Protokoll der Sitzung vom 12.11.2009

werden musste und die uns nicht in den Schoß gefallen ist.

Ebenso wenig wie das Einreißen der Mauer ein Fall der Mauer war, war die Herbstrevolution eine Wende. Das ist ein Begriff, den Egon Krenz in einer Fernsehansprache geprägt hat, nachdem im Politbüro Erich Honecker gestürzt worden war. Das war aber keine Antwort auf die Forderungen der Straße, keine Lösung der Probleme im Land und bot auch überhaupt keine Aussicht auf Besserung. Das war im Grunde der letzte Strohhalm, an den sich das Regime klammerte, der allerletzte Versuch, etwas zu steuern, das ihnen längst aus dem Ruder gelaufen war.

„Wende“ steht für mich für die Verzweiflung der Machthaber, nicht aber für den Freiheitswillen der Menschen. Und deswegen gab es im Herbst 1989 keine Wende, sondern eine Revolution.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Nun kann man trefflich darüber streiten - manche tun das noch immer -, ob das im Herbst wirklich eine Revolution war. Ich sage: ja. Der Begriff der Revolution bezeichnet im politisch-gesellschaftlichen Sprachgebrauch eine Umwälzung oder einen Umbruch oder etwas präziser formuliert: die tiefgreifende Veränderung der gesamten politischen und sozialen Strukturen und unter Umständen auch des kulturelle Normensystems einer Gesellschaft. Und genau das ist passiert.

Die DDR hat schlagartig aufgehört zu existieren. Ich meine damit nicht die staatsrechtliche Hülle, die am 3. Oktober mit der Bundesrepublik vereinigt wurde. Ich meine das Scheitern des sozialistischen Experiments, das Ende der Repression als integrale Voraussetzung für die bloße Existenz dieses Staates, das Ende von Passivität, Uniformität und innerer Emigration.

Die Menschen hatten es einfach satt, eingesperrt und bevormundet zu werden. Sie wollten etwas anderes, etwas Neues, etwas Freies. Und auch wenn dieses Neue nicht historisch neu war, wenn es das andere schon gab, so kann doch der Kontrast zwischen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung der Bundesrepublik und der Diktatur der DDR nicht größer sein.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Ja, es war ein Umbruch, es war eine Revolution. Und ich bin auch stolz darauf, dabei gewesen zu sein.

Es ist ein historischer Glücksfall, dass damals kein Blut geflossen ist - Gewalt und Tote sind nicht notwendigerweise Merkmale einer Revolution, wie beim Sturm auf die Bastille, beim Unabhängigkeitskrieg in Amerika und bei der Novemberrevolution; das wissen wir, meine Damen und Herren -, obwohl es genügend Waffen gab. Gerade der Umstand, dass diese nicht zum Einsatz kamen, ist der historische Glücksfall. Damit war allerdings fast nicht zu rechnen, schon gar nicht nach dem 17. Juni 1953 und dem Prager Frühling 1968.

Wir wissen heute, dass nach dem 17. Juni 1953 vielen SED-Spitzenfunktionären persönliche Waffen ausgehändigt wurden. Wir wissen, dass nach dem 17. Juni 1953 die Arbeiterkampfgruppen zur Niederschlagung von Konterrevolutionen gegründet wurden. Sie waren mit Maschinengewehren und Granatwerfern ausgerüstet und die Waffen lagerten für den Ernstfall griffbereit in den Fabriken.

Wir wissen, dass es minutiös ausgearbeitete Pläne zur gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen und Aufständen gab. Die Krankenhäuser waren auf die Behandlung Verletzter vorbereitet, Internierungslager waren geplant und Listen derer, die interniert werden sollten, erstellt. In den Schulen und Betrieben wurde gewarnt: Man solle nicht hingehen; es könne Schlimmeres passieren.

Egon Krenz hatte ausdrücklich die Brutalität auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gelobt. Das war sicherlich nicht als Scherz gemeint. Wir wissen heute, dass es Manöver gab zu dem Zweck, Demonstrationen und breitere Aktionen gegen den Staat gewaltsam zu beenden.

Ja, der Staat war vorbereitet und das Regime hatte den Arm zum Schlag erhoben. Ich bin mir sicher, dass sie hart und erbarmungslos zugeschlagen hätten, wenn wir den ersten Stein geworfen hätten. Aber das haben wir nicht. Und damit haben sie nicht gerechnet; denn das widersprach zutiefst ihrem eigenem Selbstverständnis. Wer nur mit Waffengewalt Menschen in ein System zwingen kann, der kann sich eben nicht vorstellen, dass sich Menschen ohne Waffen daraus befreien können.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Horst Sindermann, der zu DDR-Zeiten Präsident der Volkskammer war, hat später den entlarvenden Satz gesagt: „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Ja, meine Damen und Herren, sie hatten gewartet, sie hatten gewartet auf einen Grund zum Losschlagen. Und weil der nicht kam, haben sie zu lange gewartet - Gott sei Dank, kann ich nur sagen.

Gott sei Dank sind auch die sowjetischen Panzer in den Kasernen geblieben. Gorbatschow hatte den Einsatz russischer Truppen außerhalb des sowjetischen Territoriums schon ausgeschlossen. Für Selbstverteidigung galt das allerdings nicht, und einige Kommandeure der sowjetischen Streitkräfte hatten bereits nach Moskau gemeldet, die Sicherheit der sowjetischen Streitkräfte in der DDR sei in Gefahr.

Es ist Gorbatschow zu verdanken, dass er sich vorher in Washington, in London und in Bonn rückversichert und die sowjetischen Panzer herausgehalten hat. Die europäische Landkarte sähe heute sonst anders aus.

Die Revolution konnte nur als friedliche Revolution wirklich erfolgreich sein. Aber friedlich war die Revolution nur durch Abwesenheit von Gewalt, nicht durch Abwesenheit von Angst;

(Beifall bei der SPD)

denn die Angst ist immer mitmarschiert. Damals - das sage ich ehrlich - war sie mir nicht so sehr bewusst, weil da etwas anderes stärker war. Aber ich muss sagen, als ich mir den Film „Das Wunder von Leipzig“ angesehen habe, habe ich die Angst gespürt, die ich im Jahr 1989 zum Teil, Gott sei Dank, nicht hatte.

Warum erzähle ich Ihnen das heute noch einmal so ausführlich? - Weil es doch tatsächlich Leute gibt, die meinen, das wäre damals alles leicht gewesen. Keiner hätte geschossen, die SED war doch am Ende und die DDR sowieso bankrott. Gorbatschow hatte Glasnost und Perestroika längst ins Leben gerufen und die Solidarność in

Polen und die Liberalisierung in Ungarn hätten den Eisernen Vorhang bereits löchrig gemacht, sodass die Ostdeutschen doch nur das aufsammeln mussten, was andere vorher bewegt hatten. Die DDR sei also von selbst implodiert und eine große Leistung sei das im Herbst 1989 gar nicht mehr gewesen.

Wer das so sieht, der verwechselt Ursache und Wirkung.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)

Ja, es ist so, dass das System implodiert ist. Es ist in sich zusammengefallen, weil die Menschen es nicht mehr gestützt haben, weil es sich überlebt hatte und weil ihm die Menschen aktiv und bewusst die Unterstützung entzogen haben. Das Regime hat nicht freiwillig aufgegeben, sondern wir haben ihm die Luft abgedreht und es ist in die Knie gegangen. Wenn das mit „Implosion“ gemeint ist - ja, dann war es eine. Aber einfacher war es dadurch nicht.

Dass im Herbst 1989 die historischen Umstände günstig für das Gelingen dieses Umsturzes waren, wird niemand bestreiten, aber man muss diese Umstände auch nutzen. Und das haben wir Ostdeutschen getan. Natürlich waren die Ereignisse im Jahr 1989 Teil eines längeren Prozesses. Daran haben viele mitgewirkt, zum Beispiel die Revolutionen in vielen Ländern des Ostblocks, die Entspannungspolitik im Westen, allen voran die Ostpolitik Willy Brandts und die KSZE-Prozesse mit der Helsinki-Schlussakte.

In der historischen Rückschau kann man sagen, dass die Beendigung des Kalten Krieges das erste wirkliche gesamteuropäische Projekt war; denn das war der Grundstein für die europäische Einigung und somit auch die eigentliche Geburtsstunde Europas.

Meine Damen und Herren! Die heutige Regierungserklärung steht unter der Überschrift „Zur Freiheit befreit“. Ja, Freiheit und Freiheitswille waren nicht nur eine, sondern die Triebfedern des Herbstes 1989, die Triebfedern dafür, sich selbst zu befreien aus der Enge der DDR und aus der Enge des Systems.

Das war anders als die Befreiung im Jahr 1945. Damals wurden die Deutschen von außen befreit. Sie hatten trotz der offensichtlichen Gräuel des Krieges nicht die Kraft aufgebracht, sich gegen Hitler aufzulehnen. Sie wurden von außen befreit und sie wurden ein Stück weit von außen demokratisiert und entnazifiziert, auch wenn dabei viele aufrechte deutsche Demokraten mitgearbeitet haben.

Die Ostdeutschen dagegen haben sich selbst befreit. Sie haben sich Freiheit und Demokratie selbst erkämpft. Das ist ihr eigenes Verdienst. Das ist ihre historische Leistung. Dennoch gibt es einige, die sagen, durch die Einheit sei den Ostdeutschen die Freiheit geschenkt worden. Das ist falsch.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Erst durch die Selbstbefreiung haben die Ostdeutschen die Einheit überhaupt möglich gemacht. Wir haben uns die Freiheit genommen, nach der Einheit zu streben.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in den fünf neuen Bundesländern war die Institutionalisierung dessen, wofür Tausende von Menschen auf die Straße gegangen waren; denn mit der freiheitlich-demokratischen Grundord

nung galten Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde nun für alle Deutschen.

Freiheit. Freiheit ist kein Geschenk. Freiheit ist auch kein Selbstzweck. Das gilt 20 Jahre nach der Revolution genauso, wie es in 50 oder in 100 Jahren gelten wird. Sie muss täglich aufs Neue verteidigt werden und sie muss stets aufs Neue gefüllt werden. Das muss zum einen in der persönlichen individuellen Entscheidung über die Gestaltung des eigenen Lebens geschehen. Das ist schwer, schwerer vielleicht als manche nach der Wiedervereinigung gedacht hatten. Aber Freiheit ist immer eine Chance. Freiheit ist unbequem und macht Mühe, aber es ist eine Mühe, die sich lohnt.

Freiheit ist zum anderen auch eine gesellschaftliche und damit eine politische Aufgabe. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, die Freiheit, die die Verfassung garantiert, Wirklichkeit werden zu lassen.

Hierin unterscheidet sich die Sozialdemokratie in einer entscheidenden Nuance von anderen: Wir fordern nicht nur dazu auf, die Freiheit zu nutzen; nein, wir sagen, wir müssen dafür sorgen, dass die Freiheit gelebt werden kann, dass möglichst jeder die persönlichen Entscheidungen für sein Leben treffen kann, die er will. Dazu gilt es, Schranken in der Gesellschaft zu beseitigen und mit der Herstellung sozialer Gerechtigkeit wirkliche Freiheit zu ermöglichen. Das fängt bei der Beseitigung von Bildungsschranken an und hört bei der Bekämpfung von Alters- und Kinderarmut nicht auf.

Das, meine Damen und Herren, ist unsere Aufgabe an jedem Tag, an dem wir Politik machen. Das ist die Verantwortung, die wir übernahmen, als wir uns das Recht der Freiheit erkämpft haben.

Die Sozialdemokratie legt dabei ihren Schwerpunkt auf Solidarität. Solidarität als Methode, Gerechtigkeit herzustellen, ohne die Freiheit einzuschränken. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Frau Budde, ich danke für Ihren Beitrag. - Wir kommen zum Beitrag der FDP. Herr Wolpert hat das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. November ist schon lange eine Wegmarke in der Geschichte des deutschen Volkes. Ob es nun im Jahr 1848 das Scheitern der liberalen Revolution war, im Jahr 1918 das Ende des Ersten Weltkrieges mit dem Wandel hin zur glücklosen Weimarer Republik, der Putsch Hitlers im Jahr 1923 oder die menschenverachtenden Pogromnächte im Jahr 1938 - immer war der 9. November mit Trauer, Enttäuschung, Gewalt oder gar Entsetzen verbunden - bis zum Jahr 1989. Da war es zum ersten Mal ein Tag der überschwänglichen Freude. Zum ersten Mal sah man die Deutschen in einem einzigen großen Freudentaumel.

Meine Damen und Herren! Man mag sich darüber streiten, ob das der Tag war, der die Entscheidung in der Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Freiheit markiert. In den letzten Tagen wurde viel darüber gesprochen. Die überwiegende Mehrheit glaubt, der 9. Oktober 1989 sei der entscheidende Tag gewesen, wie es, glaube ich, auch Frau Budde gerade deutlich gemacht hat,

weil an diesem Tag die Staatsmacht zum ersten Mal vor dem Volk zurückgewichen ist. Das ist auch richtig.

Es waren auch viele andere Umstände, die in einem kausalen Zusammenhang mit dem Datum 9. November stehen. Den Anfang kann man bereits in der Bewegung der polnischen Gewerkschaften sehen, an deren Ende Lech Walesa mit seiner Solidarność den Weg vorgezeichnet hatte, wie man einem System Freiheit abtrotzen kann.

Dann gab es die mutigen Ungarn, die mit der Entscheidung zur Grenzöffnung ihren Beitrag zum Fall des Sowjetsystems genauso geleistet haben wie die Tschechoslowakei, die mit ihrer Haltung die Ausreise derer ermöglichte, die in der Botschaft Zuflucht gesucht hatten. Letztlich war es auch Michail Gorbatschow, der mit Perestroika und Glasnost bereits die Zeichen der Zeit erkannt hatte.

Aber welche Kausalkette man auch annimmt, fassbar ist das Gestammel des Günter Schabowski über eine Übergangslösung zum Reiserecht. Die dahingestotterten Worte „unverzüglich“ und „sofort“ wurden so zum historischen Moment. Dieser Moment war die direkte Folge der Demonstrationen in der DDR. Das Staunen über das Gesagte schien bei den Zuhörern genauso groß zu sein wie bei Schabowski selbst.

Und die Folgen kamen prompt. Das ließen sich die Menschen nicht zweimal sagen. Noch in der Nacht gab es einen Massenansturm auf die Grenzübergänge, vor allen Dingen in Berlin.