So viel, meine Damen und Herren, zu dem Kapitel persönliche Erinnerungen, Prägungen und auch Einschätzungen in dem Sachsen-Anhalt-Monitor - darüber muss man sich im Klaren sein - und zu dem, was jetzt die objektivierende Geschichtsschreibung an Tatsachen auf den Tisch bringt. Ich habe vorhin gesagt: Erinnerungsarbeit ist ein schweres Geschäft. Das gilt für jeden Einzelnen in diesem Parlament, aber wahrscheinlich auch für viele Bürgerinnen und Bürger, die nicht Mitglied dieses Parlaments sind.
Jetzt meine Frage: Gab es denn auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht Vorboten der friedlichen Revolution? - Ich meine, ja. Ich habe schon einmal daran erinnert und möchte es an dieser Stelle wiederholen: Für mich gehört die ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu den Vorboten dieser friedlichen Revolution und des Mauerfalls, obwohl sich viele Delegierte, auch ich selber, damals natürlich nicht so verstanden haben.
Aber wir beobachten oft, dass die Akteure geschichtlicher Ereignisse erst im Nachhinein interpretieren können, wie sich die Ereignisse - ich will es einmal so sagen - Bahn gebrochen haben und in welchem geschichtlichen Gesamtzusammenhang sie gestanden haben. Das erkennt man in der Situation meistens nicht.
Aber damals haben die Kirchen - es waren übrigens 19 - sich gegenseitig auf zwei Versammlungen verpflichtet, unter dem Motto „Eine Hoffnung lernt gehen“ nach einem gerechten Weg für unsere Gesellschaft zu suchen. Sie haben auch versucht, weit über den kirchlichen Raum hinaus durch vielerlei Gesprächsforen weite Teile der Gesellschaft in diese Suche nach einer gerechten und friedlichen Gesellschaft einzubeziehen.
Die Menschen überwanden ihre Angst. Sie überwanden mehr und mehr ihren Kleinmut, dass sie vielleicht doch zu wenige sein könnten und dass sie letztlich vielleicht doch nichts ausrichten könnten. Sie erlebten die Konkretion des Weltauftrags der Kirchen, wie es nicht oft nicht geschieht, meine Damen und Herren.
Deshalb sind die damals gewonnenen Einsichten klugerweise als vorläufige Einsichten formuliert worden. Heute sind sie natürlich historische Dokumente. Wir würden sie nie zu politischen Programmen erheben wollen. Aber dass damals ernsthaft nach einer Alternative zu dieser Gesellschaft gesucht worden ist, das, so denke ich, bleibt in der Nachschau nach meiner Auffassung eine der hervorragenden historischen Vorläufergeschichten, die zur friedlichen Revolution dazugehören, meine Damen und Herren.
Wir finden übrigens, wenn wir uns unsere Dokumente genauer anschauen, Begriffe wie Nachhaltigkeit, Evolution und friedliche Entwicklung. Viele dieser Formulierungen finden sich in einem ganz anderen Vokabular in Dokumenten, die schon vor zehn, 20, 30 Jahren geschrieben wurden. Man muss nur, wenn man Geschichte ein Stück weit lesen will, in der Lage sein, diese Vokabeln zu transponieren und in unseren heutigen Sprachgebrauch zu übersetzen.
Übrigens ist eines wichtig - das darf nie vergessen werden -: Die Menschen, die sich damals darin einig waren, dass die Gesellschaft, die sie erleben mussten, abgeschafft werden sollte, fanden sich hinterher, als die Gesellschaft abgeschafft war, in sehr unterschiedlichen politischen Gruppierungen wieder. Sie streiten sich heute herzhaft und manchmal sogar heftig darüber, welcher Weg denn nun heute der richtige für eine solidarische und gerechte Gesellschaft ist.
Aber ich glaube, das ist in gewisser Weise gar nicht verwunderlich und auch gar nicht schlimm, so lange wir alle in dem demokratischen Spannungsbogen bleiben und uns gegenseitig dazu verpflichten zu untersuchen, wie denn die drei Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit richtig gegeneinander abgewogen werden, und was heute und jetzt notwendig ist, um diese ursprünglichen Werte der französischen Revolution umsetzen zu können, meine Damen und Herren.
Nun ist die Erinnerung an die Geschichte auch deshalb durchaus interessant und manchmal kompliziert, weil man den Eindruck hat, dass die Geschichte ja nicht gleichmäßig fließt. Wir haben weite Zeiträume, von denen man meint, es passiere so gut wie nichts. Dann haben wir Verdichtungszeiträume, in denen man kaum hinterherkommt, weil die Tage so voll von Ereignissen sind.
Diese Erfahrung haben schon die Menschen vor einigen Jahrzehnten gemacht. So kann man das bei Hegel finden. Hegel definierte die Zeit als eine Knotenlinie von Maßverhältnissen. Das heißt, die Zeit fließt nicht gleichmäßig dahin. Ich glaube, dass 1989/90 fast alle die Empfindung hatten, dass wir uns damals in einem so genannten Zeitknoten befanden, der sich von Tag zu Tag spürbar verdichtete und sich letztlich unvergesslich in unser Gedächtnis eingeprägt hat.
Der Ruf „Wir sind das Volk!“ brachte die sozialistische Diktatur zum Wanken. Die beabsichtigte oder durch eine verunglückte Pressekonferenz unbeabsichtigt veranlasste Maueröffnung am 9. November machte auf alle Fälle irreversibel den Weg für die deutsche Wiedervereinigung frei. Der Ruf „Wir sind ein Volk!“ konnte in den Folgemonaten erfolgreich international verhandelt und schließlich mit dem Einigungsvertrag auch national umgesetzt werden.
Meine Worte, meine Damen und Herren, können heute nur unzureichend beschreiben, welch glückliche Stunde Deutschland damals schlug.
Weil unser Sprachvermögen unvollkommen ist, ist es umso wichtiger, dass es bis heute schon eine beträchtliche Anzahl von guten Büchern, Dokumentationen und Filmen gibt, die erschienen sind oder in diesen Tagen noch erscheinen werden und die an diesen Herbst erinnern; denn wir müssen immer bedenken: Die eigene Erinnerung ist unvollständig; sie muss in das geläuterte kulturelle Gedächtnis eingebettet werden. Wir müssen auch bedenken: Für Menschen, die jünger als 30 Jahre sind, sind diese Ereignisse wahrscheinlich einfach Geschichte.
Deshalb ist es für die Zukunft unseres Volkes wichtig, wie diese Geschichte geschrieben wird, weil die Erfahrungsgeneration immer älter wird und irgendwann als Erfahrungsgeneration herausgewachsen sein wird.
Damit, meine Damen und Herren, bin ich schon beim Heute und bei dem Versuch, ein Stückchen in die Zukunft zu schauen, so gefährlich das auch ist. Ich will aber auch einige Aspekte des Sachsen-Anhalt-Monitors 2009 herausgreifen, zitieren und vielleicht auch interpretieren.
Der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 hat versucht, Werte und politisches Bewusstsein 20 Jahre nach dem Systemumbruch zu erfragen. Werteorientierungen spiegeln 20 Jahre nach dem Mauerfall die Einstellung der Sachsen-Anhalter zu ihrem Leben wider. Empiriker gegen davon aus, dass sich Wertorientierungen durch eine hohe Stabilität auszeichnen, das heißt, sie bleiben in der Regel ein Leben lang erhalten. Den Sachsen-Anhaltern sind private Wertorientierungen am wichtigsten. Darin unterscheiden sie sich wahrscheinlich nicht von anderen Menschen.
Interessant ist: Während der Stolz auf die Geschichte noch im Jahr 1997 als eher unwichtig wahrgenommen wurde, sind sich die Sachsen-Anhalter im Jahr 2009 einig, dass dieser Wert als eher wichtig einzustufen ist. Sechs von zehn Menschen in Sachsen-Anhalt interessieren sich stark oder sehr stark für die Politik. Und jetzt werte ich etwas anders als meine Vorredner: Dieses korreliert in etwa mit den Wahlbeteiligungen, die wir erreichen. Das heißt auf der anderen Seite aber auch ganz nüchtern, dass wir Politiker ca. 40 % der Menschen
kaum erreichen, was uns immer wieder zu denken geben muss. Aber diese Grenze ist wohl so einfach auch nicht zu überschreiten.
Nach wie vor ist die große Mehrheit der Sachsen-Anhalter, das heißt 79 %, davon überzeugt, dass die Demokratie die beste aller denkbaren Staatsideen ist. 89 % meinen, dass die Achtung vor Andersdenkenden und anderen Lebensweisen essenziell für die lebendige Demokratie sei. So viel zu den Gefahren des Extremismus: Einer Diktatur würden selbst in Notzeiten nur 15 % den Vorzug geben.
Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist seit dem Jahr 2007 gewachsen, auch wenn das Vertrauen zu uns im Parlament nicht gerade gewachsen ist. Jeder zweite Befragte äußert sich mit der Art und Weise, wie Demokratie im Großen und Ganzen funktioniert, „sehr zufrieden“ bzw. „ziemlich zufrieden“.
Die Leute erwarten auch nicht alles vom Staat. Für bestimmte Regelungsbereiche, von denen sie meinen, dass der Staat keine unmittelbare Verantwortung trägt, vertrauen sie mehr auf ihre eigene Kraft. Ich glaube, dieses ist zu stärken. Der Ministerpräsident hat in seinen Ausführungen noch einmal ganz deutlich gesagt: Wir brauchen auch den Mut zu mehr Eigenverantwortung, wir brauchen den Mut zu mehr Eigenvorsorge, wir brauchen den Mut zu mehr Selbständigkeit.
Der Staat muss dort helfen, wo der Einzelne überfordert ist. Aber der Staat kann auch zu viel tun und die Menschen vielleicht sogar ungewollt in die Unmündigkeit führen, meine Damen und Herren.
Es ist interessant, dass nach wie vor bestimmte Vorzüge der DDR zugeordnet werden: Das Leben in ihr wird als sozialer, gegen Lebensrisiken besser abgesichert und die zwischenmenschlichen Beziehungen werden als verträglicher betrachtet. Aber insgesamt gibt es mit wachsendem zeitlichen Abstand keine zunehmende Verklärung der DDR, wie wir sie in unseren Diskussionen untereinander manchmal befürchten.
Für 22 % der Sachsen-Anhalter war die DDR „ganz eindeutig“ ein Unrechtsstaat, für 30 % „eher“ ein Unrechtsstaat.
72 % glauben aber auch, der Sozialismus sei eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Das gibt mir natürlich zu denken, und nun komme ich wieder einmal zur Geschichtsschreibung.
Zum Glück, meine Damen und Herren, zeigt sich nach dem Öffnen bisher verschlossener Archive, dass hierüber ein Stückchen Aufklärungsarbeit gemacht werden muss. Denn schon den so genannten Klassikern des Marxismus-Leninismus waren nach meiner Auffassung Menschenrechte und Demokratie fremd. So weist die Historikerin Catherine Merridale nach, dass zuerst Lenin Massenmorde als Mittel der bolschewistischen Revolution angeordnet hat, nicht Stalin, sondern Lenin. In einem Brief an Molotow, der erst aufgrund von Gorbatschows Glasnost - also „Wahrheit“ - veröffentlicht wurde, schrieb Lenin:
„Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir gegen die Geistlichen einen entscheidenden und gnadenlosen Krieg führen müssen. Wir müssen ihren Widerstand mit so viel Grausamkeit bre
chen, dass sie dies mehrere Jahrzehnte lang nicht vergessen werden. Je mehr Geistliche wir erschießen können, desto besser.“
Originalzitat Lenin. - Wer so etwas an einen Mitkämpfer, an Molotow schreibt, dem spreche ich ab, dass er eine humanitäre, neue und gerechte Gesellschaft schaffen möchte, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP - Herr Gallert, DIE LINKE, meldet sich zu ei- ner Zwischenfrage)
Herr Gallert, Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob die Beschreibung der DDR-Wirklichkeit als Abwesenheit von Freiheit nicht zu schwach ist.
Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken. Ich befürchte, mit diesem Vokabular unterliegen Sie einem Geschichtsrelativismus. Wenn Sie - für meine Begriffe nicht zum ersten Mal, aber erstaunlicherweise - behauptet haben, es gebe in der Geschichtsschreibung keine Wahrheiten, man könne die Geschichte so oder so sehen, meine ich, es gibt Dokumente, wie zum Beispiel diesen Brief, den ich nicht anders zu interpretieren wüsste.
Aber letztlich war ja Lenin kein dummer Mensch. Ich vermute, die eigentliche Hybris liegt darin, dass auch er dem Irrtum unterlegen war, es gäbe ein Recht, den neuen Menschen mit allen Mitteln, zur Not auch mit Gewalt schaffen zu wollen und zu dürfen. Aber diese Grenze darf keiner überschreiten.
Wenn wir mit unseren Argumenten die Menschen nicht erreichen - jeder Politiker wird sich wahrscheinlich oft darüber ärgern, warum die Leute das nicht kapieren, was man selber so klasse findet -, haben wir leider kein anderes Mittel als unser Wort, und wir dürfen auch nicht eine Sekunde lang in den Gedanken verfallen, man dürfte und könnte andere Mittel verwenden.
Ich glaube, das unterscheidet eindeutig die Diktatur von der Demokratie. Wir sind in dem Sinne schwach, als wir auf unser Wort angewiesen sind. Deshalb müssen wir dieses auch, so lange es irgend geht, vernünftig und verantwortungsvoll verwenden, meine Damen und Herren.
Erfreulich ist, dass der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 darstellt, dass 77 % der Bevölkerung den Mauerfall als ein freudiges Ereignis begreifen. Deshalb, denke ich, dürfen wir uns alle in Sachsen-Anhalt mit der gesamten Bevölkerung in Deutschland und darüber hinaus freuen, meine Damen und Herren.
Deutschland ist bisher gut zusammengewachsen und wird weiter zusammenwachsen. Was wir heute diskutieren, ist für die 14- bis 19-Jährigen ziemlich unverständlich. Die Gesellschaft für Konsumforschung ermittelte, dass für 80 % dieser Personengruppe die Herkunft keine Rolle mehr spielt.
Aus einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über das Geschichtsbild der Deutschen 20 Jahre
nach dem Fall der Mauer wird deutlich: Je jünger die Menschen im Jahr 1989 waren, umso weniger erklären sie sich heute überrascht vom Fall der Mauer. Die jüngeren Befragten halten den Fall der Mauer eher für selbstverständlich. Im Rückblick scheint der Verlauf der Geschichte verstärkt als eine logische und stringente Entwicklung interpretiert werden zu können. Daher urteilt der Theologe Richard Schröder in seiner vor wenigen Tagen vor dem Landkreistag verbreiteten Rede zu Recht: „Die deutsche Einheit ist besser als ihr Ruf.“
Da ich schon beim Zitieren bin, lassen Sie mich auch einen katholischen Pfarrer im Ruhestand aus Magdeburg zitieren, der für meine Begriffe, weil er die Menschen kennt, sehr schön formuliert hat:
„Viele haben es vergessen oder wussten es von Anfang an nicht klar, was das Volk vor 20 Jahren wirklich erkämpfen wollte und konnte: Die Freiheit, aber nicht das Schlaraffenland! Einen Rechtsstaat, aber nicht völlige Gerechtigkeit! Ein besseres System, aber nicht bessere Menschen!“