Protokoll der Sitzung vom 12.12.2008

Meine Damen und Herren! Ich darf Sie zur 50. Sitzung unseres Landtags herzlich begrüßen.

Wir haben heute ein Geburtstagskind unter uns. Der Abgeordnete Jürgen Weigelt hat heute Geburtstag. Lieber Herr Weigelt, alles Gute, bleiben Sie gesund und vielen Dank, dass Sie mich heute unterstützen.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest und darf noch einmal die Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung in Erinnerung rufen. Entschuldigt sind Herr Bullerjahn und Herr Robra. Frau Professor Kolb wird uns gegen 15.30 Uhr verlassen.

Wir setzen die 26. Sitzungsperiode fort. Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:

Befragung der Landesregierung

Opferschutz und Haftentlassenennachsorge in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 5/1646

Meine Damen und Herren! Ich rufe noch einmal die Regularien in Erinnerung. Wir führen heute die vierte Regierungsbefragung durch. Zum Verfahren: Wir werden die Regierungsbefragung in zwei Runden durchführen. In der ersten Runde stellt die antragstellende Fraktion die Hauptfrage. Dafür stehen ihr zwei Minuten zur Verfügung. Nach der Beantwortung der Hauptfrage steht der Fraktion noch eine Nachfrage mit einer Redezeit von eineinhalb Minuten zu. Die antragstellende Fraktion hat dann weiter das Recht, zusätzliche Nachfragen mit einer Dauer von eineinhalb Minuten zu stellen. Sie kann selbst darüber entscheiden, zu welchem Zeitpunkt sie das macht.

Nach Abschluss dieser Runde wird dann eine zweite Runde eingeläutet. Diese darf maximal 30 Minuten dauern. Ich erinnere daran, dass Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen nicht zulässig sind.

So weit zu meinen Bemerkungen. Hiermit erteile ich der SPD-Fraktion das Wort zur Fragestellung. Frau Ministerin Professor Kolb wird die Frage beantworten. Ich bitte die Frau Ministerin, sich hier vorn einzufinden.

Frau Reinecke, Sie können Ihre Frage stellen.

Frau Ministerin, welche Maßnahmen hat die Landesregierung ergriffen, um den sozialen Dienst der Justiz und die freien Träger der Straffälligenhilfe für den Bereich der Entlassenenfürsorge finanziell abzusichern und diesen darüber hinaus auszubauen?

Frau Reinecke, ich betrachte das als erste Hauptfrage, die Sie sicherlich kombinieren. Frau Ministerin, bevor Sie antworten, möchte ich mich einer angenehmen Pflicht entledigen.

Frau Nadine Hampel, die heute wieder unter uns ist, hat einen Sohn geboren, der den Namen Marlon Maximilian trägt. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!

(Beifall im ganzen Hause)

Frau Ministerin, dann können Sie die Frage beantworten.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Sachsen-Anhalt hat sehr gute Voraussetzungen für die Resozialisierung. Wir haben nach der Wende in Sachsen-Anhalt ein duales System aufgebaut. Dual bedeutet, dass wir auf der einen Seite den sozialen Dienst der Justiz haben, der die Gesamtheit der Aufgaben im Bereich Bewährungshilfe, Führungsaufsicht, Gerichtshilfe, aber auch Täter-Opfer-Ausgleich als zentrale Dienststelle beinhaltet, die direkt dem Ministerium der Justiz unterstellt ist. Dieser ist mittlerweile flächendeckend in Sachsen-Anhalt vertreten.

Wir haben derzeit sechs Standorte des sozialen Dienstes der Justiz, an den vier Landgerichtsstandorten in Halle, Dessau-Roßlau, Magdeburg und Stendal sowie zusätzlich in Halberstadt und Naumburg. Darüber hinaus gibt es Nebenstellen in Wittenberg, Sangerhausen und Merseburg. An 28 weiteren Standorten gibt es Außensprechstunden, sodass man allein an der Zahl der Standorte erkennt, dass wir eine flächendeckende Betreuung derjenigen gewährleisten können, die zu Bewährungsstrafen verurteilt worden sind.

Von staatlicher Seite wird aber auch die Nachsorge sichergestellt für diejenigen, denen relativ milde Auflagen nach der Haftentlassung auferlegt worden sind, aber auch diejenigen, die im Rahmen der Führungsaufsicht bestimmte Auflagen erfüllen müssen, die der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dienen, beispielsweise die Erfüllung einer Therapieauflage oder regelmäßige Meldepflichten bei der Polizei oder beim sozialen Dienst.

Daneben ist in Sachsen-Anhalt ein umfassendes Netz von freien Trägern der freien Straffälligenhilfe entstanden. Die Träger der freien Straffälligenhilfe sind unter dem Dach des Landesverbandes für freie Straffälligenhilfe zusammengefasst und ergänzen das Angebot, das von staatlicher Seite besteht, in hervorragender Weise. Die freien Träger können gewährleisten, dass vor Ort eine sehr unbürokratische, eine sehr bürgernahe und in vielen Fällen sehr menschliche Art der Hilfeleistung stattfindet. Die freien Träger kümmern sich insbesondere um die Vorbereitung der Haftentlassung. Das heißt, es gibt regelmäßige Sprechstunden in allen Justizvollzugsanstalten.

Diejenigen, die im nächsten halben Jahr entlassen werden, werden regelmäßig aufgesucht. Zunächst wird analysiert, welche Dinge nach der Haftentlassung zu regeln sind. Das beginnt mit ganz einfachen Dingen wie die Unterstützung bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen, aber auch bei der Suche nach Arbeit, die sich in den meisten Fällen sehr schwierig gestaltet.

Wichtig ist, dass man im Interesse eines zukünftig straffreien Lebens versucht, den Betreffenden nach der Haftentlassung nicht in das bisherige soziale Milieu zurückkehren zu lassen, sondern ein soziales Netzwerk aufbaut, das den Betreffenden dann, wenn es eine bestimmte Problemlage gibt, auffängt und ihm Hilfestellung gibt.

Ich glaube, dass wir sowohl von staatlicher Seite als auch vonseiten der freien Träger, die in vielen Bereichen mit ehrenamtlichen Mitarbeitern arbeiten, eine sehr gute Betreuung vor Ort feststellen können. Andere Länder beneiden uns um das Modell, bei dem der soziale Dienst nicht auf viele unterschiedliche Justizstandorte in dem Sinne verteilt ist, dass unterschiedliche Aufgaben bei unterschiedlichen Trägern angebunden sind. Ein Kollege des sozialen Dienstes hat beispielsweise über ein Jahr lang in Niedersachsen an einem entsprechenden Projekt mitgearbeitet, um dort den sozialen Dienst so aufzubauen, wie er in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren erfolgreich besteht.

Wir haben, was die Träger betrifft, in den letzten Jahren sicherstellen können, dass es keine Mittelkürzungen gibt. Das heißt, die Zuwendungen sind im Wesentlichen konstant geblieben.

Wir haben natürlich eine Vielzahl von Trägern, die unterschiedliche Dinge anbieten. Wir haben im letzten Jahr versucht, gemeinsam mit dem Landesverband für freie Straffälligenhilfe und mit den Vereinen das System ein Stück weit zu verbessern. Dabei ging es uns zunächst einmal darum, die Angebote flächendeckend vorzuhalten und auch an den Orten, an denen wir Standorte von freien Trägern haben, die das Justizministerium fördert, die entsprechenden Dinge in vollem Umgang anzubieten.

Sie können sich vorstellen, dass die freien Träger andere Strukturen als staatliche Dienststellen haben. Das Angebot hat sich in den letzten Jahren zumeist danach gerichtet, welche Ressourcen vor Ort vorhanden waren und über welches Know-how die Kolleginnen und Kollegen verfügen. Deshalb war das Angebot sehr unterschiedlich und wir konnten nicht an allen Standorten alles vorhalten, was mit der Entlassenenfürsorge, der Resozialisierung, dem Täter-Opfer-Ausgleich und dem Angebot von gemeinnütziger Arbeit verbunden ist.

Wir haben das Projekt Zebra entwickelt. Zebras sind dabei nicht die Tiere, die in Afrika herumlaufen oder im Magdeburger Zoo zu besichtigen sind.

(Herr Borgwardt, CDU: Auch!)

- Auch. Aber wir haben besondere Zebras, die nicht lebendig sind in dem Sinne, dass es sich um Organismen handelt, sondern sie sind lebendig in dem Sinne, dass die Vereine mit einer Vielzahl von Ehrenamtlichen zusammenarbeiten, um in diesen Zentren für Entlassungshilfe, Beratung und Resozialisierung sowie als Anlaufstelle zur Vermittlung gemeinnütziger Arbeit all das anbieten zu können, was im Zusammenhang mit der Haftentlassung notwendig ist. Das heißt, im Mittelpunkt steht dort die umfassende Beratung und Information der Betroffenen, aber auch deren Angehörigen. Darüber hinaus wird dort alles, was mit der Vermittlung gemeinnütziger Arbeit verbunden ist, zusammengeführt.

Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Stärkung des Ehrenamtes. Wir denken, dass in unserer Gesellschaft, auch in Sachsen-Anhalt, wo viele Bürgerinnen und Bürger immer früher aus dem Arbeitsleben entlassen werden, sehr viele Ressourcen vorhanden sind und dass sich diejenigen, die - ich sage einmal - in relativ jungen Jahren, um die 50, keine Arbeit mehr haben, noch sozial engagieren wollen.

Der Bereich der Bewährungshilfe und der Straffälligenarbeit ist vielleicht ein Bereich, der mit einigen Vorurtei

len belastet ist, weil es - das werden die Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten, sicherlich auch bestätigen - nicht immer ganz leicht ist, mit den Betroffenen zu arbeiten, weil man manchmal auch Rückschläge in Kauf nehmen muss und nicht immer alle Dinge so umgesetzt werden, wie sie eigentlich vereinbart worden sind.

Deshalb wollen wir im Rahmen dieses Projektes Zebra die Arbeit mit Ehrenamtlichen weiter stärken. Es geht zum einen darum, weitere Ehrenamtliche für diese Arbeit zu gewinnen. Es geht zum anderen darum, die Arbeit mit den Ehrenamtlichen zu professionalisieren. Das heißt, sie müssen zunächst einmal in die Lage versetzt werden, diese Dinge dann auch praktisch in hoher Qualität durchzuführen. Sie müssen dann auch entsprechend betreut werden.

Die rechtspolitischen Sprecher der Fraktionen haben in diesem Jahr eine Ausschussreise unternommen und haben in Österreich in Wien mit Vertretern von „Neustart“ gesprochen, wo eine sehr professionelle Arbeit mit Ehrenamtlichen geleistet wird. Wir haben vor, die Dinge, die dort sehr gut funktionieren, in der einen oder anderen Form auf die Bedingungen vor Ort in SachsenAnhalt zu übertragen.

Vielleicht noch ein kurzer Satz zu einem Projekt, das auch die Arbeit des sozialen Dienstes in Zukunft weiter verbessern soll. Sachsen-Anhalt ist das erste Land, in dem es für die Arbeit des sozialen Dienstes Qualitätsstandards gibt. Das ist ein Projekt, in dessen Rahmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des sozialen Dienstes über lange Jahre hinweg gemeinsam überlegt haben, wie es möglich ist, für den Bereich des sozialen Dienstes Standards zu erarbeiten.

Diese Standards liegen seit Herbst dieses Jahres vor. Es handelt sich hierbei um ein umfassendes Handbuch, das alle Prozesse beschreibt, die im Rahmen der Tätigkeiten, die bei dem sozialen Dienst anfallen, erledigt werden müssen. Durch ein sehr konkretes Fallmanagement ist sichergestellt, dass auch in dem Fall, dass einmal ein Mitarbeiter nicht da ist, weil er vielleicht längere Zeit krank ist, anhand der Aufzeichnungen festgestellt werden kann, was zu veranlassen ist, um sicherzustellen, dass Meldeauflagen und andere wichtige Auflagen eingehalten werden.

Standards für den sozialen Dienst zu haben, bedeutet aber auch, dass sich die Mitarbeiter in Zukunft auf bestimmte Fallgruppen spezialisieren bzw. konzentrieren wollen. Im Rahmen dieses Projektes sind im Hinblick auf die Betreuung durch den sozialen Dienst vier Fallgruppen für bestimmte - ich sage jetzt einmal - Schweregrade entwickelt worden. Ausgehend von der Eingruppierung in die jeweilige Fallgruppe gibt es dann besondere Anforderungen an die Betreuung.

Das reicht von den leichten Fällen in der Gruppe 4, bei denen es wirklich nur darum geht festzustellen, ob beispielsweise die Auflagen erfüllt werden - das heißt, dass man sich regelmäßig meldet oder dass die Arbeit, die vermittelt wurde, erfüllt wird -, bis hin zur Fallgruppe 1. Dabei handelt es sich in der Regel um diejenigen, die unter Führungsaufsicht stehen, bei denen tatsächlich auch Dinge zu berücksichtigen sind, die die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten.

Wir können uns durch die Eingruppierung in diese vier Fallgruppen auf die Fälle konzentrieren, die der besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Wir wollen für die Zu

kunft vermeiden, dass es Rückfälle gibt, dass schwere Straftaten passieren - einfach weil die notwendige Kontrolle nicht da war. Wir wissen, dass bei bestimmten Straftätern die Kontrolle das wichtigste Instrument ist, um Rückfälle zu vermeiden. Das wollen wir mit diesem Projekt, Qualitätsstandards im sozialen Dienst zu etablieren, umsetzen.

Ich habe mich besonders darüber gefreut, dass das kein Projekt war, bei dem das Justizministerium gesagt hat: Wir machen das jetzt einmal. Das haben vielmehr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der konkreten praktischen Erfahrung heraus gemacht. Sie sind aus meiner Sicht heute zu Recht stolz darauf.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank. Die SPD-Fraktion hätte jetzt die Möglichkeit, eine Nachfrage zu stellen. Möchten Sie davon Gebrauch machen? - Herr Dr. Brachmann, Sie haben anderthalb Minuten Zeit, um Ihre Nachfrage zu stellen.

Frau Ministerin, ich hätte in eine bestimmte Richtung noch eine Nachfrage. Einige Mitglieder des Hohen Hauses haben das bereits getan. Wer schon einmal in Raßnitz war, der weiß, dass dort sehr gute Bedingungen herrschen, um den Jugendstrafvollzug zu organisieren. Aber gerade bei Jugendlichen ist auch das sehr wichtig, was danach passiert.

Deshalb lautet meine Frage, inwieweit durch Landesmittel, durch ein Übergangsmanagement gerade für Jugendliche die berufliche und soziale Integration gewährleistet werden kann. - Vielen Dank.

Ja, in der Tat; wir haben bei den jugendlichen Straftätern nach wie vor relativ hohe Rückfallquoten. Wir machen uns intensiv Gedanken darüber, woran das liegt. Dazu muss man sagen: Das ist nicht nur in Sachsen-Anhalt so, das ist bundesweit so.

Wenn man sich einmal die Entwicklung von bestimmten kriminellen Karrieren anschaut, so stellt man fest, dass die Instrumente, die relativ früh ansetzen, umso besser wirken, je milder sie sind. Das heißt, es kann festgestellt werden, dass die Rückfallquote bei Diversion und Bewährungsstrafen relativ gering ist. Sie wird immer höher, je stärker der Eingriff ist. Man muss natürlich feststellen, dass diejenigen, die in der Justizvollzugsanstalt landen, schon mehrere Straftaten verübt haben, dass also in der Regel schon eine relativ lange Vorgeschichte vorhanden ist.

Wir haben Anfang dieses Jahres eine sehr interessante Konferenz zu diesem Thema durchgeführt. Da haben viele Sozialwissenschaftler den Blickwinkel auf die positive Richtung gelegt. In mehr als 50 % der Fälle führen die Maßnahmen in der Jugendanstalt dazu, dass die Betreffenden nicht rückfällig werden. Das ist zunächst einmal ein Erfolg. Wir schaffen es mit den Angeboten in der Jugendanstalt, dass die Mehrheit der Jugendlichen dort nicht wieder landet.

Das heißt aber nicht, dass wir damit zufrieden sein können, sondern unser Augenmerk muss jetzt auf denjenigen liegen, die es trotz der vielen Maßnahmen nach der Haftentlassung aus vielerlei Gründen nicht schaffen, ein

Leben frei von Straftaten zu führen. Um hier geeignete Maßnahmen zu finden, muss man zunächst einmal fragen: Woran liegt es denn, dass die Maßnahmen, die erfolgreich sind, die auch positiv auf die Persönlichkeiten wirken, doch nicht die Erfolge haben, die man sich davon verspricht.