Protokoll der Sitzung vom 29.02.2008

Ich gelte ja als jemand, der relativ scharf diskutiert. Ich weiß gar nicht, weshalb ich diesen Ruf habe. Ich bin doch so ein liebenswürdiger Mensch.

(Heiterkeit)

Aber es ist offenbar so, dass ich gelegentlich einmal mitten in einer ziemlich feurigen Auseinandersetzung bin. Wenn ich darin an der einen oder anderen Stelle einmal über die Stränge geschlagen sein sollte, bitte ich Sie, das zu entschuldigen.

Ich habe eine kleine Ausrede dafür. Diese Ausrede lautet, dass ich wirklich glaube, dass die harte Sachauseinandersetzung und die harte politische Auseinandersetzung, übrigens auch die harte wissenschaftliche Auseinandersetzung - diese werde ich in der Zukunft wieder betreiben -, ganz wichtig sind für eine Gesellschaft, damit wirklich ein fruchtbarer Austausch mit Blick auf die Zukunft möglich wird.

Wenn man sich immer nur mit Samthandschuhen anfasst und immer gleich beleidigt ist, wenn es vielleicht einmal ein bisschen persönlich wird, kommen wir nicht weiter. Das müssen wir in der Politik eben gemeinsam wegstecken. Ich habe das des Öfteren weggesteckt. Ich habe, glaube ich, auch dem einen oder dem anderen zugemutet, das des Öfteren wegzustecken. Vielleicht haben wir dabei in unserer Gesellschaft noch einen kleinen Weg gemeinsam zu gehen.

Wissen Sie, wenn Sie sich die Situation in der späten römischen Republik einmal anschauen und Reden von Cicero lesen, werden Sie feststellen, dass es damals in der Politik viel härter zuging, sehr viel kraftvoller, auch was die persönliche Auseinandersetzung anging. Vielleicht bin ich ja 2 000 Jahre zu spät geboren. Ich weiß es nicht.

(Zuruf von Minister Herrn Prof. Dr. Olbertz)

Wir müssen aber gar nicht so weit zeitlich zurückblicken. Ein Blick in das britische Unterhaus, meine Damen und Herren, zeigt einem das ganz deutlich. Vor etwa 70 Jahren gab es dort einmal eine Auseinandersetzung. Damals ist eine Abgeordnete der Labour-Partei wutschnaubend von ihrem Platz aufgestanden und hat zu Winston Churchill gesagt:

(Herr Borgwardt, CDU: Ich dachte, sie hätte ins Mikro gebissen!)

Mr. Churchill, wenn Sie mein Mann wären,

(Zuruf von der CDU: Ach!)

dann würde ich Ihnen Gift in den Kaffee tun.

(Zuruf von der CDU: Nein! - Herr Kolze, CDU: Ach, nein! Der trinkt doch nur Tee!)

Daraufhin stand Winston Churchill auf und sagte: Gnädige Frau, wenn Sie meine Frau wären, dann würde ich den Kaffee trinken.

(Heiterkeit - Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren! Es gab im Unterhaus anschließend keinen Ordnungsruf. Vielleicht ist das ein Zeichen für die Freiheit der Rede und für das, was man in einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft braucht und atmen muss.

Meine Damen und Herren! Ich würde mich freuen, wenn Sie auch diesen Gedanken aufnehmen würden. Im Übrigen würde ich mich darüber freuen, wenn wir uns bei Gelegenheit nur ein paar hundert Meter weiter nördlich sehen würden. Sie sind herzlich eingeladen zu dem einen oder anderen Gespräch an meinem Lehrstuhl. - Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Herzlichen Dank, Herr Professor Paqué.

Meine Damen und Herren! Jetzt stimmen wir über den Antrag in der Drs. 5/1132 ab. Eine Überweisung ist nicht beantragt worden, sondern es soll über den Antrag selbst abgestimmt werden. Wer stimmt dem Antrag zu? - Das sind die Antragsteller. Wer stimmt dagegen? - Alle anderen. Damit ist dieser Antrag mehrheitlich abgelehnt worden. Damit ist der Tagesordnungspunkt 15 beendet.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17:

Erste Beratung

Wissenschaftliche Begleitung des qualifizierten Programms zur Schulsozialarbeit im Rahmen des ESFProgramms „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs 2007 bis 2013“

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/1129

Ich bitte nun Frau Fiedler, diesen Antrag einzubringen.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Herren und Damen! An Sie, Herr Professor Paqué, ein besonderes Dankeschön, dass Sie den Landtag zum Lachen gebracht haben - Lachen entspannt. Dadurch ertragen wir jetzt vielleicht den letzten Antrag und die letzte Dreiviertelstunde ein bisschen besser.

Meine Herren und Damen! Für das Schuljahr 2008/2009 läuft dieses neue Programm der Schulsozialarbeit an. Unser Antrag zielt darauf, dass die Landesregierung genau festlegen soll, wie dieses neue Programm der Schulsozialarbeit konkret wissenschaftlich begleitet werden soll. Dazu hat es Ankündigungen von Frau Ministerin Kuppe gegeben. Konkretes ist aber bisher nicht bekannt geworden.

Das vorherige Programm zur Schulsozialarbeit, das von 1998 bis 2003 lief, ist ebenfalls wissenschaftlich begleitet worden. Die Schlussfolgerungen daraus sollen im jetzigen neuen Programm umgesetzt werden. Das finden wir sehr löblich. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir ohne Zeitvergeudung auch diesmal ähnlich verfahren können.

Wir in der Fraktion verlieren natürlich nie die Hoffnung darauf, dass die Schlussfolgerungen aus solchen Programmen auch einmal verstetigt in die Schulpraxis umgesetzt werden und dorthin zurückfließen; denn oft ge

nug ist es so: Das Programm ist zu Ende und all das Gute, was es hervorgebracht hat, ist auch mehr oder weniger zu Ende.

Uns ist die Schulsozialarbeit sehr wichtig. Wir haben deshalb in dem Entwurf eines Schulreformgesetzes - Sie wissen, dass es bei uns bereitliegt - die Aussagen dazu, die im jetzt gültigen Schulgesetz in § 1 Abs. 4 Buchstabe a stehen, prononcierter formuliert. Sie können unser Schulreformgesetz auf unserer Homepage bzw. auf unserer Internetseite nachlesen. Herr Miesterfeldt hat heute früh gesagt, wie schnell man im Landtag dorthin finden kann. Übrigens finden Sie es dort in § 2 Abs. 11.

Auch der Koalitionsvertrag hat ein qualifiziertes Programm für Schulsozialarbeit angekündigt. Inzwischen ist dieses Vorhaben mit dem ESF-Programm - siehe Antragstitel; die lange Überschrift möchte ich nicht wiederholen - verknüpft worden. Das finden wir sehr vernünftig, weil dadurch 59 Millionen € in die Kassen fließen. Davon ist unseres Wissen eine gehörige Summe - mehrere Millionen Euro - nicht verplant. In der Haushaltsdebatte haben wir nachgefragt, was mit dieser Restsumme passieren soll. Darauf haben wir keine konkrete Antwort bekommen. Wir sind der Meinung, dass davon eine solche wissenschaftliche Begleitung bezahlt werden kann.

Übrigens ist eine Schlussfolgerung aus der wissenschaftlichen Begleitung des Programms zur Schulsozialarbeit von 1998 bis 2003, dass 14 Netzwerkstellen im Land eingerichtet werden. Ich denke, diese Netzwerkstellen haben auch eine andere Aufgabe, als die Schulsozialarbeit wissenschaftlich zu begleiten. Sie werden wohl mit Vernetzen und Verwalten mehr als ausgelastet sein, könnten uns aber vielleicht die Datenbasis für solche wissenschaftlichen Auswertungen liefern, wie sie uns vorschweben. Ich meine damit nicht die statistische Datenbasis für Schulversagen und vorzeitigen Schulabbruch - die Datenlage ist bekannt.

Ich nenne trotzdem einige Zahlen, um die Wichtigkeit unseres Antrages zu unterstreichen: Ich nutze jetzt die Angaben des Kultusministeriums aus dem Schuljahr 2006/2007. Danach verließen von 26 470 Schulabgängern - ich verwende bewusst keine Prozentzahlen, sondern die konkreten Zahlen - 6 257 die Schule unterhalb des Realschulabschlusses; das ist etwa jeder Vierte.

(Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Das heißt aber nicht erfolglos!)

- Das ist wohl wahr. - Und 2 768 von 26 470 Schülerinnen und Schülern verließen die Schule ohne Hauptschulabschluss; das ist etwa jeder Zehnte. Die wiederum kommen etwa zur Hälfte aus dem Sekundarschulbereich und aus dem Förderschulbereich und zu anderen Hälfte aus den Geistig-Behinderten-Schulen und aus den Lernbehinderten-Schulen. Aus den Letzteren kommen immerhin 1 110 Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss.

Freilich, ich könnte die Zahlen auch umdrehen, so wie ich das halbleere Glas auch als halbvoll ansehen könnte, und könnte sagen, mehr als 20 000 Schüler verlassen unsere Schulen mit einem Abschluss, also durchaus erfolgreich. Aber 2 768 Schulabgänger ohne Abschluss sind eben 2 768 zu viel.

(Zustimmung bei der LINKEN - Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Sie haben zum Teil einen Ab- schluss!)

Ich will mir nicht anmaßen, für unser gefordertes wissenschaftliches Programm der Landesregierung oder eventuell den künftigen Institutionen, die das tun könnten, Ratschläge zu geben. Aber Sie wissen vielleicht, dass ich noch sehr viel mit der Schulpraxis zusammenarbeite. Deshalb würde ich gern ein paar Beispiele dafür nennen, was man sich in der Schulpraxis wünscht, was also im Blickpunkt einer solchen wissenschaftlichen Begleitung stehen und in den Blick genommen werden könnte.

Es gibt bereits viele vorhandene Studien und Forschungsergebnisse. Diese wünschen wir uns einfach gebündelt und mehr für die Schule zugänglich gemacht, vielleicht sogar als Ergänzung oder als Unterstützung für Empfehlungen, die vom Bildungskonvent kommen sollen. Es gibt auch viele internationale und nationale Studien sowie Forschungsergebnisse; diese wünschen wir uns sachsen-anhalt-spezifisch aufbereitet. Zum Beispiel: Wo liegen in Sachsen-Anhalt die Wurzeln für Schulversagen und Schulabbruch? Wo beginnt hier die Misserfolgsspirale, die bei Insidern auch die Spirale der Angst genannt wird?

Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Die IgluStudie - das ist die Internationale Grundschul-LeseUntersuchung - hat den deutschen Viertklässlern einen relativ guten Platz im ersten Viertel der 45 Teilnehmerstaaten bescheinigt. Das heißt also, die Viertklässler, Zehnjährige, haben eine relativ gute Lesekompetenz. Damit meinen wir nicht, dass sie die Buchstaben kennen und wissen, welche Laute zu jedem Buchstaben gehören und wie man Worte ausspricht usw., sondern wir meinen damit, sie können Texte lesen, Texte in neue Zusammenhänge einordnen und sie können dem Text eine gewisse Handlungsanleitung entnehmen.

Die Pisa-Studie hat nach dem Desaster von 2000 in den letzten beiden Untersuchungen für Deutschland und auch für Sachsen-Anhalt Erfolge bescheinigt. Wir sind nach 2006 jetzt endlich in etwa auf dem OECD-Durchschnittswert angelangt. Die deutsche Besonderheit ist aber: Die Standardabweichung ist nirgendwo so groß wie bei uns. Das heißt, die Unterschiede zwischen den sehr guten und den schlechten Leistungen sind in Deutschland mit am größten.

Wir fragen uns in der Schule einfach: Was passiert denn zwischen dem zehnten und dem 15. Lebensjahr? Was ist da los, dass schulische Leistungen im Schnitt wieder absinken, dass Beherrschtes wieder verlernt wird, dass die Leistungsstarken zwar unter Umständen leistungsstark bleiben, vielleicht sogar besser werden, aber dass die Schwachen noch schwächer werden? Warum haben wir in Deutschland vier Millionen funktionale Analphabeten? Wie viele davon gibt es in Sachsen-Anhalt? Es wäre interessant, das zu erfahren. Warum lesen Jungen schlechter als Mädchen? Ist das in Sachsen-Anhalt auch so? Warum sind überhaupt mehr Jungen als Mädchen in den Schulen gefährdet? Ist das in Sachsen-Anhalt auch so?

Das alles müsste auf unser Bundesland bezogen einmal untersucht werden, ganz zu schweigen von dem, was uns seit Pisa immer wieder ins Hausaufgabenheft geschrieben wird, nämlich der auffällige Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg.

Was uns an der Schulpraxis ebenfalls interessiert, sind zum Beispiel die Förderschulen. Warum haben wir in Sachsen-Anhalt den höchsten Anteil an lernbehinderten Schülerinnen und Schülern in Förderschulen? Er ist dop

pelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Wir haben vermehrt verhaltensauffällige Schüler. Wir haben vermehrt Schüler mit sozial-emotionalen Defiziten. Was steckt hinter solchen Lernbehinderungen? Sind sie organisch bedingt? Stecken äußere Einflüsse dahinter, die einfach nicht erkannt werden und auf die falsch oder gar nicht reagiert wird? Oder sind diese Schülerinnen und Schüler vielleicht gar nicht lernbehindert, sondern werden am Lernen gehindert? Zum Beispiel durch falsche Schulorganisation, durch lernhinderliche Unterrichtsmethoden usw., bis sie schließlich verhaltensauffällig sind.

Ich denke, wenn dort genauer hingeschaut würde, auch durch die Wissenschaft von außen, und wenn Schule durch optimale Bedingungen auch eine optimale individuelle Förderung leisten könnte, dann würden vermutlich viele Lernbehinderte in der Regelschule unter Umständen sogar bis zum Realschulabschluss kommen.

Warum geht dieser Prozess des integrativen Unterrichtens - gestern haben wir gehört, eventuell auch des inklusiven Unterrichtens - bei uns so schleppend voran? Individuelle Förderung und integratives Unterrichten sind in unserem Schulkonzept Schwerpunkte neben längerem gemeinsamen Lernen und polytechnischem Prinzip. Das wissen Sie. Übrigens finden Sie dieses Grundschulkonzept auch auf unserer Seite im Internet.

Ein letzter Schwerpunkt, den sich die Schulpraxis wünscht: Wie kann der Lernprozess selbst im Unterricht optimiert werden? Warum finden sich in der Praxis so wenige Beispiele dafür, dass Ergebnisse der Hirnforschung im Unterricht bewusst für das Lernen genutzt werden? - Plakative Antworten von Personen, die Schule nur als Schüler und später als Mutter oder Vater oder nur vom Schreibtisch her kennen, haben wir genug, und gegenseitige Schuldzuweisungen haben wir auch genug. Wir brauchen einfach jemanden, der vorurteilsfrei und lobbyistenfrei auf das System Schule schaut und herauszufinden versucht, warum Schule das, was sie fordert, zurzeit nicht leistet oder nicht leisten kann. Aber Schule muss das, was sie fordert, auch selbst leisten. Wer denn sonst?

(Beifall bei der LINKEN)

Dort sitzen die Profis. Wir können das nicht auf die Eltern abschieben. Natürlich sind wir Lehrer in der Schule froh, wenn wir Eltern haben, die das Lernen der Kinder zu Hause unterstützen. Wir können uns auch nicht damit zufrieden geben, dass der private Nachhilfeunterricht boomt, so sehr ich den Leuten dort ihre Arbeitsplätze gönne. Aber privat bezahlte Nachhilfe treibt die soziale Schere noch mehr auseinander.