Protokoll der Sitzung vom 30.04.2010

- In den Umweltausschuss? Gut.

Ich lasse nun abstimmen. Wer ist für die Überweisung in den Umweltausschuss? - Zustimmung bei der Fraktion DIE LINKE und bei der FDP. Wer lehnt die Überweisung in den Umweltausschuss ab? - Ablehnung bei der Koalition. Damit ist die Überweisung in den Umweltausschuss abgelehnt worden.

Wer stimmt der Überweisung in den Ausschuss für Landesentwicklung und Verkehr zu? - Zustimmung bei allen Fraktionen. Das ist so beschlossen worden.

Wer der Überweisung zur federführenden Beratung in den Ausschuss Wirtschaft und Arbeit zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Das ist die Mehrheit. Damit ist die Überweisung in den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur federführenden Beratung und in den Ausschuss für Landesentwicklung und Verkehr zur Mitberatung beschlossen worden.

Meine Damen und Herren! Damit ist Tagesordnungspunkt 15 abgeschlossen. Ich darf mich herzlich bedanken.

Meine Damen und Herren, wir kommen zu Tagesordnungspunkt 16:

Beratung

Verbesserung der Angebote integrativer Kinderbetreuung und -bildung

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/2550

Alternativantrag der Fraktionen der CDU und der SPD - Drs. 5/2577

Ich bitte nun Frau Bull, den Ursprungsantrag einzubringen. Bitte schön.

Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es in dem vorliegenden Antrag? - Mit der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen aus dem Jahr 2007 wurde der Anspruch formuliert, dass alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, alle Bereiche, in denen Menschen, Bürgerinnen und Bürger unterwegs sind, so zu gestalten sind, dass Teilhabe von Menschen Normalität und Vielfalt erlebbar wird. Das bedeutet einen grundsätzlichen Abschied von Sondereinrichtungen. Es geht um Inklusion - vielleicht am besten übersetzbar mit dem Wort „Dazugehörigkeit“.

Um gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Der Gedanke der Inklusion kommt zwar in der Tat aus der Behindertenbewegung, meint aber die Dazugehörigkeit aller Menschen und eben nicht nur der Menschen mit vermeintlichen Behinderungen. Es geht um das Geschlecht, es geht um die ethnische Herkunft, es geht um Religiosität und es geht um Gesundheit. Das Prinzip heißt: Wir sortieren nicht mehr, sondern wir sehen zu, Gemeinsamkeiten und Miteinander zu organisieren sowie Teilhabe zu sichern.

Ihnen liegt nun ein Antrag vor, der diesen Anspruch aus der Perspektive oder - man könnte es auch so sagen - am Beispiel der frühkindlichen Bildung etwas konkreter beleuchtet und entsprechende Vorschläge macht für die Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung.

Es stellt sich die Frage, wie es uns künftig gelingen kann, den Gedanken und das pädagogische Konzept der Inklusion perspektivisch in allen - ich betone: in allen - Kindertagesstätten zu entwickeln.

Mir liegt ein Papier aus Rheinland Pfalz vor, in dem mit dem Begriff „inklusive Regeleinrichtungen“ hantiert wird. Ich finde das sehr treffend. Genau darum geht es. Wir stehen am Anfang. Wie kommen wir ein Stück weiter?

Alrun Schastok, Medienwissenschaftlerin und langjährige Leiterin einer integrativen Kindertagesstätte, hat es einmal so formuliert:

„Kinder mit und ohne Behinderungen brauchen Kinder mit und ohne Behinderungen.“

Was ist der Ausgangspunkt? Wo beginnt unsere Kritik? - Sachsen-Anhalt ist vor einigen Jahren schwer in die Kritik geraten, und zwar deshalb, weil der Anteil der Schülerinnen im gemeinsamen Unterricht viel zu niedrig ist. Wir waren damals bundesweit das Schlusslicht.

Um bei dem Gedanken der Inklusion zu bleiben, müsste die Kritik eigentlich umgekehrt lauten: Viel zu wenig Kinder ohne Behinderungen können gemeinsam mit Kindern mit Behinderungen lernen. Das heißt Inklusion: Das Leben mit Behinderungen erleben, Einfühlsamkeit erleben, Toleranz und zugleich Durchsetzungsfähigkeit entwickeln - für beide Seiten, wenn man es schon in Seiten einteilt.

Wie sieht es nun im Bereich der frühkindlichen Bildung aus? - Wir haben in Sachsen-Anhalt fast 2 000 Kindertagestätten. Bei einem genaueren Blick muss man konstatieren, dass nur 145 Kindertagesstätten integrativ arbeiten, sich also ein Stück weit dem Gedanken der Inklusion nähern - 145 von 2 000, 7 bis 8 %!

Um mit dem Gedanken der Inklusion zu sprechen: Ca. 122 Kinder sind in Sachsen-Anhalt in den Kitas unterwegs. Davon erleben nur knapp mehr als 11 % integratives Arbeiten. Für 11 % der Kita-Plätze besteht die Chan

ce, Kinder mit und ohne Behinderung zu erleben. Mit anderen Worten gesagt: Rund 88 % der Kinder bleibt dies verwehrt. Dabei sind wir beim Gedanken der Inklusion. Es geht eben um mehr. Es geht nicht um die Integration von Kindern mit Behinderungen. Es geht nicht darum, Kinder mit Behinderungen „zuzuführen“. Es geht darum, Kinder mit und ohne Behinderungen brauchen Kinder mit und ohne Behinderungen. Das heißt Inklusion.

Die Frage ist nun, welche Schritte taugen, um die Entwicklung ein Stück nach vorn zu bringen. Ich will gleich vorweg sagen: Es sind viele schwierige Fragen zu beantworten, die auch in unserer Fraktion zu sehr vielen Diskussionen geführt haben, auf die uns im Moment auch noch keine eindeutigen Antworten möglich sind und - das will ich dazu sagen - die uns garantiert nicht nur Beifall einbringen, weder bei den Eltern noch bei den Trägern und Akteuren. Auf einige der Spannungsfelder will ich zu sprechen kommen.

Was schlagen wir vor, worüber diskutiert und was geprüft werden sollte? - Unser Antrag ist bewusst genau in dieser Art formuliert, weil wir den Stein der Weisen nicht gefunden haben.

Das Kultusministerium - nun wollte ich ihn einmal loben, aber er ist nicht anwesend -

(Herr Höhn, DIE LINKE: Sagen Sie es ihm! - Mi- nister Herr Dr. Daehre: Ich sage es ihm!)

hat in Sachen schulische Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wie wir finden, wie ich finde, einiges auf den Weg gebracht.

(Minister Herr Dr. Daehre: Jetzt, wo er geht, wird er gelobt! - Herr Dr. Thiel, DIE LINKE: Lieber zu spät als nie!)

Nun bin ich weit davon entfernt zu sagen: Vom Kultusministerium lernen, heißt siegen lernen, aber ich finde schon, dass sich ein Blick über den Tellerrand, über den ministeriellen Tellerrand lohnt.

Das Beispiel der Förderzentren: Ich finde schon, dass die Förderzentren in Sachsen-Anhalt hinsichtlich des gemeinsamen Unterrichts eine ganze Menge bewegt haben. Das sind kleine erste Schritte in Richtung Inklusion. Es gibt eine Reihe von Kitas, die in diesen Förderzentren schon mitarbeiten. Dort passiert Kompetenztransfer. Erzieherinnen, die schon seit fast 20 Jahren - so lange gibt es in Sachsen-Anhalt keine Sonderkindergärten mehr - integrativ arbeiten, haben, denke ich, eine ganze Menge in den Erfahrungsaustausch mit Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern einzubringen. Auf den Tisch gehören die Probleme genauso wie die Erfolge. Die Förderzentren sind gute Plattformen, um die Erfahrungen auszutauschen.

Man kann gemeinsam überlegen, wie man Elternarbeit organisieren muss, um Ängste und Vorbehalte, die wir alle miteinander ernst nehmen müssen, abzubauen und die Elternarbeit zu unterstützen.

Wir sollten über die Frage diskutieren, wie es gelingen kann, die Mitarbeit über die jetzt schon integrativ arbeitenden Kitas hinaus zu entwickeln. In die Förderzentren gehören nicht nur die I-Kitas, die integrativen Kitas, sondern die Regelkindergärten, die so genannten Regelkindertagesstätten.

Die Förderzentren, die als solche anerkannt werden, müssen ihr pädagogisches Konzept verteidigen. Ich fin

de, auch das ist eine gute Idee, über die man durchaus diskutieren könnte. Ich finde, dass das wirklich eine gute Sache ist, dass man eben nicht nur das Konzept beim Landesverwaltungsamt abgibt, sondern sich mit den eigenen pädagogischen Ideen auseinandersetzt. Das mussten die einzelnen Förderzentren tun, bevor sie Förderzentren geworden sind. Das ist eine wunderbare Idee, um auch miteinander ins Gespräch zu kommen, um Pädagogik voranzutreiben.

Ein anderer Vorschlag, den Sie in dem Antrag finden, thematisiert die Frage der Standards für inklusive Kitas. Momentan existieren die Standards aus der Kinderbetreuungsverordnung informell weiter. Die damals beklagte Zusatzpauschale wird weiter gewährt. Die förderbaren Berufsqualifikationen gelten informell weiter.

Das Problem ist aber, dass zehn Jahre vergangen sind. Die Entwicklung ist vorangeschritten. Wir haben eine UN-Konvention, die einen Unterschied zwischen Integration und Inklusion macht. Es müsste also neu darüber diskutiert werden, wie wir alle Kindertagesstätten so gestalten können, dass sie auf den Weg der Inklusion kommen.

Man müsste beispielsweise über die Frage der räumlichen und materiellen Grundstandards neu diskutieren, die unabhängig von der Anwesenheit von Kindern mit dem so genannten Grundanerkenntnis zu erfüllen sind. Dabei handelt es sich also um so genannte institutionenbezogene Standards, also Standards, die jede Kindertagesstätte, die das Markenzeichen Inklusion haben will, vorweisen muss.

Bevor Sie jetzt gleich in einen Kostenberechnungsreflex zurückfallen: Man muss natürlich gut überlegen. Ich bin schon der Meinung, dass es als Voraussetzung dafür nicht unbedingt der Snoezelraum für Zigtausende von Euro sein muss. Ich habe in Kindertagesstätten erlebt,

(Herr Gürth, CDU: Welcher?)

dass Pädagogen, also Erzieherinnen, mit Kindern auch durchaus selbst etwas gebaut haben. Das ist ein riesiger Effekt. Es geht nicht darum, über die Maßen räumliche und materielle Standards zu entwickeln, die keiner erfüllen kann. Es geht wirklich um die Frage, was Grundstandards sind. Darüber muss einmal diskutiert werden.

Was nach unserer Auffassung aber gegeben sein muss, ist die räumliche Barrierefreiheit. Die ist in den Standards bisher nicht enthalten. Das ruft ganz problematische Entwicklungen hervor, nämlich dass man unter den Kindern mit Grundanerkenntnis sortiert: Dort, wo keine Barrierefreiheit gegeben ist, kommen die so genannten leichten Fälle hin und dort, wo Barrierefreiheit realisiert worden ist, kommen die so genannten schweren Fälle hin. Ich finde, dass das keine Lösung sein kann.

Wir müssen miteinander darüber diskutieren, was Grundstandards sind, die platzbezogen ausgestaltet werden müssen. Das betrifft zum Beispiel die Relation zwischen Kindern und Erzieherinnen. Das Ministerium gibt an, dass der momentane Standard eine Gruppengröße von 15 : 4 sei. Ich kann Ihnen mindestens zehn Kindertagesstätten nennen, die das bei Weitem und schon lange nicht erfüllen. Das kann nicht wirklich der Grundstandard sein. Ich sage damit nicht, dass das richtig ist. Aber ich denke, man muss darüber nachdenken: Taugt das noch? Was wollen wir eigentlich?

Bei uns wurde in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Frage heiß diskutiert: Sollen diese Standards, wenn

sie denn zu Standards erhoben werden, nur gelten, wenn Kinder mit diesem Grundanerkenntnis, mit Behinderungen in die Kitas gehen? Oder sagen wir: Jede Regeleinrichtung soll das vorweisen?

Dahinter verbirgt sich auch das Problem der Einzelintegration. Momentan gibt es in den integrativen Kitas einen sehr hohen Anteil von Kindern mit Behinderungen. Soll das so bleiben? Wenn wir sagen „Inklusion ist angesagt“, dann ist auch nicht die Gefahr von der Hand zu weisen, dass es zur Einzelintegration kommt. - Das alles sind Probleme, die man - spätestens seit 2007 - bereden muss.

Des Weiteren geht es natürlich um Wohnortnähe. Die Fahrzeiten, die Kinder mit Behinderungen zu integrativen Kitas derzeit absolvieren, sind manchmal recht groß. Eigentlich haben auch Kinder mit Behinderungen das Recht auf Wohnortnähe.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass nicht alle freien Träger dazu Beifall klatschen werden. Immerhin führt das auch zu einer immensen Konkurrenz. Es ist momentan das Alleinstellungsmerkmal von manchen Trägern, integrative Kitas vorzuhalten.

Aber wenn wir uns auf den Weg begeben wollen, dann ist die Marge eigentlich klar, dann müssen es alle Kindertageseinrichtungen sein, eben auch die um die Ecke. Das wird nicht gleich und jetzt und sofort möglich sein. Außerdem schafft es Konkurrenz. Aber ich finde, Konkurrenz belebt auch das pädagogische Geschäft.

Die schwierigste Frage, die wir diskutieren und beantworten müssen, ist: Wie sind solche Standards momentan überhaupt durchsetzbar? Wie verhält sich das Land nach der Kommunalisierung der Aufgabe? Welche Möglichkeiten haben wir hierbei als Land anzuregen oder zu steuern? Haben wir Möglichkeiten und, wenn ja, welche gibt es?

Das dritte Beispiel, das Sie auch in dem Antrag finden, bezieht sich auf die Zukunft des Bildungsprogramms „Bildung elementar“. Wir haben dafür Mittel in den Haushaltsplan eingestellt. Die Autorin des Programms, Frau Professorin Rabe-Kleeberg, ist bekanntlich in Bezug auf die Frage Inklusion sehr sensibel. Sie ist derzeit schon sehr viel in integrativ arbeitenden Einrichtungen unterwegs. Hier muss diskutiert und entschieden werden: Welche Ansprüche haben wir an die Überarbeitung des Bildungsprogramms „Bildung elementar“?