Protokoll der Sitzung vom 17.06.2010

Am Montag dieser Woche bin ich etwa 40 Minuten durch die Rosenstadt Sangerhausen gewandert.

(Zustimmung von Herrn Scheurell, CDU - Herr Stahlknecht, CDU: Das ist schön!)

Ich sah viel Grün, sanierte Straßen, neue und restaurierte Häuser. Und ich fragte mich, welcher Anblick sich mir vor 20 Jahren geboten hätte. Auch eine Stadt wie Sangerhausen kann stolz auf das Erreichte sein.

(Zustimmung bei der CDU und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Wir können stolz und müssen dankbar sein.

Natürlich ist gerade auch diese Stadt und die Region des Mansfelder Landes ein eindrucksvoller Beleg für die gewaltigen strukturellen und insbesondere wirtschaftlichen Brüche, die Sachsen-Anhalt in den vergangenen 20 Jahren bewältigen musste.

Dass Sachsen-Anhalt heute so dasteht, wie es dasteht, ist aber zuallererst das Ergebnis der harten Arbeit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Das ist ihre Leistung und das ist - das sage ich auch selbstbewusst - auch unsere Leistung.

Unbestritten ist, dass der Aufbau Ost und damit auch der Aufbau Sachsen-Anhalts ein gesamtdeutsches Projekt ist. Für die Hilfe aus den alten Bundesländern sind wir von ganzem Herzen dankbar. Wir hätten es ohne diese weitgehende Unterstützung nicht so weit geschafft, wie wir es geschafft haben. Aber wir werden diese Hilfe noch weiter dringend benötigen.

Wer in den letzten Jahren durch Wuppertal oder Gelsenkirchen gegangen ist, der weiß, auch in den alten Ländern gibt es Städte und Regionen, die einen großen Entwicklungsbedarf haben. Auch dafür braucht man gute Lösungen. Das ändert aber nichts daran, dass die Probleme im Osten nach wie vor gravierender und insbesondere flächendeckender sind. Deshalb darf am Solidarpakt nicht gerüttelt werden.

(Zustimmung bei der SPD und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Wir brauchen die Mittel und den Übergang bis zum Jahr 2019.

Genauso klar muss aber das Ziel sein, dann auf eigenen Füßen zu stehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir das erstens wissen und zweitens auch schaffen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Gründung des Landes bzw. zum Ländereinführungsgesetz zur Wiedergründung von Sachsen-Anhalt im Jahr 1990 hat der Ministerpräsident bereits ausführlich gesprochen.

Ich will trotzdem daran erinnern, dass die Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt vor 20 Jahren eben nicht voraussetzungslos war. Die Voraussetzung war der Sturz der Diktatur in der DDR. Ohne die friedliche Revolution von 1989 würde es weder ein vereinigtes Deutschland noch ein Land Sachsen-Anhalt geben,

(Zustimmung bei der SPD, von Minister Herrn Dr. Daehre und von Ministerin Frau Prof. Dr. Kolb - Zurufe von der SPD und von der CDU)

und die Altstädte von Halberstadt und Stendal, Zeitz und Naumburg wären heute Trümmerwüsten.

Diese Revolution hat viele Mütter und Väter. Das sind die Menschen, die im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind. Das sind die Menschen, die in der DDR aktiv und passiv Widerstand gegen das Regime leisteten. Das sind auch die Menschen, die vergeblich gegen die Diktatur gekämpft haben, die am Regime gescheitert und zum Teil auch zerbrochen sind.

Sie alle haben den Weg in die Freiheit geebnet, in der wir heute das Privileg haben zu leben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle, wie meine Vorredner, an die Frauen und Männer erinnern, die genau heute vor 57 Jahren gegen das Regime aufbegehrt haben. Auch wenn sie damals gescheitert sind, haben wir ihnen heute viel zu verdanken. Sie verdienen unsere Anerkennung und unseren Respekt.

(Beifall im ganzen Hause)

Weil ich gerade von der Anerkennung und dem Respekt von der Lebensleistung engagierter und überzeugter Menschen rede, erlaube ich mir einen kleinen Exkurs zur bevorstehenden Bundesversammlung. Ich will nicht auf die Kandidaten eingehen oder auf das, was gerade an politischen und strategischen Facetten in der Presse diskutiert wird. Es wird Sie nicht überraschen, dass mein, dass unser Kandidat Joachim Gauck heißt.

(Herr Stahlknecht: Nun haben Sie es doch ge- sagt! - Zuruf von Frau Weiß, CDU)

Aber etwas anderes hat mich in diesem Zusammenhang tief getroffen und empört. Ich empfinde es als eine bodenlose Unverschämtheit und einen unvergleichlichen Akt der Diffamierung, wenn ein Oskar Lafontaine behauptet, dass - ich zitiere -

„der protestantische Pfarrer Gauck durchaus zu jenen gehört hat, die von der Staatssicherheit auch Privilegien erhalten haben.“

(Herr Gürth, CDU: Oh!)

„Im Osten sind die Stimmen nicht zu überhören, die darauf hinweisen, dass auch Gauck sich wie andere evangelische Pfarrer mit dem DDR-System arrangiert hatte.“

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung von Frau Grimm-Benne, SPD)

Diese Art der bewussten und vorsätzlichen Geschichtsfälschung ist menschenverachtend und demokratieschädigend.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Und dies aus dem Munde eines Zeitgenossen, der im Jahr 1990 die geschichtliche Stunde eben nicht erkannt hat.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU - Herr Scheurell, CDU: So ist es! - Zuruf von Herrn Kley, FDP)

- Herr Kley, auch ich habe das eine oder andere Geschichtsbuch gelesen.

Ganz im Gegensatz zu Staatsmännern wie Helmut Kohl,

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung von Minister Herrn Dr. Daeh- re)

Hans-Dietrich Genscher,

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

und Willy Brandt.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank - Ministerpräsident Herr Prof. Dr. Böhmer: Jawohl!)

Ich vermisse deutliche Worte von der von mir aus linken Seite zu diesem Zitat von Oskar Lafontaine.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank - Herr Stahlknecht, CDU: Bravo!)

Kommen wir nach Sachsen-Anhalt zurück. Wenn wir uns die Stunde null am 3. Oktober 1990 vor Augen führen, dann stellen wir fest, dass Sachsen-Anhalt von den fünf neuen Bundesländern unbestritten die schlechtesten Ausgangsbedingungen hatte. Die strukturprägende Konzentration auf die chemische Industrie und den Schwermaschinenbau in den DDR-Bezirken Magdeburg und Halle erwies sich beim Start in die Marktwirtschaft als ein gravierender Nachteil. In der größten Industrieregion der DDR zwischen Magdeburg und Zeitz kam es zu erdbebengleichen Umbrüchen.

Für die Chemieindustrie gab es wenigstens noch die Zusage und das Engagement von Helmut Kohl. Für den Maschinenbau gab es so etwas nicht. Er wurde dem Zerfall überlassen und befand sich schnell in einem rasanten Niedergang.

Sicherlich sind solche komplexen Prozesse hinterher immer besser zu überblicken und zu beurteilen als vorher und währenddessen. Die bittere Wahrheit ist: Einen Plan für den Umbau der Wirtschaft sowie für den Erhalt von Arbeitsplätzen und Industriestrukturen im Osten gab es nicht.

Sicherlich war der Handlungsdruck auf die politisch Verantwortlichen groß. Wie kommen wir in Ostdeutschland möglichst schnell zur D-Mark? Wie gestaltet man die staatlichen Strukturen in der DDR mit denen in der Bundesrepublik kompatibel? - Diese Fragen entsprachen damals dem Geist der Zeit.

Das Denken in staatlichen Strukturen kam vor den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Die SPD - auch ihr damaliger Kanzlerkandidat - hatte davor gewarnt und deshalb die Wahlen im Jahr 1990 mit verloren.

Die ökonomische Stunde null des Landes Sachsen-Anhalt war am 1. Juli 1990 mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und eben nicht erst am 3. Oktober. Ihre Weichenstellungen prägen entscheidend die Geschicke unseres Landes bis zum heutigen Tage.

Für viele Menschen in beiden Teilen Deutschlands erfüllte sich der gemeinsame Traum von der Wiedervereinigung. Aber die Wirtschaft zwischen Bad Brambach und Kap Arkona und eben besonders auch zwischen Zeitz und Arendsee wurde damit von heute auf morgen dem rauen Wind des Weltmarktes ausgesetzt. Darauf war niemand vorbereitet.

Wir wissen, warum die Wirtschaft in der DDR dem Weltmarkt nicht gewachsen war. Das hatte im Wesentlichen drei Gründe:

Die Betriebe waren nach westlichen Maßstäben nicht produktiv. In den 70er- und 80er-Jahren wurde fast aus

schließlich auf Verschleiß gefahren. Die Maschinenparks waren veraltet. Für die Umrüstung fehlten die Mittel.

Der Umtauschkurs von 1 : 1 für Löhne und Gehälter entsprach zwar den Bedürfnissen und insbesondere auch dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen, aber er entsprach nicht den ökonomischen Gegebenheiten und war deshalb ungünstig für die Betriebe. Ich sehe aber nach wie vor keine Alternative dazu.

Durch den folgerichtigen Zusammenbruch des RGW verlor die Wirtschaft in Ostdeutschland fast über Nacht ihre angestammten Partner. Die Absatzmärkte fielen abrupt weg. 10 % der Gesamtbeschäftigten der ehemaligen DDR arbeiteten für den Export in das RGW-Gebiet. Der Wegfall dieser Arbeitsplätze ist bis heute eine schwere Hypothek.