Wenn ich zum Beispiel die Osterbotschaft - „Osterbotschaft“, was das allein schon suggeriert; ich denke an das „C“ - eines Unternehmens in Sachsen-Anhalt lese, in der der Geschäftsführer schreibt - das ist alles öffentlich zugänglich; das kann man hier ohne Probleme sagen -: Es gibt keinen Tarifvertrag mehr. Schluss mit den Machtspielen. Wer mir vertraut, kann nicht für Streik sein. - Und das in einer Osterbotschaft.
Das sind die Spielregeln, Herr Kolze, dass Tarifverträge in Unternehmen ausgehandelt werden. Stimmt’s, Herr Gürth? Eine der Säulen der sozialen Marktwirtschaft: Tarifgemeinschaften.
- Das geht doch gar nicht gegen Sie. Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen. Sie regen sich doch genauso darüber auf, wenn Sie das Problem in Ihrem Wahlkreis haben.
Pfingstbotschaften: Dank für die Bekenntnisse zum Geschäftsführer, aufopferungsvolle Unterstützung. - Also, meine Damen und Herren, davon wird mir übel.
Mich erinnert das ein wenig an die schöne Fabel vom Igel und vom Fuchs: Gebt mal am Eingang eure Waffen ab; die Stachel ziehen wir euch, die gesetzlichen Möglichkeiten, eure Arbeitnehmerrechte wahrzunehmen, dafür ein bisschen aufopferungsvoll und ich sorge dann für euch. - Das ist doch nicht die soziale Marktwirtschaft. Das sind doch nicht die Regeln, die wir in unseren Betrieben wollen. Aber dahin ist es in einigen Betrieben gekommen, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trauen sich nicht, sich zu wehren. Sie laufen dem nach.
Herr Gürth, Sie haben vorhin von Monopolen und Kartellen geredet. Kartelle wollten wir in der sozialen Marktwirtschaft nicht. Was ist aber, wenn es nur noch ein Unternehmen in den entindustrialisierten Regionen gibt? Was ist das anderes als ein Monopol, als ein Kartell, das dann durch die Geschäftsführung Druck auf die Arbeitnehmer ausüben kann, sodass sie ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen? - Das sind die besorgniserregenden Tendenzen, die man auch ansprechen muss, die man nennen muss und denen man eigentlich nicht einfach zugucken darf.
Ich will aber noch einmal ganz kurz von dem Hier und Heute weggehen und einen kleinen Rückblick auf das 60-jährige Bestehen der sozialen Marktwirtschaft halten, einen kleinen Schwenk in die Vergangenheit machen.
Die Errichtung der sozialen Marktwirtschaft ging - Sie haben Recht - keineswegs konfliktfrei vonstatten. In der
Geburtsstunde der sozialen Marktwirtschaft gab es anfangs erbitterte Kritik vonseiten der politischen Linken und der Gewerkschaften; so heißt es ja auch richtig in der Begründung der heutigen Aktuellen Debatte. Gemeint ist wohl meine eigene Partei, die Sozialdemokratie, die damals vehement für eine Planwirtschaft in Deutschland gestritten hat. Bei der Vorbereitung auf die heutige Debatte bin ich dann aber auch auf etwas gestoßen, was ich sehr bemerkenswert finde. Kleines Zitat:
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen der Menschen nicht gerecht geworden. Inhalt und Ziel einer sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen des Landes sein.“
„Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist. Planung und Lenkung werden auch in normalen Zeiten der Wirtschaft in gewissem Umfang notwendig sein.“
Ja, das brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen; keine Angst, nicht Wiedereinführung der sozialistischen Planwirtschaft. Die hat ihren Praxistest in 40 Jahren wirklich gegen den Baum gefahren.
Sie haben natürlich Recht, das Zitat stammt nicht von der SPD, auch nicht von der Linksaußen in der Nachkriegszeit, sondern aus dem Ahlener Programm der CDU und war als Grundlage des christlichen Sozialismus gedacht. So etwas gab es in der CDU mal.
Es wäre schön - ich formuliere das als Wunsch -, wenn Sie einiges davon für heute aufheben und bewahren würden.
Leider ist das genauso Geschichte wie die Düsseldorfer Thesen von Ludwig Erhard, die den Grundstein für die Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik gelegt haben.
Ich will Sie für die Situation in den Unternehmen gar nicht für schuldig erklären. Ich will Sie doch nur daran erinnern, was mal Grundlage war, und sage, dass ich auf dieser Basis sehr gern mit Ihnen noch intensiver zusammenarbeiten würde, als ich das heute schon tue.
Keine Geschichte ist allerdings der damalige Leitgedanke, der hinter der sozialen Marktwirtschaft stand. Es ging um das Beschreiten des dritten Weges, eines dritten Weges zwischen Planwirtschaft auf der einen Seite und radikaler Marktwirtschaft auf der anderen Seite.
Erinnern Sie sich an die aktuelle Debatte vom letzten Mal zum Armutsbericht? - Da ist er wieder, unser dritter
Weg. Wir brauchen ihn nämlich. Der Leitgedanke ist heute immer noch aktuell. Man würde ihn in zeitgenössischer Terminologie vielleicht als dritten Weg zwischen sozialistischer Mangelwirtschaft und wieder aufkommendem Raubtierkapitalismus bezeichnen. Aber er hat heute mehr denn je seine Existenzberechtigung.
Das Ergebnis sozialistischer Mangelwirtschaft hatten wir im Jahr 1989 klar vor Augen. Mit den Folgen haben wir heute noch zu kämpfen. Das ist so. Aber um zu wissen, was ein Raubtierkapitalismus ist, mit unkontrollierten Finanzspekulationen und seinen inzwischen Hungerlöhnen, bei denen die Menschen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können und der Staat zufinanzieren muss, weil sie ansonsten wirklich verhungern würden, brauchen wir nicht mehr weltweit zu gucken oder in die Dritte Welt oder sonst irgendwohin. Dafür reicht inzwischen der Blick vor die eigene Haustür.
Das ist das Schlimme daran: Die soziale Marktwirtschaft ist aus meiner Sicht von dem dritten Weg abgekommen. Wir müssen ihn wieder finden.
73 % der Bevölkerung - richtig, Herr Gürth; ich habe die Bertelsmann-Studie auch gelesen - halten die Verteilung von Einkommen und Vermögen im Land für ungerecht. Das ist schlimm.
Ein weiteres Ergebnis der Studie war, dass erstens Unternehmen nicht genug soziale Verantwortung übernehmen, dass zweitens Arbeit im Unternehmen zu wenig Anerkennung findet und dass drittens die Sozialpartnerschaft in den Betrieben aus der Balance geraten ist. Damit sind wir wieder beim Thema der heutigen Debatte.
Soziale Marktwirtschaft kann aus meiner Sicht nur verwirklicht werden, wenn sie das Vertrauen der gesamten Gesellschaft besitzt, das heißt wenn Unternehmer, Arbeiter, Angestellte, Verbraucher aktiv an ihrer Durchführung beteiligt werden. Na, Herr Tullner? - Düsseldorfer Leitsätze, Erhard.
Das schließt die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmer genauso ein wie die Verantwortung und die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das heißt Recht auf vernünftige Arbeitszeiten, das heißt Recht auf Arbeitsschutz, auf Kündigungsschutz, auf betriebliche Mitbestimmung, all das, was wir als Sozialdemokraten unter dem Begriff gute Arbeit zusammenfassen und fordern. Und dazu gehört zuallererst ein vernünftiger Lohn. - Ich kann mir vorstellen, dass ich einige damit schon nerve.
In der gleichen Studie wurde von einem Bürgerform - nicht von Wissenschaftlern oder von Statistikern: ich esse ein Huhn, dann haben beide ein halbes gegessen - folgende Forderung aufgestellt: Es sollte bundesweit ein einheitlicher Mindestlohn eingeführt werden, der es allen Arbeitnehmern ermöglicht, von ihrer Arbeit zu leben. Dem stimmten 56,3 % zu, weitere 25,2 % waren eher dafür. Das heißt, etwa 80 % sind für einen Mindestlohn in Deutschland. Die Menschen haben ein richtiges Gespür, ein richtiges Gefühl dafür, was gerecht ist.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle und auch heute wieder an Sie appellieren: Lassen Sie uns mit den
großen Mehrheiten, die wir im Land und im Bund haben, dafür Sorge tragen, dass das umgesetzt wird; denn nicht das Gefühl für die soziale Marktwirtschaft ist den Menschen verloren gegangen, sondern die Realität ist eine andere.
Im Wirtschaftsteil der „Frankfurter Rundschau“ wurde neulich eine wunderschöne Tabelle veröffentlicht. Es heißt immer: Exportweltmeister, Export Platz Nr. 1; Entwicklung der Unternehmensgewinne: Deutschland Platz 1. Gucken Sie einmal, bei welchen Parametern wir im letzten Viertel liegen. - Das ist nicht das Gefühlte, sondern das ist die Realität, in der die Menschen in diesem Land leben.
Entwicklung von Löhnen und Gehältern: ganz hinten in Europa. Lohndiskriminierung der Frauen: ganz vorn in Europa; diesbezüglich sind wir am größten. Entwicklung der Nachfrage privater Haushalte: vorletzter Platz. Entwicklung des Umsatzes des Einzelhandels: letzter Platz, trotz verlängerter Ladenöffnungszeiten.
Produktionsindex im Baugewerbe: drittletzter Platz. Langzeitarbeitslosigkeit: letzter Platz. Grundschüler, Bildungsausgaben: drittletzter Platz. So könnte ich das weiter fortführen.
Das ist die gefühlte Situation der Menschen. Wir müssen das ernst nehmen. Wir müssen es wirklich ernst nehmen, und zwar alle zusammen. Diesbezüglich hilft Populismus genauso wenig wie das Ignorieren der Situation und die immer wiederholte Aussage: noch liberaler, noch liberaler, noch liberaler, noch liberaler.
Ich habe wirklich Angst davor, wenn wir in der Politik auf bestimmte Situationen eingehen. Zum Beispiel beim Thema Leiharbeit haben wir als SPD gemeinsam mit den Gewerkschaften gesagt, wir öffnen hier etwas, wir ermöglichen unbefristete Leiharbeit, weil wir meinen, damit den Unternehmen für einen bestimmten Zeitraum helfen zu können, damit sie das bei Produktionsspitzen nutzen können und eine bessere Balance im Unternehmen haben. Wir mussten dann aber feststellen, dass das dauerhaft und verstetigt genutzt wird, dass 50 % bis 60 % der Belegschaften, zum Beispiel bei neu aufgebauten Standorten wie BMW Leipzig oder DHL, was wir als Ansiedlung alle toll finden, über Leiharbeiter gefahren werden.
Ein weiteres Beispiel ist, wenn wir die Ladenöffnungszeiten aufmachen und sagen: Ja, wir passen uns dem an; die Bedingungen sind anders; die Menschen wollen einkaufen; wir wollen nicht, dass sie abwandern, und was es alles für Argumente gibt. Aber kaum haben wir uns diesen Forderungen der Wirtschaft geöffnet, sagen die Arbeitgeber: Oh, jetzt müssen wir weniger bezahlen; denn jetzt stellen wir fest, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeiten arbeiten, in denen sie eigentlich Zuschläge bekommen würden.
An dieser Stelle müssen wir uns als Politik ernsthaft fragen, ob wir diese Öffnung, wenn sie diese Konsequenzen hat, so mittragen und das sanktionieren. Ich muss sagen: Ich habe meine Lehren daraus gezogen. Ich würde es nicht wieder machen.