu voraus.

Ein Beispiel: Wenn in einer Gruppe ein blindes Kind ist, dann kann man zunächst durchaus sagen, dass dieses Kind anders ist. Es hat ein besonderes Merkmal, das die übrigen Kinder nicht haben. Nun könnte ich entgegnen, dass dies nichts Besonderes sei; denn jedes Kind sei anders. Aber nicht jedes Kind ist blind.

Das heißt, egal wie ich es drehe oder wende, auch wenn ich Diversität und Heterogenität anerkenne, hebt sich dieses Kind hervor und ich kann ihm nicht helfen, wenn ich diesen Umstand ignoriere oder zerrede. Es bedarf besonderer Zuwendung für seine Integration.

Soll diese Integration mit dem Anspruch von Inklusion - und jetzt kommt es - gelingen, dann muss meine Aufmerksamkeit genauso den übrigen Kindern gelten; denn sie sollen dieses blinde Kind integrieren, ihm helfen, wo es nötig ist, aber auch von ihm lernen, wo es möglich ist. Von einem blinden Kind kann man übrigens eine Menge lernen.

Dasselbe gilt übrigens auch für die Diskussion um Kinder mit Migrationshintergrund. Sie zu integrieren, bedarf zugleich aber auch jedes Kindes. Das heißt, auch Kinder ohne Migrationshintergrund sind an dieser Stelle eine wichtige Zielebene der Integration; denn sie müssen in eine weltoffene, plurale und faire Gesellschaft integriert werden. Also darf sich auch dieser Integrationsgedanke nicht nur an das zu integrierende Kind mit Migrationshintergrund knüpfen, sondern muss sich an alle Kinder richten, die die Fähigkeit entwickeln müssen, sich gemeinsam in eine weltoffene, plurale, tolerante und faire Gesellschaft zu integrieren.

Wenn ich diesen Begriff von Integration verwende - und in diesem Sinne verwende ich den Begriff -, dann erübrigt sich eigentlich der Ersatzterminus. Denn es ist dann tatsächlich „inklusive“, um das Wort wieder zu verwenden, das im Deutschen übrigens wegen der Adjektivbildung immer wieder einmal Schwierigkeiten bereitet.

Denn der Umgang mit den Begriffen „inkludierende“ bzw. „inklusierende“ Pädagogik und den Begriffen „inklusiv“ und „exklusiv“ ist in unserem Sprechempfinden schwierig, und das wichtige Thema der Integration ist auch schwer vermittelbar, sofern ich das in diesen Kontext setze. Integration heißt „Einbindung“. Inklusion heißt „Einschließung“. Beide Begriffe haben an dieser Stelle im Grunde genommen dieselbe Intention.

Das heißt also, unter diesen Prämissen ist es sekundär, ob ich von „Integration“ oder von „Inklusion“ rede, zumal ein wissenschaftlicher Paradigmenstreit - ich hoffe nicht, ein akademischer Geltungsstreit; das ist nämlich noch etwas anderes - den Kindern herzlich egal sein dürfte, solange beide Termini auf das dasselbe Ziel hinauslaufen.

Zur zweiten Frage. Eine Abstimmung mit dem genannten Ergebnis von 13 : 3, auf welcher Ebene auch immer, ist uns nicht bekannt. Wir haben uns auch noch einmal bei der KMK vergewissert. Die Entscheidung über die Doppelbezeichnung - nur darum ging es - hat meines Wissens ein anders Ergebnis erbracht, nämlich eine weitaus höhere Anzahl von Ablehnungen.

Um konkret zu antworten: Wir selbst haben uns daran gar nicht beteiligt; wir haben die Frist verstreichen lassen, und zwar aus den Gründen, die ich zu erläutern versucht habe, weil es für uns eher ein Wortstreit ist. So

lange wir allerdings Integration so interpretieren, wie ich es eben versucht habe - auch Sie sprechen ganz unbefangen in vielen Reden in den Ausschüssen von „Integration“ und der Notwendigkeit, das zu leisten -, und wenn dies mit dem Anspruch auf Inklusion geschieht, dann können wir weiterhin getrost von Integration reden. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU)

Es gibt eine Nachfrage, Herr Minister. Frau Bull wollte dazu noch eine Frage stellen. Bitte schön. - Herr Minister?

Ich wollte dann wiederkommen.

Bleiben Sie doch stehen, dann verlieren wir nicht so viel Zeit.

Ich möchte das nicht zu einer akademischen Debatte machen. An dieser Stelle bin ich nicht weit von Ihnen entfernt. Mich interessiert aber Ihre Auffassung zur politisch-strategischen Diskussion in diesem Zusammenhang, weil wir gerade in bildungspolitischen Zusammenhängen zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Begriff „Integration“ - das haben Sie bereits angedeutet - auch ein Stück weit dadurch ruiniert ist, dass alles darunter zählt, um es einmal ein bisschen lax auszudrücken.

Insofern gibt es im politischen Bereich auch Stimmen, die sagen, wir brauchen einen neuen Begriff, um genau diesen Paradigmenwechsel, den Sie angedeutet haben, auch mit Begriffen zu signalisieren. Meine Frage: Wie beurteilen Sie die Notwendigkeit, gerade in der bildungspolitischen Debatte diesen anzugehenden Paradigmenwechsel, den Sie angedeutet haben, auch mit einem Begriffswechsel zu begleiten?

Frau Bull, Sie meinen, mit einem terminologischen Wechsel. Denn wenn ich sage, dass der Begriff im Wesentlichen übereinstimmt, dann - -

(Frau Bull, DIE LINKE: In Ihrer Auffassung! Nur in Ihrer Auffassung!)

- Ja, auch eine Auffassung, die ich - - Sie fragten nach politischer Strategiebildung usw. Das ist nicht nur meine Auffassung, das ist die Handlungsgrundlage in meiner politischen Verantwortung, den Terminus „Integration“ so zu verwenden.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass durch die Umbenennung eines komplexen Sachverhalts die Komplexität dieses Sachverhaltes nicht sinnvoll beherrschbar ist. Denn wenn ich von „zu inkludierenden Kindern“ rede, dann komme ich in ein sprachlogisches Dilemma.

(Zustimmung von Herrn Weigelt, CDU)

Wenn ich aber von „integrieren“ rede, dann weiß ich, wen ich gemeint habe. Wenn ich dann noch sage, nicht nur dieses Kind ist zu integrieren, sondern Integration ist eine Aufgabe für die lernende Gruppe in Gänze, von

beiden Seiten aus betrachtet, dann bin ich begrifflich bereits in der Ebene der Inklusion. Terminologisch würde ich aber gerne bei dem Wort bleiben, das sich eingebürgert hat und sich mitteilt.

Innerhalb dieser Begrifflichkeit gibt es eine sehr spannende Debatte, die ich mit Interesse verfolge und an der ich auch teilnehme.

(Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank. Es gibt eine weitere Frage. - Bitte schön, Herr Dr. Eckert.

Herr Minister, Sie haben ausgeführt - das kann ich auch unterstützen -, was Sie darunter verstehen. Auch in Ihrer Begründung haben Sie das zumindest am Anfang so gesagt. Sie haben an dem konkreten Beispiel mit dem blinden Kind deutlich gemacht, dass dieses Kind etwas Besonderes kann. Sie haben Gott sei Dank gesagt, auch die anderen können von diesem Kind lernen. Genau darum geht es uns. Es ist nämlich weder in der Verwaltung noch woanders deutlich, dass man auch von behinderten Kindern sehr viel lernen kann. Das meinte meines Erachtens auch Frau Bull, wenn sie sagte, mit einem Begriffswechsel wollen wir das deutlich machen.

Ich könnte einfach sagen: Das blinde Kind hört mit Sicherheit wesentlich mehr und wesentlich besser als viele andere. Das Kind hat auch etwas ganz Besonderes, sehr viel Positiveres. Das ist, glaube ich, in unserem Sprachgebrauch und auch in unserer Wirklichkeit wenig bekannt bzw. wird wenig akzeptiert. Deshalb würde ich die Bitte äußern, dass genau dieser Punkt, dass man gegenseitig lernen kann und gegenseitig lernen muss, um eine entsprechende soziale Kompetenz zu erwerben, ein ganz wichtiges Ziel ist.

Das war mehr eine Intervention oder eine Klarstellung. Wollen Sie antworten?

Ja. - Es ist tatsächlich so, dass wir jetzt über zwei verschiedene Dinge reden. Reden wir über einen terminologischen Anspruch, müssen wir klären, wie wir das Projekt, das wir im Auge haben, nennen wollen. Dabei kommen wir ganz schnell in die Untiefen akademischer Geltungsstreitigkeiten, die in Bezug auf die Ernsthaftigkeit des Themas bis zu einer wirklich problematischen Schwelle getrieben werden können. Wenn wir aber begrifflich nachdenken, reden wir von den Ansprüchen an gelingende Integration. Diese wiederum sind unter anderem inklusiver Natur. Das kann man gern tun.

Eine kurze Episode, wenn ich darf: Wir haben einen blinden Klavierstimmer. Er hat uns einmal zu sich nach Hause eingeladen, um etwas abzusprechen. Wir öffneten die Tür zu einer Diele - „Vorsaal“ sagt man in Magdeburg, glaube ich -, und hinter uns ging die Tür wieder zu. In der Diele war kein Fenster. Meine Frau und ich standen im Stockdunkeln. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Daraufhin sagte dieser Klavierstimmer: Ach, Entschuldigung, Sie brauchen ja Licht! - Dabei ist mir klar geworden, dass ich derjenige war, der eine Prothese

benötigte, ein Hilfsmittel, um mich zu orientieren, nicht dieser Klavierstimmer.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Deswegen habe ich ganz bewusst gesagt, Integration funktioniert nur, wenn voneinander gelernt wird und nicht nur eine einseitige Zuwendung erfolgt, die immerhin vorher Ausgrenzung voraussetzt. Das stimmt schon. Das gehört für mich aber alles in einen intelligenten und aufgeklärten Begriff - wohlgemerkt: Begriff - von Integration.

(Zustimmung von Herrn Scharf, CDU, und von Herrn Gürth, CDU)

Vielen Dank. Weitere Nachfragen sehe ich nicht.

Bevor ich zur nächsten Frage komme, begrüße ich Damen und Herren des Jugendförderzentrums Gardelegen. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Wir kommen zur Frage 3. Sie betrifft die Einhaltung der vorgeschriebenen Hilfsfrist im Rettungsdienst und wird vom Abgeordneten Herrn Markus Kurze gestellt. Antworten wird Ministerin Frau Dr. Kuppe. Bitte schön, Herr Kurze.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich frage die Landesregierung:

1. Wie ist die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Hilfsfrist im Rettungsdienstgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in den Jahren 2003 bis 2006 gewährleistet worden?

2. Hat es in diesem Zeitraum Fälle gegeben, in denen diese Frist nicht eingehalten wurde, und, falls ja, wie viele Fälle waren dies?