Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie und eröffne die 76. Sitzung des Landtags der fünften Wahlperiode. Ich begrüße alle anwesenden Damen und Herren. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen parlamentarischen Abend.
Wir setzen nunmehr die 40. Sitzungsperiode fort und beginnen, wie verabredet, mit dem Tagesordnungspunkt 20:
65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus - Tag der Erinnerung, der Mahnung und zugleich Chance für ein demokratisches, friedliches und humanes Zusammenleben der Menschen und Völker
Im Ältestenrat ist eine Redezeit von zehn Minuten verabredet worden, auch für die Landesregierung. Die Redereihenfolge ist wie folgt: DIE LINKE, CDU, FDP, SPD. Ich erteile jetzt für die Antragstellerin dem Abgeordneten und Fraktionsvorsitzenden Herrn Gallert das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hat den Antrag auf Aktuelle Debatte zur Würdigung des 65. Jahrestages der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1945 für die heutige Landtagssitzung eingereicht. Diese Aktuelle Debatte soll zum einen den historischen Fakt der Befreiung würdigen, zum anderen den Fraktionen Gelegenheit geben, zu den aktuellen Bezügen dieses Datums Stellung zunehmen.
Ich sage Ihnen gleich am Anfang: Wir hatten uns ursprünglich gewünscht, dass dieser 65. Jahrestag mit einer entsprechenden Gedenkveranstaltung hier im Landtag gewürdigt wird. Wir haben dieses Ansinnen an den Präsidenten und an den Ältestenrat herangetragen. Wir haben für dieses Ansinnen dort keine Zustimmung erhalten und wählen deswegen jetzt den Weg der Aktuellen Debatte.
Ausgangspunkt fast jeder Betrachtung dieses Ereignisses heute in der Bundesrepublik Deutschland ist ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Dieses möchte ich auch hier in unsere Aktuelle Debatte zu Beginn einführen:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Auch dieses Zitat ist bereits ein Vierteljahrhundert alt. Die Auseinandersetzung um die Bewertung des 8. Mai hält bis heute an. Und die Bewertung des ehemaligen Bundespräsidenten - das sage ich hier mit aller Deutlichkeit - stellt auch heute keinen gesellschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik Deutschland dar. Vielmehr flüchtet man sich sehr häufig in vermeintlich neutrale Begrifflichkeiten wie „Kriegsende“ oder „Zusammenbruch“.
Wer sich davon überzeugen will, kann sich einmal die Aktivitäten der Landeszentrale für politische Bildung anschauen. Dort findet man zum 65. Jahrestag der Befreiung gar nichts. Und auch beim 60. Jahrestag des 8. Mai - also vor fünf Jahren - findet man nur sehr selten das Wort „Befreiung“, sondern meist die Bezeichnung „Kriegsende“ sowie eine Reihe von Publikationen über das schwere Nachkriegsschicksal von Menschen in Sachsen-Anhalt.
Woher kommt also dieser fehlende gesellschaftliche Konsens in der Bundesrepublik Deutschland? Und worin besteht eigentlich die Schwierigkeit bei dem Begriff „Befreiung“?
Zuallererst müssen wir uns daran erinnern, was im Jahr 1945 zu Ende gegangen ist. Dort hatten wir in Deutschland das Ende einer zwölfjährigen Terror- und Gewaltherrschaft, die jeden politischen Widerstand mit brachialer Gewalt, mit Terror und physischer Vernichtung auslöschte. Es war das Ende eines Systems des Völkermordes an Juden sowie an Sinti und Roma, der systematischen Ausrottung von Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen, das sich durch eine perfekte Planung und industriell funktionierende Effektivität auszeichnete - ein System, das wahrlich mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt wurde.
Darüber hinaus bedeutet der 8. Mai das Ende des Zweiten Weltkrieges mit insgesamt 57 Millionen Toten, der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte. Darunter waren übrigens 27 Millionen tote Bürger der Sowjetunion.
Und trotzdem gibt es diese Scheu, den Begriff „Befreiung“ zu verwenden. Angesichts der Fakten kann man da zu Empörung neigen. Diese ist aus meiner Sicht zwar berechtigt, aber sie hilft nicht wirklich weiter. Wir müssen uns also mit der Frage beschäftigen, warum sich eine Gesellschaft, die sich den Werten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlt und aus dieser Perspektive überhaupt keinen Zweifel an dem Begriff der Befreiung haben dürfte, diese eigenartige Zurückhaltung auferlegt.
Nähern wir uns also diesem schwierigen Thema der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zum einen müssen wir konstatieren, dass der deutsche Faschismus zwar für jeden politischen Gegner, jeden aufrechten Demokraten, jeden Humanisten eine tödliche Bedrohung darstellte, aber eben nicht für die Masse der Deutschen - zumindest nicht bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, der durch die deutsche Wehrmacht ausgelöst worden ist.
Bis hinein in die letzten Tage vor dem 8. Mai 1945 gab es unzählige Gräueltaten auch von der Zivilbevölkerung, auch von der so genannten sauberen Wehrmacht, beispielsweise an geflohenen Kriegsgefangenen. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur die so genannte Celler Hasenjagd. All das zeugt von einer weitgehenden Identi
Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bezeichnet, wie andere auch, den deutschen Faschismus als Konsensdiktatur. Sicherlich kann man angesichts der vielen Deutschen vor allem jüdischer Abstammung, die bestialisch ermordet worden sind, darüber streiten, ob dieser Begriff angebracht ist. Aber er verweist natürlich auf ein Problem, und zwar dass es kurz nach Einführung der faschistischen Diktatur faktisch keinen nennenswerten Widerstand in der deutschen Bevölkerung gegeben hat. Ja, sogar noch schlimmer: Die Identifikation mit dem Rassenwahn, dem Antisemitismus, die Zustimmung zu Terror, Gewaltherrschaft, Krieg und Völkermord war in der Zeit von 1933 bis 1945 erschreckend ausgeprägt.
Die provokanten Thesen eines Götz Aly zu den Gründen der weitgehenden Identifikation der Deutschen mit dem schlimmsten Menschheitsverbrechen in der Geschichte der Zivilisation mögen umstritten sein, aber an den Fakten kommen wir alle nicht vorbei.
Ja, den 8. Mai 1945 wird zunächst nur eine Minderheit der Deutschen selbst als Befreiung empfunden haben, aber doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den Schrecken des Krieges; sie waren befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft eines mörderischen Regimes gespielt hatten; sie waren befreit von der Möglichkeit der schandbaren Perspektive, die Sklavenhalter Europas zu sein. - So die historische Kommission meiner Partei anlässlich des 65. Jahrestages.
Sicherlich gibt es darüber hinaus Erfahrungen von Menschen in der Nachkriegszeit, die in die Betrachtung einfließen müssen. Dazu gehört auch die zum Teil völlig unbegründete Verfolgung von Deutschen durch die sowjetische Militäradministration in den Nachkriegsjahren. Aber auch hier erinnere ich an die Rede des ehemaligen Bundespräsidenten, der darauf verweist, dass diese nicht ohne die Ursachen des Vernichtungskrieges der deutschen Faschisten zu begreifen ist.
Wer dies nicht bedenkt und wer gedankenlos oder absichtsvoll von der Kontinuität zweier deutscher Diktaturen spricht, der verwischt diesen grundlegenden Zusammenhang und wird sich nie zu dem Charakter der Befreiung des 8. Mai 1945 bekennen können.
Dieses Bekenntnis ist aus unserer Sicht aber unabdingbar notwendig, wenn wir den Geist des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wirklich ernst nehmen. Wir gehen darüber hinaus und unterstützen ausdrücklich die Initiative aus Mecklenburg-Vorpommern sowie der Koalitionsfraktionen aus Berlin, den 8. Mai als Tag der Befreiung in den Rang eines nationalen Gedenktages zu erheben. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich danke dem Abgeordneten Herrn Gallert. - Für die Landesregierung erteile ich dem Ministerpräsidenten Herrn Professor Dr. Böhmer das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei objektiver Betrachtung wird niemand daran zweifeln können, dass der 8. Mai für uns Deutsche ein Tag der Befreiung war. Es ist richtig, dass wir es nicht
geschafft haben, uns selbst zu befreien. Wir ehren diejenigen, die es versucht und dies mit dem Leben bezahlt haben, weil sie einen Rest unserer Ehre gerettet haben. Aber wir haben es nicht geschafft. Wir waren auf die totale Kapitulation vor den Alliierten angewiesen, um dieses Schreckens- und Herrschaftssystem in der deutschen Geschichte loszuwerden. Das wird man niemals leugnen können.
Wahr ist aber auch - das hatten Sie auch anklingen lassen -, dass es die Menschen damals anders erlebt haben, als wir es heute mit dem Abstand der Geschichte objektiver beurteilen können. Wer damals in einem deutschen KZ saß, hat dies mit Sicherheit als Tag der Befreiung erlebt. Das ist völlig unstrittig.
Die meisten - übrigens nicht alle - ausländischen Kriegsgefangenen in Deutschland haben das als Befreiung von den Deutschen erlebt und waren froh, dass sie wieder nach Hause konnten. Die damals in Deutschland unterdrückten politischen Kräfte, sofern sie es überhaupt überlebt haben, haben das natürlich als Tag der Befreiung erlebt.
Aber wahr ist auch, dass diejenigen, die in guter Absicht und völliger Verblendung geglaubt haben, für Deutschland zu kämpfen, dies zunächst als eine Niederlage erlebt haben.
Diejenigen - ich habe davon viele erlebt -, die auf der Flucht vor der herannahenden Front aus Ostpreußen und Schlesien bis nach Mitteldeutschland geflüchtet waren, haben es als einen Tag der Hoffnung empfunden, weil sie sagten: Morgen kommen wir wieder nach Hause, morgen wollen wir wieder in unsere Häuser, in unsere Heimatorte zurück. Doch die wenigsten von ihnen haben es erreicht. Die meisten wurden zurückgewiesen und kamen ärmer, als sie auf der Flucht waren, wieder zurück und fühlten sich als Vertriebene.
Von diesen Menschen zu verlangen, dies als einen Tag der Befreiung zu verstehen und emotional zu begreifen, war eine Überforderung. Das mag man verstehen oder nicht, aber viele haben sich damit überfordert gefühlt. Und das hat die Diskussion in Deutschland so unendlich schwer gemacht. Ich denke, dies sollte man - es muss nicht begründet werden - doch mit einer gewissen Berechtigung und Nachsicht auch für diese Menschen zumindest bei der nachträglichen historischen Betrachtung berücksichtigen.
Das Schlimmste, was mit uns in Deutschland gemacht worden ist, war die Grundstimmung des Hasses und der rassistischen Überheblichkeit. Auch die Alliierten selbst haben mit ihrer internen Direktive festgehalten: Deutschland wird nicht zum Zwecke seiner Befreiung besetzt, sondern als besiegter Feindstaat. Wir hatten es geschafft, uns fast die gesamte Welt zum Feind zu machen. Wir hatten dies geschafft mit unserer Überheblichkeit und unseren rassenhygienischen Vorstellungen, die von niemandem auf der Welt nachvollzogen werden konnten.
Um Ihnen einige Beispiele dafür zu nennen, wie weit Deutsche mit dieser Rassenhygiene und dieser eigenen Überheblichkeit gegangen sind und wie sehr sie andere damit beleidigt haben, zitiere ich aus einer Mitteilung an die deutsche Truppe im Juni 1941 Äußerungen über die russischen Menschen, die sie zu besiegen hatte:
Menschenschinder tierisch nennen. Sie sind … Person gewordener wahnsinniger Hass gegen alles edle Menschentum. In ihrer Gestalt erleben wir den Aufstand des Untermenschen gegen edles Blut.“
Das war öffentlich verbreitete Gesinnung in Deutschland. Diese haben nicht alle geteilt. Aber damit wurden Soldaten motiviert, in den Krieg zu ziehen und andere zu töten. Jeder weiß, dass dies zum Teil mit einer überzeugenden Haltung getan wurde, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist.
Es war der deutsche Wehrmachtsbefehl, der die deutschen Soldaten daran erinnert hat, sich nicht an die Haager Konvention, an die Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen oder ähnliche Übereinkommen zu halten, sondern die Kriegesgefangenen noch immer als Gegner zu behandeln. Von den 5,7 Millionen Kriegesgefangenen aus der Roten Armee sind in Deutschland, nachdem für sie die Kampfhandlungen vorbei waren, 3,3 Millionen umgekommen. Es ist dann kein Wunder, dass andere dies mit den deutschen Soldaten genauso gemacht haben.
Ich halte es für wichtig, immer auch auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. Es ist wohl wahr, dass wir das Leid, das wir anderen zugefügt haben, eher zu verschweigen geneigt sind als das, was wir von anderen erfahren haben und was uns zugestoßen ist. Auch das muss man sagen.
In der Ukraine gibt es kein Schulkind, das mit bestimmten Begriffen, die in Deutschland unbekannt sind, nicht etwas anfangen kann. In der Ukraine weiß jeder, dass „Babi Yar“ ein Begriff für den deutschen Massenmord ist. Babi Yar ist eine Schlucht in der Nähe von Kiew, in der etwa 100 000 größtenteils jüdische Zivilisten erschossen worden sind.
Es hat selbst in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Entsetzen ausgelöst, als dort verlesen wurde, dass der verantwortliche SS-Standartenführer mit einem gewissen Stolz an seine Obrigkeit berichtet hat, er hätte es mit seinen Leuten geschafft, am 29. und 30. September 1941, also in zwei Tagen, 33 771 Juden zu erschießen. Er schließt diesen Bericht mit dem Satz: Die eigenen Leuten waren mehr mit den Nerven runter als diejenigen, die erschossen werden mussten.
Dies war die Mentalität eines Vernichtungskrieges, der von Deutschen ausgegangen ist und der auf die Deutschen in gleicher Weise zurückgekommen ist. Wer ehrlich sein will, der kann auch nicht verschweigen, dass die Mentalität unserer ehemaligen Gegner natürlich den gleichen Tonfall bekommen hat.
In die Literaturgeschichte eingegangen ist ein Appell von Ilja Ehrenburg, ein Aufruf an die sowjetischen Soldaten, veröffentlicht in der „Krasnaja Swesda“ - das heißt „Roter Stern“ - vom 24. Juli 1942. Ich zitiere:
„Wir werden nichts sagen. Wir werden uns nicht empören. Wir werden töten. Wenn du einen Deutschen getötet hast, töte noch einen. Zähle nicht die Tage. Zähle nur eins: die von dir getöteten Deutschen. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen; nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen Rotarmisten, tötet!“
Diese Aufrufe vor dem Hintergrund eines brutalen Vernichtungskrieges hatten natürlich zu Denkhaltungen ge
führt, die so schnell nicht abgebaut werden konnten, auf keiner Seite der Front. Deswegen hat es der Zeit bedurft, bevor diese Wunden, die wir uns gegenseitig zugefügt haben, ausheilen konnten und es wieder zu einem menschenwürdigen Zusammenleben kommen konnte.