Laut der UNO-Konvention darf niemand den Menschen mit Behinderungen vorschreiben, wo und mit wem sie leben sollen. Wir erwarten, dass dies auch in SachsenAnhalt respektiert und umgesetzt wird.
Nach der gegenwärtigen Fassung der Rahmenvereinbarung kann die Sozialagentur eben nur stationäre Einrichtungen für Menschen mit hohem Hilfebedarf vorschlagen. Da hilft auch die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen der Sozialagentur oder auch der herangezogenen Gebietskörperschaften nicht weiter.
Schließlich und endlich geht es in dem ganzen Prozess um die Verbesserung der Lebensqualität einer großen Gruppe von Menschen, die ihre Verankerung in den Kommunen haben. Deshalb sollte das Leben dieser Menschen auch im kommunalen Rahmen organisiert werden. Die Kommune vor Ort sollte auch für die Lebensbedingungen vor Ort zuständig sein.
Wir haben mit unserem Antrag deshalb erneut die Frage der Kommunalisierung der Eingliederungshilfe aufgeworfen. Wir wollen die Landesregierung fragen: Was muss aus der Sicht der Landesregierung geschehen, damit die Kommunalisierung der Eingliederungshilfe Erfolg im Sinne von mehr Lebensqualität behinderter Menschen haben kann?
Wir gehen davon aus, dass zumindest eine Qualifizierungs- und Fortbildungsoffensive vorbereitet und durchgeführt werden muss. Da treffen wir uns wieder bei der Qualifizierung. Ganz wesentlich ist für uns die Konstituierung von Teilhabekonferenzen vor Ort, in den Landkreisen und kreisfreien Städten.
Da die beiden vorliegenden Anträge in der Grundtendenz aus unserer Sicht das Problem von Teilhabe und Selbstbestimmung zum Gegenstand haben und einander ergänzen, beantrage ich die Überweisung beider Anträge zur federführenden Beratung in den Ausschuss für Soziales und zur Mitberatung in die Ausschüsse für Finanzen, für Inneres, sowie für Recht und Verfassung. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Dr. Eckert. - Bevor die Fraktionen zu Wort kommen, erteile ich Frau Ministerin Gerlinde Kuppe das Wort. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! In Sachsen-Anhalt haben rund 20 500 Menschen mit Behinderungen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII.
Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Teilhabeanspruchs von Menschen mit Behinderungen stehen schon seit geraumer Zeit die Forderungen nach Selbstbestimmung, nach Normalität und nach Eigenverantwor
tung im Zentrum der wissenschaftlichen und auch der fachpolitischen Auseinandersetzung. Diese Forderungen beziehen sich ganz ausdrücklich auf alle Behinderungsarten, also nicht nur auf die Teilhabe von Menschen mit ausschließlich körperlichen und Sinnesbehinderungen, sondern selbstverständlich auch auf die große Gruppe der Menschen mit geistigen, seelischen und Mehrfachbehinderungen.
Mit Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches IX im Jahr 2001, das Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen umfassend kodifiziert, und mit den Behinderungsgleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern wurden diese Ansätze aufgegriffen. Im Land Sachsen-Anhalt - viele können sich noch erinnern - haben wir im Jahr 2001 parallel zum Sozialgesetzbuch IX das Landesbehindertengleichstellungsgesetz geschaffen. Durch die Einführung des Rechtsanspruches auf ein persönliches Budget zu Beginn des Jahres 2008 ist das Recht auf Selbstbestimmung instrumentell gestärkt worden.
Frau Dr. Späthe und Herr Dr. Eckert haben beide schon auf die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in nationales Recht hingewiesen. Wir erwarten im Bundesrat in den nächsten Wochen die Zuleitung des entsprechenden Ratifizierungsgesetzes vonseiten der Bundesregierung, sodass dieses Gesetz dann tatsächlich Anfang 2009 für Deutschland in Kraft treten kann.
Sie haben auch noch einmal erwähnt, Herr Dr. Eckert, dass das Sozialhilferecht seit Langem den Grundsatz „ambulant vor stationär“ kennt. Im BSHG war dieser Grundsatz verankert und in § 13 des Sozialgesetzbuches XII ist dieser Grundsatz auch wieder zu finden.
Vor dem Hintergrund dieser Regelungen, denke ich, muss davon gesprochen werden, dass ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Selbstbestimmung und Personenzentrierung bereits vollzogen worden ist. Der Paradigmenwechsel steht und an ihm darf nicht gerüttelt werden. Es darf kein Zurück mehr geben.
Zur Stärkung der Selbstbestimmung gehört die Annäherung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen an die allgemeinen Lebensbedingungen, das heißt an das Leben in der eigenen Wohnung, an die Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit eben auch der Vorrang von ambulanten vor stationären Leistungen.
Das wiederum setzt die Existenz von familiären und örtlichen Teilhabestrukturen voraus, zum Beispiel in Gestalt von bürgerschaftlichem Engagement. Örtliche Netzwerkstrukturen fördern ein Leben mitten in der Gemeinschaft. Ermöglicht wird dies unter anderem durch gemeindezentrierte Wohnformen. Gemeindeintegrierte und gemeindezentrierte Wohnformen wiederum setzen ein ausreichendes Maß an Barrierefreiheit in den verschiedensten Bereichen voraus. Auch das ist ein Thema, über das wir hier im Landtag schon mehrfach diskutiert haben.
Traditionell ist die Behindertenhilfe in Deutschland von spezialisierten und institutionalisierten Sondersystemen geprägt. Dazu zähle ich auch die teilstationären und stationären Versorgungsangebote. Der Umfang der teil- und vollstationären Versorgung in Sachsen-Anhalt ist trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten Jahren und trotz tatsächlich eingetretener Verbesserungen im Vergleich zu den ambulanten Hilfen immer noch viel zu hoch.
Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Menschen, die langjährig stationär betreut worden sind, eine tiefgreifende Veränderung ihrer ganz persönlichen Lebenssituation gar nicht in jedem Fall zugemutet werden kann; außerdem ist das auch rechtlich gar nicht vertretbar.
Es sind also Wege zu finden, die sowohl dem Gedanken der Selbstbestimmung als auch der vorgefundenen tatsächlichen und rechtlichen Situation Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund ist der Beschlussvorschlag der Regierungsfraktionen nachdrücklich zu begrüßen, die Grundvoraussetzungen für den Ausbau ambulanter und insbesondere auch niedrigschwelliger Angebote zu überprüfen.
Zu den Grundvoraussetzungen gehören neben den rechtlichen Rahmenbedingungen eben auch die örtlichen Teilhabestrukturen und die Qualität des kommunalen Sozialraums mit Blick auf die Anforderungen, die der Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in den vielen verschiedenen Fassetten darstellt.
Dazu gehören die gesellschaftliche Akzeptanz offener Hilfen genauso wie das Angebot von Hilfen professioneller und bürgerschaftlicher Art und dazu gehört die Qualität der kommunalen Hilfeplanung.
In diesem Kontext, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist natürlich auch die Organisation der Aufgabenwahrnehmung durch die örtlichen und den überörtlichen Träger von besonderer Bedeutung. Das Handeln aller Akteure auf allen Ebenen muss auf dieselbe Zielstellung hin ausgerichtet sein, nämlich auf Selbstbestimmung, Normalität, Eigenverantwortung und Stärkung dieser Bereiche. Das kann zunächst durch die Vereinbarung von fachlichen Zielen geschehen. Finanzielle Anreize können zusätzlich die Verfolgung dieser fachlichen Ziele nachdrücklich unterstützen.
Im Rahmen der Einzelfallbearbeitung kommt es ganz entscheidend auf die Arbeit in den Kommunen an - ich habe es schon angedeutet. Ich bin der festen Überzeugung, dass auf dieser Ebene, nämlich vor Ort, die konkreten Teilhabestrukturen zu schaffen sind. Die Fachlichkeit, die für die Entscheidung im Einzelfall und für die Begleitung des Hilfeempfängers und der Hilfeempfängerin erforderlich ist, muss vor Ort vorgehalten werden. Das Land wird unterstützend tätig; das ist klar. So sieht es auch das Ausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch XII im Land Sachsen-Anhalt vor. Die Hilfegewährung im Einzelfall erfolgt aber durch den örtlichen Träger. Deswegen - Frau Dr. Späthe hat es betont - ist diese Ebene so ungeheuer wichtig.
Die Hilfegewährung erfolgt durch den örtlichen Träger, und zwar aus einer Hand, sowohl für den ambulanten als auch für den teilstationären und den stationären Bereich. Die Frage ist tatsächlich, inwieweit und in welcher Form die Mitwirkung der Sozialagentur als Vertreterin des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe im Einzelfall notwendig ist.
Ich denke, es sollte, wie es der Beschlussvorschlag vorsieht, wirklich noch einmal geprüft werden, wie die Verfahrensweise ist. Wir haben die Einflussnahme zurückgefahren, aber es muss geschaut werden, ob sie für Einzelfälle noch notwendig ist oder ob die Steuerung in diesen Einzelfällen nicht auch über Zielvereinbarungen erfolgen kann.
Die Weiterentwicklung des kommunalen Sozialraums und die Hilfegewährung durch die Kommunen und die dafür zu entwickelnden Zielvereinbarungen zwischen Land und Gebietskörperschaften sollen ganz konkret den Menschen und damit der konkreten Verwirklichung von modernen Teilhabestrukturen für Menschen mit Behinderungen dienen.
Bei der Organisation des Prozesses der Hilfegewährung und beim Auf- und vor allem Ausbau von ambulanten Hilfen und Diensten muss wiederum die kommunale Ebene in die Lage versetzt werden, weitestgehend eigenverantwortlich zu entscheiden. Wir haben darüber heute früh diskutiert. Sie muss auch die Möglichkeit haben, diesen Bereich zu gestalten.
Der Antrag der Fraktion DIE LINKE fordert zum Teil bereits laufende Prozesse ein und vermengt andererseits Zuständigkeiten und Ebenen, vor allem unter Punkt 5. Das sehe ich als etwas schwierig an. Ich meine, dass es notwendig ist, eine klare Zuordnung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu beschreiben. Leitschnur muss sein, dass der Aufgabe Kompetenz und Verantwortung folgen.
Den kommunalen Sozialraum - ich betone es an dieser Stelle noch einmal - kann nur die Kommune selbst gestalten. Die Hilfegewährung im Einzelfall muss kompetent vor Ort erfolgen. Dem Land obliegt die Aufgabe, ergebnisorientiert zu steuern, und das nicht nur, aber eben auch mit Blick auf die Konnexität; denn am Ende wird die Finanzverantwortung beim Land bleiben. Diesem Anspruch wird der Antrag der Koalitionsfraktionen, so meine ich, gerecht.
Das Land - das will ich hier noch einmal erwähnen - wird die genannten fachlichen Zielstellungen auch bei der Weiterentwicklung des Rahmenvertrages nach § 79 des Sozialgesetzbuches XII verwirklichen. Wir sind derzeit in Verhandlungen über einen Ergänzungsvertrag zum Rahmenvertrag. Darin wollen wir insbesondere auch auf die Umsetzung des Rechtsanspruches auf ein persönliches Budget achten.
Ich will noch ein paar Worte dazu sagen, weil wir darüber im Landtag intensiv diskutiert haben. Das persönliche Budget ist für die Verwirklichung der Selbstbestimmung und für die Annäherung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen an die der Menschen ohne Behinderungen ganz entscheidend.
Gegenstand des persönlichen Budgets ist ein unmittelbarer Geldanspruch, der es den Leistungsberechtigten ermöglicht, die Leistungen und Dienste zu erwerben, die zur Erfüllung des Teilhabeanspruches notwendig sind.
Wir haben Ende des Jahres 2007 den Modellversuch abgeschlossen. Wir haben schon darüber diskutiert. Damals hatten wir 87 persönliche Budgets in SachsenAnhalt und konnten in 22 Fällen eine stationäre Unterbringung verhindern. Derzeit sind 140 Budgets bewilligt, aber - das muss ich hier wirklich kritisch sagen - immer noch wird das Träger übergreifende persönliche Budget fasst ausschließlich mit Leistungen der Eingliederungshilfe gleichgesetzt. Das ist falsch;
denn neben dem Träger der überörtlichen Sozialhilfe sind auch andere Leistungserbringer wie die Kranken- und Pflegeversicherungen, die Bundesagentur für Arbeit und die deutsche Rentenversicherung mit angesprochen
und in der Pflicht, diesen Teil des Gesetzes mit umzusetzen. An dieser Stelle besteht noch erheblicher Nachholbedarf.
Deswegen ist es wichtig, die Ursachen für die Hemmnisse noch einmal genau zu betrachten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir in diesem Bereich noch besser werden. Wir sind in diesem Bereich auf einem - sage ich einmal - steigenden Ast und auf dem besten Wege, die tatsächliche Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen.
Frau Ministerin, die Frage „ambulant vor stationär“, die Frage danach, mit welchen Strategien dieser Paradigmenwechsel umzusetzen ist, ist außerordentlich komplex, schwierig und kompliziert. Meine Nachfrage beschränkt sich vor diesem Hintergrund nur auf einen Bereich.
Ich teile hundertprozentig Ihre Auffassung - die habe ich zumindest so herausgehört -, was die Rolle und die Potenziale der kommunalen Gebietskörperschaften auch bei diesem Paradigmenwechsel ausmacht - ganz zu schweigen von dem generellen Ansatz, den die Kommunalisierung mit sich bringt, nämlich Stärkung von Demokratie vor Ort.
Ich gehe davon aus, dass Sie sich dessen bewusst sind, dass die Erwartung des Landtages mit seinem Beschluss vom Dezember 2007 darauf hinausläuft, dass die Landesregierung Ende September 2008 verbindliche Aussagen über Kommunalisierungsmöglichkeiten macht, und zwar hinsichtlich des Beschlusses in der Drs. 3/68/5222 B. Sie werden sich daran erinnern: Das ist der Beschluss, den wir im Jahr 2002 nach sehr intensiven Diskussionen gefasst haben.
Das heißt, in 14 Tagen müsste es eine Entscheidung, ich sage jetzt einmal lax: hopp oder topp geben. Werden wir die Kommunalisierung der Sozialhilfe auf dieser Liste finden?
Sehr geehrte Frau Bull, Sie werden nachvollziehen können, dass ich nur das unterstreichen kann, was der Ministerpräsident heute früh gesagt hat: Wir werden bis Ende September im Kabinett die Entscheidung treffen; sie ist bis jetzt noch nicht getroffen worden. Wenn die
Entscheidungen über die Kommunalisierungsprojekte vorliegen werden, wird ein entsprechender Gesetzentwurf vonseiten der Landesregierung unter Federführung des Innenministers erarbeitet werden.