Und die Folgen kamen prompt. Das ließen sich die Menschen nicht zweimal sagen. Noch in der Nacht gab es einen Massenansturm auf die Grenzübergänge, vor allen Dingen in Berlin.
Eigentlich waren das Chaos und die Katastrophe vorprogrammiert - die fehlende Befehlslage, die ungeduldigen Menschenmassen, die zur Verfügung stehenden Waffen. Eine unüberlegte Handlung hätte der Funke zur Explosion sein können, und doch blieb es friedlich und gewaltfrei wie in den Tagen zuvor.
Als dann der Damm brach, schien die Freude unfassbar, mit Worten nicht auszudrücken. Es war nicht nur ein Anlass zur Freude oder großartig; nein, wer die Bilder von damals sieht, der erkennt die Menschen in einem euphorischen Ausnahmezustand, die Wangen vor Aufregung gerötet, zwischen Lachen und Weinen. Die einen still in sich gekehrt, wie in Trance, die anderen, aufgewühlt und mit weit aufgerissenen Augen, schrien: „Wahnsinn!“. Sie hatten sich das erkämpft, was sie sich sehnlichst gewünscht hatten: Sie hatten die Freiheit erlangt.
Meine Damen und Herren! Freiheit ist ein großes Wort, das eigentlich immer nur dann in das Bewusstsein rückt, wenn man sie vermisst. Als ständiger Begleiter ist sie unauffällig, fast unscheinbar. Freiheit ist kaum spürbar, wenn sie selbstverständlich ist.
Am 9. November 1989 war sie spürbar. Sie kam mit der Wucht eines Paukenschlages, den die ganze Welt hören konnte. Sie war so gegenwärtig, dass sie auch denen bewusst wurde, die sie bereits seit Jahrzehnten hatten. Die Menschen nahmen sich die Freiheit und sie feierten sie ausgelassen. Das war die Freiheit zum Jubel, die Freiheit von Bedrängnis, die Freiheit von Bevormundungen, von Beschränkungen und von Angst. Das war die Freiheit des Berufes, der Meinung, der Versammlung und der Presse - die Chance eben, sein Leben nach eigenen Plänen zu gestalten.
Die Folge des 9. Novembers war nicht, wie von vielen ursprünglich angedacht, die Wandlung der DDR, son
dern die Einheit. Die Dynamik, die diese Frage nach dem 9. November annahm, war unaufhaltsam. Und, meine Damen und Herren, das ist auch gut so.
Der Fall der Mauer, die Überwindung eines die Freiheit verachtenden Systems ist ein Grund zur inneren Freude, aber eben auch ein Symbol, das weltweit erkannt wurde. An dieser Stelle sei allen Dank gesagt, die dazu beigetragen haben; besonders den Menschen in Ostdeutschland, aber auch denen im Westen, vor allen Dingen aber auch den Nachbarn und Freunden Deutschlands, die zunächst zögerlich und skeptisch auf ein neues, größeres Deutschland geschaut haben. Es war für manche eine große Überwindung, Deutschland einen Vertrauensvorschuss zu geben.
Meine Damen und Herren! Ich glaube auch sagen zu dürfen, dass wir diesem Vertrauensvorschuss in den letzten 20 Jahren gerecht geworden sind. Deutschland befindet sich in einem geeinten Europa, umgeben von Freunden, Nachbarn und Partnern. Deutschland hat durch die Einheit das Bild des hässlichen Deutschen endgültig abgelegt und ist in der Welt geachtet und respektiert.
Das beweist nicht zuletzt die Tatsache, mit welcher Anteilnahme die Welt die Feiern zum 20. Jahrestag begleitet hat. In Berlin waren Staatsvertreter aus den Ländern und Friedensnobelpreisträger anwesend. In vielen Teilen der Welt wurde der Fall der Mauer nachgespielt und gefeiert. Wer sich die Feier selbst angesehen hat, der hat gesehen, dass sie würdig war, aber auch bunt, fröhlich und unkompliziert. Man sah eine Kanzlerin, die im Gedränge beherzt das Mikrofon nahm und Zeitzeugen interviewte. Wer den Wandel feststellen will, der sehe sich noch einmal die Bilder zum 40. Jahrestag der DDR an.
Meine Damen und Herren! Mit der Einheit kam auch der andere Teil der Freiheit, nämlich die Verantwortung. Die Freiheit musste organisiert werden. Nahezu alle Lebensbereiche wurden umgestaltet: Wirtschaft, Währung, Eigentum, Wahlrecht, Bildungswege, Verwaltung, Kommunen, Länder. Fast glaubte man, kein Stein bliebe auf dem anderen. In einem gewissen Sinne war das ja auch so.
Die Folge war Ernüchterung. Es wuchs die Erkenntnis, dass Freiheit allein keine gerechte Welt schafft. Freiheit bringt Unterschiede im positiven wie im negativen Sinne und ungezügelt neigt sie sich dem einen im Übermaß zu und verweigert sich dem anderen gänzlich. Freiheit braucht Verantwortung, damit jedermann sie nutzen kann und andere nicht zu Schaden kommen.
Freiheit heißt auch immer Verantwortung nicht nur gegenüber anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Eigenverantwortung heißt im positiven Sinne, sein Leben selbst gestalten zu können, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und sein Glück zu schmieden. Freiheit ist aber auch ein unbequemer Wegbegleiter. Sie fordert und einigen macht sie Angst. Manchen überfordert sie und manche Menschen fühlen sich ihr nicht gewachsen. Die Ängste führen zu dem Ruf nach Sicherheit und Geborgenheit; sie befördern den fürsorglichen Staat bis hin zum vormundschaftlichen Staat.
Meine Damen und Herren! Freiheit ist kein Automatismus. Sie kann verloren gehen. Sie muss täglich neu gewonnen werden und sie muss täglich neu verteidigt werden. Sie muss gelebt werden können.
Die größten Feinde der Freiheit sind Gleichgültigkeit und Angst. Beide Faktoren entspringen der Unkenntnis und der Unwissenheit. Die Angst vor dem Unbekannten lähmt den Menschen. Erkenntnis und Bildung sind der Schlüssel für den mündigen Bürger, der in die Lage versetzt ist, frei zu entscheiden und seine Freiheit zu nutzen. Ohne diese mündigen Bürger wird keine Freiheit und keine Demokratie zu gestalten sein.
Darin liegt die entscheidende Aufgabe der Gesellschaft. Die Menschen müssen ertüchtigt werden, mit der Freiheit umzugehen, und der Staat darf den Menschen die Gestaltung ihres Lebens nicht abnehmen. Gelingt uns das nicht, werden wir die Freiheit erneut verlieren.
Meine Damen und Herren! Freiheit ist zwar nicht alles, aber alles ist nichts ohne die Freiheit. Behalten wir den 9. November in Erinnerung und feiern wir ihn jedes Jahr. Ein zweites Mal werden wir dieses Glück nicht haben. - Danke.
Ich danke Herrn Wolpert für seinen Beitrag. - Wir kommen nun zu dem Debattenbeitrag der CDU-Fraktion. Bevor ich Herrn Scharf das Wort erteile, möchte ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Laucha auf der Tribüne begrüßen. Herzlich willkommen!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das größte Geschenk der jüngeren deutschen Geschichte ist zweifelsohne die vor 20 Jahren gewonnene Einheit Deutschlands.
Aus diesem Anlass hat der Ministerpräsident seine heutige Regierungserklärung unter den Titel „Zur Freiheit befreit“ gestellt. Ich möchte hinter diesen Titel ein deutliches Ausrufezeichen setzen, weil die Freiheit die Grundvoraussetzung dafür ist, auch die Werte der französischen Revolution Gleichheit und Brüderlichkeit erreichen zu können.
Ich sehe das Ringen der demokratischen Parteien in diesem Parlament und in anderen Parlamenten Deutschlands darum, die Nuancen zwischen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so auszutarieren und so zu setzen, dass ein für alle Menschen optimales Ergebnis herauskommt. Das wird wahrscheinlich auch die Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.
Nach 20 Jahren beginnt die Zeitgeschichte in Geschichte überzugehen. Nach 30 Jahren, so sagen die Historiker, ist die Quellenlage wissenschaftlich gesehen am besten, weil in der Regel alle Archive offen sind, es noch genügend Zeitzeugen gibt und - das ist wahrscheinlich auch wichtig - die damals Handelnden in der Regel nicht mehr die momentan aktiv Handelnden sind, was die Geschichtsschreibung gelegentlich behindern könnte.
Meine Damen und Herren! So gesehen, befinden wir uns 20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit in einer Zwischenzeit - so möchte ich es einmal nennen. Die meisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Saal haben noch aktive Erinnerung daran oder waren sogar entscheidend an der friedlichen Revolution vor 20 Jahren beteiligt. Aber - das haben einige Reden deutlich gemacht - sind denn unsere Erinnerungen immer so zutreffend, wie wir meinen? Verführt uns nicht unser jeweiliger Gedächtnisoptimismus dazu, den Blick zurück und die Wertung der damaligen Hoffnungen und Erwartungen selbstgerecht zu filtern?
Meine Damen und Herren! Deshalb ist die Erinnerungsarbeit kein leichtes Geschäft; denn jeder hat seine eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen. Doch in einem Punkt dürften alle hier in diesem Hause übereinstimmen: Im Herbst 1989 haben nicht Diktatoren und ihre Mitläufer die Geschichte geschrieben, sondern die Bürger Ostdeutschlands selbst.
Das war ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Deutschlands. Menschen haben sich mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ zum Souverän gemacht, ohne einen Bürgerkrieg zu verursachen. Und sie haben mit dem Ruf „Wir sind ein Volk!“ die deutsche Einheit endgültig besiegelt.
An vielen Orten wird an die damaligen Ereignisse erinnert. Wenige Meter von hier entfernt steht ein Magdeburger Bürgerdenkmal für ganz Sachsen-Anhalt, das an die Zivilcourage, an die Gewaltlosigkeit angesichts der Bedrohung durch die bewaffnete Staatsmacht und an den Willen erinnert, sich aus der staatlichen Bevormundung zu befreien und zu einer gesellschaftlichen Erneuerung zu finden.
Meine Damen und Herren! Gab es denn Vorboten der friedlichen Revolution und des Mauerfalls? - Als einen der Höhepunkte möchte ich im Nachhinein - er ist durchaus als einer der Vorboten zu bezeichnen - erkennen, dass es eine wachsende Zahl von Ausreisewilligen, aber auch von gegen ihren Willen Ausgebürgerten gab. Da ist die Zensur der Medien, die wir uns in Erinnerung rufen müssen, und der zunehmend heftigere Widerstand gegen die Militarisierung der ganzen Gesellschaft, die schon im Kindergarten begann.
Oder, meine Damen und Herren, es war ganz einfach die Situation in den meisten volkseigenen Betrieben, in denen die Kolleginnen und Kollegen bei ihrer täglichen Arbeit immer mehr spürten, dass das staatliche System der Planung und Lenkung der Volkswirtschaft immer schlechter funktionierte und dass Löcher in den Bilanzen durch das Aufreißen noch größerer Löcher gestopft wurden.
Meine Damen und Herren! Es gab offensichtlich unterschiedliche Erinnerungen an die letzten Jahre der untergegangenen DDR. Lassen Sie mich deshalb zwei kurze Zitate aus einem Buch vortragen, das dieser Tage unter dem Titel „Knüppel, Kerzen, Dialog - Die friedliche Revolution 1989/90 im Bezirk Magdeburg“ erschienen ist.
Als Erstes möchte ich auf einen Brief des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg Siegfried Grünwald - er ist heutzutage ein fröhlicher Rentner in Magdeburg -
an Professor Dr. Klaus Thielemann, Minister für Gesundheitswesen der DDR, zu sprechen kommen. Danach hatten in 161 Apotheken des Bezirkes 1 798 Rezepte, das heißt 10 % aller Medikamentenrezepte, darunter jedoch keine für lebensbedrohliche Erkrankungen, nicht eingelöst werden können, da die entsprechenden Medikamente nicht vorhanden waren. 5 889 Rezepte konnten nur teilweise eingelöst werden.
Meine Frau hat damals in einer Apotheke gearbeitet. Ich kann mich noch an viele Gespräche am Abendbrottisch erinnern. Ich weiß also, wie es die Menschen gequält hat, dass die meisten nicht wussten, ob ihr Medikament, wenn sie wieder zur Apotheke bestellt worden sind, dann wirklich da war. Meistens haben es die Leute durch Organisationstalent hinbekommen. Aber man sollte sich schon an die ständige Angst erinnern, die man heute nicht mehr kennt, wenn man zur Apotheke geht.
Am 19. Oktober 1989, einen Tag nach dem Sturz Honeckers, tagte der Ministerrat und thematisierte die Lage.
„aber verändern die Lage nicht grundsätzlich. Große Probleme haben wir bei der Bausubstanz. Vor allem die Pflege- und Altenheime befinden sich in einer katastrophalen Lage. Auch die Kreiskrankenhäuser - rund 300 - sind in einer solchen Situation. Große Sorgen bereiten die wachsenden NSW-Importabhängigkeiten auf dem Gebiet der Medizintechnik.
Die Lage ist gravierend schlechter geworden. Dass wir zu den zehn größten Industrieländern gehören, zeigt sich in diesem Bereich nicht. Die Lebenserwartung in diesem Land ist zurückgeblieben. Sie entspricht nicht der eines hoch entwickelten Industrielandes.“
So der damalige Gesundheitsminister. - Meine Damen und Herren! Ich habe dieser Tage in einer Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung Rostock gelesen: Im Osten ist seit der Einheit Deutschlands die Lebenserwartung um ca. sechs Jahre gestiegen.
So viel, meine Damen und Herren, zu dem Kapitel persönliche Erinnerungen, Prägungen und auch Einschätzungen in dem Sachsen-Anhalt-Monitor - darüber muss man sich im Klaren sein - und zu dem, was jetzt die objektivierende Geschichtsschreibung an Tatsachen auf den Tisch bringt. Ich habe vorhin gesagt: Erinnerungsarbeit ist ein schweres Geschäft. Das gilt für jeden Einzelnen in diesem Parlament, aber wahrscheinlich auch für viele Bürgerinnen und Bürger, die nicht Mitglied dieses Parlaments sind.