Da wir davon ausgehen müssen, dass der Umbau der Angebotsstrukturen und auch der Gewohnheiten in Bezug auf die Nachfrage nicht in ein oder zwei Jahren erledigt ist, ist dieser Ansatz dringend zu überdenken. Aber auch hierbei ist die Schlussfolgerung: ambulant, bevor stationär. So lange es irgend möglich ist, müssen wir den Betroffenen durch ambulante Betreuung die Möglichkeit schaffen, daheim im Kreise der Familie und der Freunde oder auch in einer WG mit professioneller Hilfe zu leben, also eigenverantwortlich und selbstbestimmt.
Eine Anmerkung ist hier unbedingt noch nötig: Selbstverständlich ist es unumstritten, dass „ambulant vor stationär“ kein kostensenkendes Allheilmittel ist. In den wenigen Fällen des Auszugs aus einer stationären Wohnform in eine ambulante Wohnform sind die Kosten vielfach sogar noch höher. Aber auch das muss unser System im Sinne der UN-Konvention leisten können.
Vom massenhaften Umbau oder Abbau stationärer Plätze kann man an dieser Stelle überhaupt nicht reden. Aber im Sinne von „erst ambulant und nicht gleich stationär“ ist es eine Chance für die Gesamtkostendämpfung bei steigenden Fallzahlen, die wir dringend anpacken müssen.
Drittens halten wir diesen Auftrag natürlich im Sinne der Lebensqualität der Betroffenen für besonders vordringlich. Ich möchte die ohnehin hinlänglich bekannten Argumente der Fachwelt dazu nicht ein weiteres Mal wiederholen. Lassen Sie uns lieber handeln.
Meine Damen und Herren! Sachsen-Anhalt hat seit der Zusammenführung der finanziellen Verantwortung für ambulante und stationäre Angebote eine deutliche Steigerung erlebt. Dies gilt auch für die Modellphase des persönlichen Budgets. Deutlich sind aber auch die territorialen Unterschiede zwischen den Landkreisen und kreisfreien Städten bezüglich der Angebote der Eingliederungshilfe in unserem Land. Das gilt sowohl qualitativ und als auch quantitativ.
Die Vernetzung der Strukturen, die kommunale Akzeptanz der Eingliederungshilfe und die Anzahl der persönlichen Budgets differieren außerordentlich stark. Vieles hängt von den Handelnden vor Ort ab, vieles vom Verhältnis der Leiter der Sozialämter oder der Vertreter der Leistungsanbieter zu den zuständigen Mitarbeitern bei der Sozialagentur. Große Bedeutung besitzt auch die Zusammenarbeit der Interessenvertreter mit den Kommunen. Große Bedeutung hat auch, welche Bedeutung der jeweilige Landrat diesem Problemkreis beimisst.
Es kann aber nicht sein, das der Umfang der Hilfe und das Hilfeangebot, das ein Betroffener erhält, davon abhängt und auch davon, welche Durchsetzungskraft der zuständige Sachbearbeiter in seinem Landkreis hat oder eben auch nicht. Dies zu verändern, fordern wir mit Qualitätsprozessen in allen am Prozess beteiligten Gremien.
In den Problemkreis der Behindertenhilfe spielen viele Aspekte hinein. Es sind viele Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben inmitten unserer Gesellschaft, und zwar ohne Sonderrolle; das ist das eigentliche Anliegen der UN-Konvention.
Wir wollen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrem Leben, in ihrem Lebensraum nicht durch uns oder die äußeren Umstände behindert werden. Insofern kann unser Antrag heute nur ein Teil einer großen Aufgabe sein, die wir in Sachsen-Anhalt noch bewältigen müssen.
Die Ambulantisierung auch der Pflege, das Pflegebudget, das Budget zur Arbeit, die integrativen Unterrichtsformen usw. sind nur einige Herausforderungen, vor denen wir alle noch stehen. Das heute kann und soll ein Anfang sein. In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Es gibt sehr viel zu tun. Stimmen Sie zu!
- Es hat sich erledigt; das ist noch besser. - Der Antrag unter Tagesordnungspunkt 13 b wird für die Fraktion DIE LINKE von Herrn Dr. Eckert eingebracht. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mich zunächst darauf beschränken, unseren Antrag einzubringen. Mit diesem Antrag möchten wir einen grundlegenden Diskussions- und Veränderungsprozess im Land einleiten. Dieser Prozess soll dazu führen, dass in Sachsen-Anhalt Menschen mit Behinderung genau wie Menschen ohne Behinderung ihr Leben in Selbstbestimmung und Würde selbst, das heißt als Subjekt und nicht als Objekt von Fürsorge, gestalten können und dass ihnen die dafür erforderlichen Hilfen bedarfsgerecht und möglichst ohne die Inanspruchnahme von Rechtsanwälten und anderen zur Verfügung gestellt werden.
Dieses zuletzt genannte Anliegen ist wohl auch der Ausgangspunkt für den Antrag der Regierungsfraktionen, dessen Aufgabenstellung für die Landesregierung wir ausdrücklich unterstützen. Aber - Sie sagten es eben selbst - dies kann nur ein erster Schritt sein.
Wir haben bewusst die im Antrag der SPD und der CDU genannten Problemstellungen nicht noch einmal explizit aufgeführt, da sie als Teilaspekte in unseren Forderungen verankert sind. Wir meinen, dass man tiefer gehen muss, um einen wirklichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Wir sehen die beiden Anträge quasi als zwei Seiten einer Medaille.
Es geht uns eben um mehr als nur um die Qualität der Arbeit der Sozialagentur. Es geht um die Realisierung der in den verschiedenen nationalen und internationalen Dokumenten und Gesetzen verankerten Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Selbstbestimmung und Teilhabe.
Die vom Hohen Haus vor mehr als einem Jahr begrüßte Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung war ein Auftrag. - Frau Dr. Späthe, Sie nahmen darauf Bezug. - Deutschland war eines der aktivsten Länder im Prozess der Erarbeitung dieser Konvention. Ich denke, wir können es uns international nicht leisten, einen Rückzieher zu machen.
Das Sozialgesetzbuch IX sowie die Behindertengleichstellungsgesetze des Bundes und des Landes sind in der Praxis entsprechend anzuwenden. Jetzt kommt es darauf an, die in diesen Dokumenten angestrebten - ich betone: angestrebten - gesellschaftlichen Veränderungen auch durch Verwaltungshandeln umzusetzen und zu befördern. An dieser Stelle gibt es sehr viele Defizite, wie gerade auch die Einbringung des Antrages der Regierungsfraktionen zeigte.
Es geht aber auch um die Bewältigung der gewachsenen qualitativen und finanziellen Anforderungen in der Eingliederungshilfe. Die Zahl der Hilfeempfänger wächst von Jahr zu Jahr. Der Titel für die Eingliederungshilfe macht im Haushalt der Sozialhilfe fast zwei Drittel aus. Der Mittelabfluss beträgt zur Mitte des laufenden Jahres
Einige Träger fordern neue Heimplätze, weil die Wartelisten immer länger werden. Ich betone, trotz des viel beschworenen Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ist die Realität, dass stationäre Angebote bei den zuständigen Ämtern und den Trägern der Einrichtungen immer noch das Angebot der ersten Wahl sind, vor allem wenn es sich um Menschen mit einem sehr hohen Hilfebedarf handelt.
Frau Dr. Späthe, weil Sie es vorhin sagten: Im Jahr 1962 wurde im Bundessozialhilfegesetz ausdrücklich der Grundsatz „ambulant vor stationär“ beschworen. Wenn wir uns das Ergebnis angucken, dann können wir nur noch mit dem Kopf schütteln.
Traditionen und eine langjährig bevorzugte, auch politisch unterstützte finanzielle Ausstattung stationärer Einrichtungen tragen dazu bei, dass von vielen Familien mit behinderten Angehörigen und von Menschen mit Behinderungen selbst gar nicht an Alternativen gedacht wird oder diese für möglich gehalten werden.
Es stellt sich für uns die Frage: Wie können den ca. 1 000 gegenwärtig noch bei ihren teilweise über 70, 80 Jahre alten Eltern lebenden Mitarbeitern der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, die in den nächsten fünf bis acht Jahren Hilfen beim Wohnen bzw. Wohnplätze nachfragen werden, angemessene und ihren Wünschen entsprechende Angebote gemacht werden? Sollen wir noch 20 Heime bauen oder sorgen wir endlich für ambulante Betreuungsformen?
Meine Damen und Herren! Wir stehen unmittelbar vor einer Entscheidungssituation: Entweder das Land fördert mit Millionen den Bau neuer Heime oder wir, die Gesetzgeber, gestalten Rahmenbedingungen, die ambulante Strukturen und Dienstleistungen befördern.
Wir meinen, es müssen andere als stationäre Formen der Teilhabe und Hilfe entwickelt und angeboten werden,
und zwar Formen, die zum einen Menschen mit Behinderungen das Verbleiben in der gewohnten häuslichen Umgebung ermöglichen, die ihre Selbstbestimmung ermöglichen und stärken, und zum anderen mit den vorhandenen bzw. nur unwesentlich steigenden Mitteln finanziert werden können.
Diese Feststellungen haben wir im ersten Teil unseres Antrages formuliert. Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Feststellungen zustimmen können. Zumindest entnehme ich diese Haltung vielen vorangegangenen Erklärungen und Statements gegenüber dem Landtag und den Behindertenverbänden.
Im zweiten Teil unseres Antrages fordern wir die Landesregierung zu Maßnahmen auf, die unseres Erachtens dringend anzupacken sind, wenn ein Paradigmenwechsel gelingen soll. Dabei kann man sicherlich über die eine oder andere Maßnahme streiten. Aber grundsätzlich muss ein Handlungskonzept her, das alle Ziele, die Voraussetzungen, aber auch die Hürden benennt, die uns jetzt hindern, den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ umzusetzen.
Besonders wichtig ist uns an dieser Stelle der Punkt 1d, die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen u n d der Leistungserbringer in den Prozess des Paradigmenwechsels. So grundlegende Änderungen im System können nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn eine aktive Mitwirkung der Betroffenen von beiden Seiten gesichert ist.
Die Vertreterinnen der Einrichtungsträger müssen wissen, dass ihre bisherige Arbeit in den stationären Einrichtungen geschätzt wird und dass sie auch in der ambulanten Betreuung gebraucht werden. Es muss gewährleistet sein, dass eine Umorientierung auf ambulante Versorgungsformen betriebswirtschaftlich verträglich organisiert werden kann, dass es also um eine allmähliche, aber konsequente Umsteuerung geht.
Die Menschen mit Behinderungen müssen wissen und erleben können, dass es Alternativen zum Heim gibt, dass sie eine echte Wahl haben und dass die Entscheidung für eine ambulante Wohnform sie nicht gegenüber Heimbewohnerinnen benachteiligt.
Zugleich muss aber gesichert werden, dass Heimbewohnerinnen und Heimbewohner nicht aus ihrem gewohnten Zuhause gedrängt werden. Wir wollen - ich unterstreiche es noch einmal -, dass es reale Wahlmöglichkeiten gibt.
Dieses Mitnehmen der Betroffenen setzt auch die unter Punkt 2 des Antrages genannten Maßnahmen voraus. Der Übergang von der Objekt- zu der Subjektförderung ist ein gravierender Einschnitt. Es geht darum, nicht mehr den Platz in einer Einrichtung mit einer bestimmten Summe Geld zu fördern, sondern den konkreten Hilfebedarf einer konkreten Person festzustellen und für diese Person Geld zur Verfügung zu stellen. Das kann in einem Fall zu mehr Geld führen als beim bisherigen Heimplatz und in einem anderen Fall zu weniger. Es macht aber auf jeden Fall möglich, dass ein Mensch mit hohem Hilfebedarf auch außerhalb eines Heimes Hilfe in Anspruch nehmen kann.
Allerdings ist es noch recht schwierig, den Hilfebedarf richtig zu erfassen, und noch schwieriger, ihn zu verpreislichen, wie die Fachleute sagen. Aber ich bin davon überzeugt, dass auch dieses Problem lösbar ist.
Deshalb haben wir zum Beispiel solche Aufgaben wie unter den Punkten 1, 2 und 3 des Antrages formuliert. Es kann auch möglich sein, dass bundesrechtliche Regelungen an der einen oder anderen Stelle hinderlich sind. Das wiederum ist bei Punkt 4 unseres Antrages weniger zu befürchten, da die Rahmenvereinbarung im Land ausgehandelt wird. Aber auch in diesem Fall sind Geduld und langfristiges Arbeiten angesagt.
Die zähflüssigen Verhandlungen zwischen dem Land und der Liga der Freien Wohlfahrtspflege, um die Rahmenbedingungen von der Dominanz stationärer Versorgungsformen zu befreien, sind uns seit Jahren bekannt. Wir wollen - das steht extra in dem Antrag -, dass die Bestimmungen des Rahmenvertrages überprüft und gegebenenfalls verändert werden, und zwar die Bestimmungen, die eine Bevormundung insbesondere von Menschen mit hohem Hilfebedarf durch die Kostenträger bewirken.
Aus unserer Sicht ist es mit der UN-Konvention nicht vereinbar, wenn Menschen, die der Hilfebedarfsgruppe IV,
der höchsten Stufe, zugeordnet werden, ausschließlich auf stationäre Einrichtungen verwiesen werden.