Die Arbeitslosigkeit hinter den Werktoren war nun vor ihnen zu sehen. Rügenurlauber flogen nach Mallorca, Trabantfahrer bestiegen den Golf. Wie all das zusammenpasst, wurde bis heute manchem nicht klar. Dennoch: Wir haben allen Grund, glücklich darüber zu sein, dass es die friedliche Revolution gab, an der viele von uns aktiv mitgewirkt haben.
auf andere müssen wir noch reichlich Arbeit verwenden. Es bleibt unsere gemeinsame Pflicht als Volksvertreter, das Erreichte zu sichern, gegebenenfalls zu verbessern, das Begonnene kraftvoll fortzuführen und uns zugleich neuen Herausforderungen zu stellen.
Wir müssen stets auf der Höhe der Zeit sein, wenn wir Gutes für unser Land bewirken wollen. Stellen wir uns mit all unseren Meinungsverschiedenheiten dem demokratischen Prozess. - Danke schön.
Danke sehr, Herr Dr. Fikentscher. - An dieser Stelle hat für die Landesregierung Ministerpräsident Herr Professor Dr. Böhmer um das Wort gebeten. - Ich bitte die Ruhe auf den Zuschauertribünen zu wahren. - Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle haben Grund, für diese Aktuelle Debatte mit diesem Thema dankbar zu sein - alle Fraktionen dieses Hohen Hauses. Ohne diese Revolution säßen wir alle heute nicht hier und ohne diesen Vorgang gäbe es das Land Sachsen-Anhalt möglicherweise nicht wieder.
Herr Kollege Fikentscher, Sie haben - das hatte ich fast so erwartet - mit dem intellektuellen Abstand von 20 Jahren einen Rückblick gewagt. Ich sage ausdrücklich: Keiner Ihrer Aussagen würde ich widersprechen. Es macht natürlich auch keinen Eindruck, wenn ich sie jetzt wiederhole.
Deshalb will ich an diejenigen erinnern, die damals auf die Straße gegangen sind. Viele von uns waren dabei und können sich noch daran erinnern.
Die beste Beschreibung dessen - ebenfalls eine nachträgliche -, die ich gehört habe, stammt von dem ehemaligen SED-Bezirkschef Horst Sindermann aus Halle, der einmal gesagt hat:
Sie haben zu Recht an den heutigen Tag vor 20 Jahren in Leipzig erinnert. In Plauen war es ähnlich. In Dresden war es zwei Tage vorher so. In Halle hat es solche Ereignisse gegeben, in Magdeburg auch.
Die Polizei und die damals Mächtigen waren darauf vorbereitet, diese konterrevolutionären Ereignisse, wie sie es nannten, ein für alle Mal auszuschalten und diese Kräfte zu liquidieren. Die Kampfgruppen von Leipzig haben sich in einer Erklärung wenige Tage vor dem 9. Oktober 1989 ausdrücklich dazu bekannt.
Trotzdem müssen einige der damals Verantwortlichen gespürt haben, dass das nicht eine machbare Lösung sein kann, weil sie merkten, dass sie es nicht mehr schaffen würden. Denn all das, was wir damals im Oktober in der DDR erreicht haben, hatte Vorläufer: Es begann mit der Charta 77 in der Tschechoslowakei und mit Solidarność im Jahr 1980 in Polen, aber auch mit Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion.
Wenn ein Land, das fast 40 Jahre lang gepredigt hat: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“, plötzlich den „Sputnik“, eine sowjetische Zeitschrift, verbieten muss, weil wir das nicht mehr lesen durften, dann müssen auch die Mächtigen gespürt haben, dass sie jetzt am Ende ihrer Möglichkeiten sind.
Als Kurt Hager - ich hoffe, Sie wissen noch, wer das war - erklärt hat: „Wenn der Nachbar sein Zimmer neu tapeziert, müssen wir das noch lange nicht machen“, war einigen klar, dass sie nicht bereit sein würden, sich zu bewegen. Die anderen haben spätestens Anfang Oktober 1989 gemerkt, dass sie diesen Prozess, der sich auf der Straße abgespielt hat, nicht mehr beherrschen.
Ich weiß nicht, wie das damals in Plauen, in Dresden, in Halle, in Leipzig und auch in Magdeburg ausgegangen wäre, wenn die damals mehr oder weniger Verantwortlichen die Nerven verloren hätten. Deshalb will ich ganz deutlich sagen: Was mich beeindruckt, auch bei der nachträglichen Betrachtung, ist die Besonnenheit der Verantwortlichen, und zwar auf beiden Seiten.
In Leipzig waren es die berühmten Sechs, in Dresden war es die 20er-Gruppe. Das waren zum großen Teil Pfarrer. In Leipzig waren es Künstler wie Kurt Masur. Das war Lutz Lange, ein Künstler, den Sie auch aus dem Fernsehen kennen. Das waren aber auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung, die begriffen hatten, dass es so nicht würde weitergehen können, wenn sie der Polizei, den Kampfgruppen und auch den Soldaten, die hoch ausgerüstet waren, bis hin zu Maschinengewehren, den Befehl geben würden, diese konterrevolutionären Gruppen von der Straße zu holen.
Es war alles vorbereitet - das wissen wir -, bis hin zur Freiräumung von Krankenstationen in Krankenhäusern, bis zur Bevorratung von Blut für Transfusionen usw. Dieser Vorgang ist subtil vorbereitet worden. Und es ist doch nicht dazu gekommen, weil Besonnene auf allen Seiten gemerkt hatten, dass dies für die DDR keine Lösung sein kann.
Sie haben Recht - ich habe es schon mehrfach gesagt; jetzt geht es mir genauso wie Ihnen, dass ich mich wiederholen muss -: Der Ruf „Wir sind das Volk!“ ist eine nahezu lapidare Aussage. Dass eine solche Aussage eine solch explosive Wirkung haben kann, ist doch nur in einem Zusammenhang erklärbar, in dem sich eine Regierung hinstellt und in Lehrbüchern formulierte Sätze gesagt hat wie: Die Diktatur durch uns ist die höchste Form der Demokratie und unsere Politik ist eine Politik für das Volk, mit dem Volk usw. - Das alles haben wir einmal mit heruntergebetet, auch ich.
Als dann dieser Regierung mit einem solchen Selbstverständnis plötzlich von der Straße entgegengerufen wurde: „Wir sind das Volk!“, hat das dazu geführt, dass sie in erheblicher Weise verunsichert worden ist. Das geschah zum ersten Mal am 2. Oktober 1989 in Leipzig.
Als dann am 9. Oktober 1989 gerufen wurde: „Wir sind ein Volk!“, war das - das will ich deutlich sagen - nicht der Aufruf zur Wiedervereinigung. Niemand hat damals eine solche Illusion gehabt. Es war vielmehr der Aufruf an die Polizei: Schießt nicht auf uns; denn ihr gehört zu uns! Wir sind ein Volk - wir, die Polizei, und wir die Demonstrierenden. - Das war der erste Hintergrund für den Satz „Wir sind ein Volk!“: ihnen die Courage zu nehmen, auf die Demonstranten zu schießen.
Wie die Entwicklung dann weitergegangen ist, das wissen wir alle. Zur Ehrlichkeit gehört es jedoch, nicht im Nachhinein Dinge hineinzuinterpretieren, von denen auch nur zu träumen wir uns damals nicht ausgemalt hätten.
Wenn Sie mich noch im September 1989 gefragt hätten, wie das mit der Wiedervereinigung werden könnte, dann hätte ich gesagt: Es wäre schön, wenn ich es noch erleben würde, aber ich glaube es nicht.
Das war eine Dynamik, die in die Entwicklung hineingekommen ist, die auch damit zusammenhing, dass diejenigen, die damals die Mächtigen waren, konzeptionslos und letztlich auch führungslos geworden waren.
Wenn Sie über die Ereignisse nachlesen - die Dokumente, die Protokolle sind inzwischen alle veröffentlicht und nachlesbar -, dann erfahren Sie, dass es am Ende auch im Politbüro niemanden mehr gab, der richtig entscheiden wollte.
Sie haben gestern Abend möglicherweise die Fernsehsendung über den 9. Oktober 1989 in Leipzig gesehen. Dann wissen Sie, dass man häufig in Berlin angerufen hat, um zu fragen, was man denn nun machen solle.
Aber niemand war in der Lage zu entscheiden, weil die Verunsicherung so groß war, dass selbst die Mächtigsten begriffen hatten: Wir werden mit unserer bisherigen Doktrin die Probleme nicht lösen können.
Das war der Drang nach Freiheit. Das würde ich genauso formulieren, wie Sie es gesagt haben: Das war der Drang nach Freiheit, der sich zunächst in der Forderung nach Reisefreiheit äußerte.
Dieser hat dann dazu geführt - wir können das inzwischen alles nachlesen -, dass die DDR gesagt hat: Wenn wir nicht anders können, dann müssen wir - das ist schon im September angedacht worden - ein neues Gesetz über die Reisemöglichkeiten machen, aber das wollen wir uns möglichst abkaufen lassen.
Dann haben sie Schalck-Golodkowski nach Bonn geschickt; der sollte einen Kredit von 12 Milliarden bis 13 Milliarden herausholen im Gegenzug für das Versprechen, dass die DDR ein neues Reisegesetz erlassen würde. Er ist nach Hause geschickt worden mit der Aufforderung: Wir können darüber nachdenken, aber macht erst mal schön. - Das war die damalige Entwicklung.
Natürlich haben auch die technischen Kommunikationsmöglichkeiten eine große Rolle gespielt. Ich habe ge
hört, dass hier gestern Abend eine Diskussion über die Macht der Bilder stattgefunden hat. Selbstverständlich hatten diese Fernsehbilder eine motivierende Wirkung auch auf diejenigen, die noch zu Hause saßen, oder auf diejenigen, die bisher nur ängstlich hinterhergelaufen waren.
Dass diese Demonstration in Leipzig so zu Ende gegangen ist, wie sie zu Ende ging, was wir nachträglich als ein entscheidendes Ereignis, als Tag der Entscheidung bezeichnen, was vorher niemand wusste und am 10. Oktober 1989 niemand in Leipzig so gesehen hatte, und anderes mehr, das sind Dinge, die erst durch die Fernsehdokumentationen möglich geworden sind.
Ich will ganz deutlich sagen: Diese Bilder brauchen wir zum Erinnern; denn diejenigen, die all das nicht miterlebt haben, die das nur vom Hörensagen oder gar nicht kennen, die können in ihrer Erinnerung natürlich völlig falsche Bilder entwickeln.
Ich sage das aus folgendem Grund: Wir werden in der nächsten Woche die Ergebnisse des Sachsen-AnhaltMonitors 2009 veröffentlichen. Sie erinnern sich möglicherweise noch an die Ergebnisse des SachsenAnhalt-Monitors 2007. Ich sage heute schon: Viel besser sind die neuen Ergebnisse auch nicht. Darüber hinaus gibt es eine neue Studie über das DDR-Bild von Schülern in Sachsen-Anhalt, die in den nächsten Tagen veröffentlicht werden wird.
Ich kann nur empfehlen, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, und kann nur hoffen, dass die Bilder, die heute wieder gezeigt werden, uns dabei helfen, ein sachgerechtes Bild zu entwickeln, ein Bild von dem Mut, von der Entschlossenheit und auch von der Besonnenheit derjenigen, die damals auf die Straße gegangen sind.
Wir kennen einige wenige mit Namen und ehren sie. Ich will aber ganz deutlich sagen: Es sind die vielen namenlosen, stillen Helden, die damals das erreicht haben, wofür wir heute dankbar sind und weswegen wir heute hier sitzen können.
Frau Präsidentin, ich sehe das rote Licht und bitte darum, noch zwei, drei Sätze sagen zu dürfen. - Sie haben Recht, dass wir damals Freiheit wollten. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, damals darüber nachzudenken, dass selbst der verantwortungsbewusste Umgang mit der Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist.
Deswegen würde ich gern anregen, dass wir uns auch darüber einmal unterhalten und darüber nachdenken, was wir mit der Freiheit gemacht haben - das muss nicht alles richtig gewesen sein -, und dass wir einmal die Gelegenheit nutzen, uns darüber auszutauschen.
Ich schlage vor, das in Erinnerung an den 9. November im November zu machen, weil der Fall der Mauer uns jene Freiheit beschert hat, die wir wollten und die verantwortungsvoll auszugestalten wir auch heute noch als Aufgabe ansehen müssen. - Vielen Dank.
Danke sehr, Herr Ministerpräsident. - Bevor der Abgeordnete Herr Wolpert für die FDP-Fraktion spricht, begrüße ich die Schülerinnen und Schüler der Sekundar