Protokoll der Sitzung vom 12.11.2009

Wer wie wir alle hier die Aufgabe hat, Ordnungen zu setzen, setzt der Freiheit anderer Grenzen und gibt ihr einen Rahmen. Das bedeutet auch für uns eine besondere Verantwortung für die Freiheit derer, die uns gewählt haben.

Schon 1959 hat der Philosoph Hans Bloch - manche werden ihn kennen - in seinem Werk „Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien“ das schwierige Abwägen von „Freiheit gewähren“ und „Ordnung setzen“ beschrieben. Erst gegen Ende der DDR durfte dies bei uns gedruckt werden. Auch wenn wir nicht immer darüber sprechen, ist dies eine immer wieder neu auszubalancierende Aufgabe für jeden Gesetzgeber.

Wer die Unfreiheit selbst erlebt hat, wird die Freiheit für immer zu schätzen wissen. Für viele wird deshalb der 9. November 1989 für immer ein Tag der Freude bleiben.

(Beifall bei der CDU und von der Regierungsbank - Zustimmung bei der SPD - Zuruf von der LIN- KEN)

Aber, meine Damen und Herren, ich weiß auch: Wer keine Chancen sah, die Freiheit leben zu können, wird das anders sehen. Wer sein eigenes Lebensschicksal nicht in den Jubelbildern wiederfindet, wird sich wahrscheinlich auch nicht mit uns freuen können. Die demokratischen Freiheiten werden in der Realität von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen oft nicht als Vorteil empfunden.

Schon in den 60er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts warnte der Philosoph Adorno: „Wer Freiheit will, muss vom Problem der Freiheit Rechenschaft geben.“ Für uns, die wir ein Leben in Freiheit wollen, muss es also auch Aufgabe sein, uns selbst darüber Rechenschaft abzulegen, wie sehr es uns gelungen ist, sie, diese Freiheit, zu gestalten, um unseren Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in dieser Freiheit ermöglichen zu können.

Juristisch mag das kein Problem sein. Um sein Leben in Freiheit gestalten zu können, ist aber mehr, auch Teilhabe, erforderlich. Jeder von uns weiß, dass wir dieses Ziel noch nicht für alle erreicht haben.

Um uns über die Situation in unserem Land einen Überblick zu verschaffen, haben wir auch in diesem Jahr wieder einen Sachsen-Anhalt-Monitor in Auftrag gegeben. Die veröffentlichten Ergebnisse sind Ihnen wahrscheinlich bekannt.

Auf die Frage „Was wäre Ihnen wichtiger: Freiheit oder Gleichheit?“ haben sich im Jahr 2009 bei uns 54 % für die Freiheit und 40 % für die Gleichheit entschieden. Die Werte von 2007 waren ähnlich. Diese Frage gehört trotz methodischer Vorbehalte zu jenen Fragen, die in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands noch sehr unterschiedlich beantwortet werden.

Die persönliche Einstellung zum gefühlten Wert der Freiheit ist nicht nur eine Frage der Lebensverhältnisse, sondern auch Ausdruck der Würde und der Selbstachtung jedes einzelnen Menschen. Deswegen nehmen wir solche Ergebnisse auch ernst. Aber Freiheit gegen soziale Gleichheit abzuwägen, ist nicht unproblematisch. Wer die Freiheit aufgibt, um soziale Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren; auch das wissen wir.

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Wer das aber nicht selbst erlebt hat, wird daran immer wieder zweifeln; denn wer die Freiheit mehr schätzt, muss auch bereit sein, mehr Risiken in Kauf zu nehmen.

Die Aufgabe, wieder ein auf Selbständigkeit stolzes Unternehmertum bei uns aufzubauen, ist noch lange nicht abgeschlossen. Sie muss schon in der Schule ansetzen und braucht eine eigene Kultur der Freiheit. Aber da nur so Arbeitsplätze für andere entstehen, ist die Entwicklung unternehmerischen Denkens auch eine wichtige Voraussetzung für stabile Sozialstrukturen.

(Zustimmung von Herrn Wolpert, FDP, und von Herrn Franke, FDP)

Deshalb muss auch die Erinnerung an den 9. November 1989 mehr sein als ein Erinnern an einen Tag selbst erlebter Freude.

Wenn er für zukünftige Generationen mehr sein soll als ein Tag aus dem Geschichtsbuch, müssen wir ihnen den Wert der Freiheit weitervermitteln und an sie die Kultur gelebter Freiheit weitergeben. Dazu gehört, dass jede Generation aufs Neue zur Freiheit befähigt und zum verantwortlichen Umgang damit geprägt wird; denn - auch das wissen wir alle - der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann.

Für uns, die wir uns zusammen mit unseren östlichen Nachbarn aus vormundschaftlichen Sozialstrukturen zur Freiheit selbst befreit haben, bedeutet das viel. Wir müssen deutlich machen, dass Freiheit nicht nur ein Privileg ist, das Chancen bedeutet, sondern Verpflichtung und Aufgabe.

Nur eine Gesellschaft mit einem breiten Wertekonsens kann sich Freiheit leisten. Je mehr wir uns gegenseitig misstrauen, umso mehr müssen wir das Zusammenleben durch Ordnungen regeln. Je mehr wir unserer eigenen Leistungsfähigkeit vertrauen, desto weniger wollen wir von den Leistungen anderer durch Umverteilung partizipieren.

Die Normvorstellungen von individueller Autonomie einerseits und Sozialpflichtigkeit andererseits sind in den einzelnen Kulturen unterschiedlich. Auch wir müssen diese Verhältnisse immer wieder aufs Neue für unsere Kultur der Freiheit ausbalancieren.

Ebenso wie die Demokratie ist die errungene Freiheit kein unveränderlicher Zustand, sondern wohl eher eine permanente Aufgabe. Beides sind keine Naturgeschenke, sondern Chancen, die wir immer wieder erobern müssen. Ich denke, meine Damen und Herren, auch dies gehört zum Erinnern.

In der ältesten demokratischen Staatsform, im alten Griechenland, galt der Satz: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit.“ Wir wollen uns über dieses Glück nicht nur freuen, wir wollen es erhalten und zukünftigen Generationen weitergeben. Dieses Zitat geht weiter: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“ Wir danken denen, die den Mut hatten, für uns die Freiheit zu erringen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich möchte mich zunächst beim Herrn Ministerpräsidenten für die Abgabe der Regierungserklärung bedanken.

Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 2 b:

Aussprache zur Regierungserklärung

Bevor ich sie eröffne, möchte ich Gäste auf der Tribüne in diesem Hohen Hause begrüßen. Es handelt sich um Damen und Herren vom Technologie- und Bildungszentrum Magdeburg und von der Bildungsgesellschaft Magdeburg. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Der Ältestenrat schlägt die Redezeitstruktur E vor. Die Redereihenfolge wird sein: DIE LINKE, SPD, FDP und CDU. Ich erteile Herrn Gallert von der Fraktion DIE LINKE das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten gibt die Gelegenheit zu einer von der Tagespolitik abgehobenen Diskussion über die Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie wird in einer Zeit gegeben, in der die 20. Jahrestage des Gedenkens an die friedliche Revolution uns alle, die gesamte Gesellschaft, nun doch schon seit einigen Monaten intensiv beschäftigen. Sie wird aber auch in einer Zeit gegeben, die viele, selbst konservative Politiker inzwischen als die schwerste Krise des Kapitalismus seit Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnen und deren Auswirkungen uns ebenso wie die Feierlichkeiten seit Wochen und Monaten intensiv beschäftigen, spätestens bei der Haushaltsdebatte.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte über die Grundwerte und Entwicklungsperspektiven unserer Gesellschaft gibt. Ich will das in aller Deutlichkeit sagen: Wir verfallen nicht in die Illusion, dass die Politik diese Debatte vorstrukturiert oder ihr sogar Zielrichtungen gibt. Das war mal versucht worden, das ist grandios gescheitert. Wenn wir als Politiker darüber reden, müssen wir uns etwas demütig die Erkenntnis gefallen lassen: Wir sind nicht diejenigen, die diese Debatte organisieren, nein, wir sind Resultat dieser Debatte.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen ist es übrigens überhaupt nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Parteien unterschiedliche Wertehierarchien und gesellschaftliche Analysen und Zielvorstellungen vertreten. Denn das ist der Ausdruck dieser unterschiedlichen Zielvorstellungen und Wertehierarchien in unserer Gesellschaft. Deswegen wäre es falsch, solch eine Debatte mit den Kategorien falsch und richtig und gut und böse zu führen. Sie muss vielmehr geführt werden, indem man politische Konzepte auf ihre Zielvorstellungen und Wertehierarchien hinterfragt und diese offen legt und Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauskristallisiert, um uns und anderen die Gelegenheit zu geben, dann zwischen Alternativen zu wählen.

Die wahre Kunst besteht jedoch in dieser pluralen Gesellschaft darin, aus dieser breiten Palette eine handlungsfähige Mehrheit herauszuziehen. Aber auch das ist seit fast 20 Jahren Thema in diesem Haus, also keine unbekannte Aufgabe.

Die eigentliche Herausforderung, die eigentliche - Neudeutsch - mentale Herausforderung ist aber, glaube ich, etwas anderes, nämlich Mehrheit nicht mit Wahrheit zu verwechseln, zu wissen, selbst dann, wenn man eine Mehrheitsposition vertritt, kann man einem Irrtum unterliegen, und zu wissen, dass man nicht nur selbst irren kann, sondern dass jeder von uns, also auch der andere, ein Recht auf Irrtum hat, weil es eben eine objektive Wahrheit nicht gibt, an der man die politische Willensbildung und Meinungsbildung zwischen falsch und richtig unterscheiden kann.

Der Titel der Aktuellen Debatte des Ministerpräsidenten versucht nun, die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 und in den darauffolgenden Jahren mit dem Begriff der Freiheit zu strukturieren. Er knüpft dabei an eine intensive Diskussion über die Befähigung der Gesellschaft zum Gebrauch der Freiheit an. Wir schlagen dagegen ein anderes begriffliches Ordnungssystem vor, nämlich das Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit.

Dabei erkennen wir ausdrücklich an, dass sich die friedliche Revolution vor 20 Jahren ganz zentral auf die Erlangung der Freiheit konzentrierte. Ihre Abwesenheit hat in der DDR bei vielen Tausenden zu Protesten geführt und hat 1989 bei Hunderttausenden zu Protesten geführt. Ihre Abwesenheit hat das politische System der DDR erst erstarren und dann versteinern lassen. Ihre Abwesenheit hat das wirtschaftliche System der DDR zum Zusammenbruch geführt.

Jedoch wurde auch in den Jahren 1989 und 1990 sehr schnell deutlich, dass Freiheit allein kein gesellschaftlicher Gegenentwurf ist. Insofern ist es völlig natürlich und erklärlich, dass sich diejenigen, die die friedliche Revolution in der DDR auf den Weg gebracht haben, danach in fast allen unterschiedlichen politischen Gruppierungen und Parteien wiederfanden. Das ist logisch, weil Freiheit allein noch kein gesellschaftliches Gegenkonzept ist und man selbst dann glaubwürdig für die Freiheit eintreten kann, wenn man sehr unterschiedliche politische Ziel- und Gesellschaftskonzeptionen vertritt.

Hier im Landtag von Sachsen-Anhalt - das glaube ich ausdrücklich - geht es nicht darum, die Anerkenntnis der Freiheit als Grundwert zwischen uns streitig zu stellen, sondern ich glaube, hier geht es um das Verhältnis der Freiheit zu anderen gesellschaftlichen und Wertekategorien wie Gleichheit, wie Sicherheit, wie Gerechtigkeit. Ich sage das auch mit einiger Freude, weil - selbst das ist keine Selbstverständlichkeit - in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen die NPD in den Landtagen vertreten ist. Dort besteht der Dissens sehr wohl auch hinsichtlich der Frage, ob Freiheit garantiert werden soll oder nicht.

Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit komme ich jetzt aber zu einem ganz zentralen Dissens zwischen der Bewertung durch den Ministerpräsidenten und uns.

Herr Böhmer, Sie vertreten nicht erst heute, sondern seit einigen Jahren die These, dass eine Gesellschaft, die frei ist, bei der Verteilung der Ressourcen, bei der Garantie sozialer Gerechtigkeit, bei der Gewährung von sozialer Sicherheit an ihre Grenzen stößt, und wenn sie diese gesellschaftlichen Zielvorstellungen noch weiter umsetzen würde, müsste sie sich in eine Diktatur zurückverwandeln.

Ich sage ausdrücklich: Wir teilen diese Position nicht. Und ich sage - darauf komme ich am Ende noch einmal zurück -, ich halte sie ehrlich gesagt auch für sehr gefährlich. Unsere gesellschaftliche Zielstellung bleibt eine Gesellschaft, in der Freiheit und Gerechtigkeit gleichwertige Grundwerte darstellen, die einander nicht bekämpfen, sondern sich gegenseitig bedingen und befruchten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie aber sehen die Menschen in Sachsen-Anhalt diesen Zusammenhang und wie bewerten sie diese Diskussion? Dazu gibt uns der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 wie bereits im Jahr 2007 wichtige Anhaltspunkte. Wir machen hier ganz bestimmt nicht den Fehler, jede Zahl sozusagen als hundertprozentige Wahrheit über das Meinungsbild der Menschen in Sachsen-Anhalt zu bewerten. Dazu gibt es methodisch hier und da sicherlich berechtigte Kritik. Aber das Gesamtbild, das hier dargestellt wird, ist schon interessant.

Ich bin zumindest an einer Stelle froh, und zwar darüber, dass ich bisher zumindest noch nicht die reflexartige Reaktion auf den Sachsen-Anhalt-Monitor 2007 gehört habe, die da lautete, von vielen vertreten: Da, wo die

Menschen nicht mehrheitlich die Überzeugung vertreten, die wir im Landtag vertreten, müssen sie jetzt ordentlich politisch gebildet werden, dann kriegen sie die Überzeugung schon.

Dazu sage ich ausdrücklich: Diese Position war damals falsch, und wenn sie heute jemand artikulieren würde, wäre sie heute auch falsch. Ich sage das ausdrücklich vor dem Hintergrund, dass ich mich nach der Wende einige Jahre beruflich intensiv mit den Chancen und Möglichkeiten der politischen Bildung beschäftigt habe.

Lassen Sie mich aus dem Sachsen-Anhalt-Monitor einmal einige Reflexionen herausziehen. Da nehme ich mal die Reflexion auf die Institutionen, die hier im Raum vertreten sind, nämlich Landtag und Landesregierung. Jetzt gehe ich zu dem konstitutiven Begriff Freiheit. Ich glaube, niemand in Sachsen-Anhalt wird ernsthaft bezweifeln, dass sich diese beiden gesellschaftlichen Institutionen in einem freiheitlichen Verfahren, in einem freiheitlichen Prozess legitimiert haben. Wir haben freie, gleiche und geheime Wahlen in diesem Land. Wir haben ein klares, definiertes, in der Verfassung stehendes System, wie diese Landesregierung legitimiert wird. Wir haben, glaube ich, in diesem Land Sachsen-Anhalt nicht ernsthaft eine Kritik an diesem Verfahren.

Aber trotzdem haben wir die Situation, dass, befragt, ob sie Vertrauen in diese Institutionen haben, von dem Souverän, nämlich dem Wähler, laut Sachsen-Anhalt-Monitor nur 37 % sagen, sie hätten Vertrauen in den Landtag, und nur 41 % ihr Vertrauen bei der Landesregierung ansiedeln würden. Diese Werte sind seit 2007 noch einmal zurückgegangen, bei dem Landtag um 2 und bei der Landesregierung um 4 Prozentpunkte.

Nun will man bei solchen Schwankungen nicht mehr hineinlesen, als man hineinlesen sollte, aber es gibt hierzu auch einen Langzeitvergleich, und der ist aufschlussreich: Befragt im Jahr 2007, waren es für die Landesregierung noch 15 Prozentpunkte und für den Landtag noch 20 Prozentpunkte mehr.

Wenn man dies einander gegenüberstellt, dann muss man von einem deutlichen und massiven Vertrauensverlust in die politischen Institutionen Landesregierung und Landtag reden, und - ich sage es mit aller Deutlichkeit - dieser ist so massiv, dass wir auch von einer Krise des politischen Systems in diesem Land reden müssen und uns davor nicht verschließen dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)