Meine Damen und Herren! Wir setzen die 44. Sitzungsperiode des Landtages fort. Ich eröffne die 84. Sitzung des Landtages und begrüße alle Anwesenden recht herzlich.
Ich möchte an die schon gestern vorgetragenen Entschuldigungen von Herrn Dr. Aeikens und Herrn Hövelmann erinnern.
Regierungserklärung der Ministerin Frau Prof. Dr. Angela Kolb zum Thema: „Opferschutz in Sachsen-Anhalt - Bilanz und Perspektive“
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erteile der Ministerin Frau Professor Dr. Kolb das Wort. Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tagtäglich lesen wir in den Medien über Strafprozesse. Meistens geht es um die Aufklärung des Tatgeschehens, die Frage der Schuld und das gerechte Strafmaß für den Täter.
Nach den Folgen der Straftat für das Opfer wird selten gefragt. Deshalb fühlen sich viele Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, hilflos und allein gelassen. Dabei sind es manchmal schon kleine Dinge, die helfen können, das Erlebte besser zu verarbeiten. Ein Besuch am Krankenbett, Hilfestellung im Umgang mit Behörden, einfach das Gefühl, als Opfer einer Straftat nicht vergessen zu sein - das kann den Betroffenen wieder Mut und Hoffnung geben.
Das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt legt zum ersten Mal einen Opferschutzbericht vor. Er soll über die mannigfaltigen Bemühungen um eine stärkere Berücksichtigung von Opferbelangen informieren, über begonnene Vorhaben Auskunft geben und Perspektiven für die Zukunft aufzeigen. Zugleich soll er für ein Thema sensibilisieren, das in den letzten Jahren enorm an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Die Wahrung der berechtigten Interessen des Opfers muss in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht eine Aufgabe sein, die von der Justiz und der Rechtspolitik gleichermaßen verinnerlicht wird.
Dass ein Opferschutzbericht vom Justizministerium vorgelegt wird, bedeutet nicht - das möchte ich eingangs gleich betonen -, dass nicht auch andere Ressorts eine Vielzahl von Maßnahmen im Bereich des Opferschutzes vorhalten, gerade auch im präventiven Bereich.
Die Vielzahl der in den letzten Jahren mit den Opferschutzverbänden geführten Gespräche hat uns in dem Vorhaben bestärkt, nach dem Vorbild anderer Bundesländer - nach Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist Sachsen-Anhalt das vierte Land, das einen solchen Opferschutzbericht vorlegt - einen Opferschutzbericht zu erarbeiten und damit als Justizministerium einen Anfang zu machen.
Das Ergebnis kann sich aus meiner Sicht sehen lassen. Der nunmehr vorliegende Opferschutzbericht zeigt, dass
Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren viel getan hat, um den Opferschutz zu verbessern. Wir können auf eine gut ausgebaute Infrastruktur und auf ein tragfähiges Netz mit aktiven Partnern zurückgreifen.
Für die langjährige gute Zusammenarbeit möchte ich mich schon an dieser Stelle bei allen unseren Partnern und natürlich auch bei meinen Ressortkolleginnen und -kollegen bedanken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Was das Erleben einer Straftat für die Opfer und die Angehörigen bedeutet, können wir uns kaum vorstellen. Es ist eine schwerwiegende Zäsur. Das Leben ist plötzlich nicht mehr so, wie es war. Das gilt eben nicht nur für schwerste Kriminalität, insbesondere Sexual- und Gewaltstraftaten, sondern auch für vermeintlich leichte Delikte.
Wer Opfer eines Wohnungseinbruchdiebstahls geworden ist, verliert häufig das Vertrauen in die Sicherheit der eigenen vier Wände. Sein ganz privater Rückzugsbereich wurde zerstört. Unbekannte haben möglicherweise Kenntnis von privaten und intimen Lebenssachverhalten erhalten. Auch das kann eine Ursache von Traumatisierung sein.
Die mit einer Straftat verbundenen psychischen Beeinträchtigungen können dazu führen, dass das Weltbild der Opfer nachhaltig ins Wanken gerät. Sie begegnen ihrer Umwelt mit Misstrauen, isolieren sich und fühlen sich nicht länger als Teil der Gesellschaft.
Genau hier müssen wir ansetzen, so wie wir im Sinne von Resozialisierung alles Notwendige tun müssen, um Leid und weitere Straftaten künftig zu verhindern. So sind wir gleichsam spiegelbildlich den Opfern verpflichtet. Gerade weil das Strafverfahren täterzentriert ausgestaltet ist, dürfen wir die Opfer nicht allein lassen.
Sie müssen jegliche Unterstützung erhalten, um es ihnen zu ermöglichen, die Tat zu verarbeiten. Nur so können wir sie in die Lage versetzen, mit dem Geschehenen tatsächlich umzugehen, um wieder ein normales Leben führen zu können. Unser Gemeinwesen setzt hierbei auf Solidarität. Deshalb steht die Justiz ganz besonders in der Pflicht.
Was bedeutet das nun in der Praxis? Wir brauchen einen sensiblen Umgang mit Opferbelangen, der schon im Ermittlungsverfahren ansetzt. Eine effektive Aufklärung von Kriminalität ist nun einmal ohne die Mitwirkung des Opfers in seiner Rolle als oft einziger Zeuge der Tat nicht denkbar.
Dies kann in einem Strafverfahren zu erheblichen Belastungen für Zeugen führen, die sich im Rahmen der Aussagen bei der mündlichen Verhandlung erneut mit der Tat auseinandersetzen, die diese Tat quasi ein zweites Mal erleben. Fachleute sprechen auch von der Möglichkeit einer sekundären Traumatisierung.
Hinzu kommt, dass der rechtsstaatliche Grundsatz der Unschuldsvermutung, an dem es natürlich keinen Zweifel gibt, Kriminalitätsopfer manchmal in die subjektive Lage versetzt, sich in ihren Aussagen gegebenenfalls rechtfertigen zu müssen. Im Extremfall entsteht das Gefühl, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht schenkten ihren Aussagen keinen Glauben.
Deshalb verlangt der Umgang mit Opfern Einfühlungsvermögen, das sich natürlich nicht gesetzlich verordnen lässt. Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, dafür zu sensibilisieren und auch andere Möglichkeiten zu nutzen.
So kann dem Opfer beispielsweise die Aussage in der Hauptverhandlung unter bestimmten Umständen erspart werden. Es gibt die Möglichkeit, schon im Ermittlungsverfahren eine Videoaufzeichnung anzufertigen, die später in das Verfahren eingeführt wird. Auch in der Hauptverhandlung selbst kann die Videotechnik zum Schutz des verletzten Zeugen zum Einsatz kommen, der dann eben nicht im Verhandlungssaal, sondern in einem Nebenraum sitzt, um so psychische Belastungen zu vermindern.
Wir haben die technischen Voraussetzungen geschaffen, um landesweit den Gerichten die Möglichkeit zu geben, solche Videovernehmungen durchzuführen. Bei den Landgerichten Dessau-Roßlau, Magdeburg und Stendal sowie im Justizzentrum Halle gibt es entsprechende technische Anlagen.
Auch die Amtsgerichte können auf diese Anlagen zurückgreifen, wenn sie sie benötigen. Beim Landgericht Magdeburg verfügen wir sogar über eine Videokonferenzanlage, mit der Konferenzen mit Gerichten im Ausland möglich sind. Mir ist bestätigt worden, dass das tatsächlich schon praktiziert worden ist.
Was kann man weiter tun? - Wir haben an den Gerichten Aufenthaltsräume für Zeugen und ihre Begleitpersonen eingerichtet. Dort soll eine möglichst ruhige Atmosphäre erreicht und verhindert werden, dass die Opfer beim Warten auf die mündliche Verhandlung mit dem Angeklagten und seinem Umfeld konfrontiert werden.
Die schriftlichen Vorladungen zu einer Vernehmung erfolgen regelmäßig formularmäßig. Dies macht es schon aus Gründen der Objektivität schwierig, sämtliche individuellen Sorgen und Ängste der Geladenen zu berücksichtigen. Dennoch haben wir auch hierbei Änderungen vorgenommen. Uns ist es gelungen, die schriftlichen Vorladungen bürgerfreundlicher zu gestalten. So gab es im Jahr 2007 bereits eine Veränderung der von Gerichten und Staatsanwaltschaften verwendeten Vordrucke für Zeugenladungen, auf denen jetzt beispielsweise die konkrete Erreichbarkeit des Gerichts mit öffentlichen Verkehrsmitteln dargestellt ist und Lagepläne aufgezeichnet sind, sodass der Betreffende nicht lange suchen muss, um das Zeugenzimmer zu finden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Es gibt kein Patentrezept für einen effektiven Opferschutz. Die Verarbeitungsstrategien sind so verschieden wie die menschlichen Charaktere. Gerade wegen dieser Individualität ist es wichtig, dass wir eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung haben, mit deren Hilfe es möglich ist, einen Ausgleich zwischen der effektiven Strafverfolgung und den berechtigten Interessen der Opfer herzustellen.
Die Effektivität der Strafverfolgung und die Wahrung der wohlverstandenen Opferbelange dürfen einander nicht ausschließen. Genau in diesem Spannungsfeld bewegen sich unsere Bemühungen.
Betroffene, die der Unterstützung bedürfen, müssen diese schnell und unbürokratisch erlangen können. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Zuwendungen, sondern beispielsweise auch darum, dass die Dauer der Ermitt
lungstätigkeit, die Prozessökonomie bei den Gerichten und die Länge der sich anschließenden sozial- und zivilgerichtlichen Verfahren optimiert werden, um die damit verbundenen Belastungen der Betroffenen so gering wie möglich zu halten.
Es geht um die möglichst unkomplizierte Zuerkennung zivilrechtlicher Ersatzansprüche. Die beste Möglichkeit hierfür bietet sich im so genannten Adhäsionsverfahren. Das bedeutet, dass das Strafverfahren und das Zivilverfahren miteinander verknüpft sind, sodass nicht zwei Verfahren durchlaufen werden müssen, sondern in einem Verfahren sämtliche Ansprüche quasi abgearbeitet werden können.
Diese Möglichkeit wird aus unserer Sicht derzeit noch nicht in dem Maße, wie es möglich wäre, genutzt. Wir haben versucht, auch hierüber aufzuklären. Wir haben ein Informationsblatt entwickelt, das mit der Anklageerhebung verteilt wird und dem bereits das Antragsformular beigefügt wird. Darin wird auf das Adhäsionsverfahren und darauf, was der Betroffene tun muss, hingewiesen.
Meine Damen und Herren! Dem Opfer stehen zur besseren Aufarbeitung der Tat neben dem gerichtlichen Verfahren auch alternative Konfliktlösungsmechanismen zur Verfügung wie zum Beispiel der Täter-Opfer-Ausgleich. Damit setzt der Staat ganz bewusst auf die freiwillige Mitwirkung von Tätern und Opfern im Zeichen der Schaffung von Rechtsfrieden.
Die mit dem Täter-Opfer-Ausgleich verbundenen Effekte dürfen nicht unterschätzt werden. Viele Straftaten sind Ausdruck eines Machtgefälles: nahezu absolute Macht aufseiten des Täters und vollständige Ohnmacht aufseiten des Opfers, das durch die Tat zum Objekt herabgewürdigt wird.
Der Täter-Opfer-Ausgleich bietet gerade hierbei eine vielversprechende Perspektive. Wenn der Täter ernsthaft um Verzeihung bittet, so macht er den Erfolg seiner Initiative von der Zustimmung des Opfers abhängig. Er erkennt das Opfer als Subjekt an, von dessen Willen der Erfolg der Entschuldigung abhängt.
Wir wissen aus der Praxis, wie viel hierdurch gewonnen ist, nicht nur bei Erwachsenen, sondern gerade auch bei Jugendlichen. Für eine Wiedergutmachung kommen viele Möglichkeiten in Betracht. Das kann im Einzelfall eine Entschuldigung sein, Schmerzensgeld, ein Geschenk als symbolische Geste oder eine Arbeitsleistung.
In Sachsen-Anhalt wird der Täter-Opfer-Ausgleich flächendeckend angeboten. Im Jahr 2009 sind im Rahmen des Landesprojekts Täter-Opfer-Ausgleich, der vom Landesverband für Straffälligen- und Bewährungshilfe Sachsen-Anhalt e. V. koordiniert und organisiert wird, 1 137 Fälle von freien Trägern übernommen worden.
Die Mitarbeiter des Sozialen Dienstes der Justiz werden dabei nur subsidiär tätig, wenn kein privater Verein die Schlichtung übernehmen kann. Hierzu verfügen 36 Beschäftigte des Sozialen Dienstes der Justiz über eine spezifische Ausbildung als Konfliktschlichter.
Dem Täter-Opfer-Ausgleich kommt im Jugendstrafverfahren im Rahmen der Jugendhilfe wegen seiner erzieherischen Wirkung eine besondere Bedeutung zu. Bei Jugendlichen und Heranwachsenden kann in geeigneter Weise einer Konfrontation mit dem eigenen Handeln herbeigeführt werden. Sie erhalten die Chance, Ver
antwortung für ihr Handeln zu übernehmen. In den Ausgleichsgesprächen erhalten die Jugendlichen Gelegenheit, sich mit alternativen Konfliktlösungsmustern auseinanderzusetzen, was auch für die Zukunft Wirkung entfaltet.
Für den TOA im Jugendbereich ist nicht das Land, sondern sind die örtlichen Träger der Jugendhilfe zuständig. Es gibt eine Vielzahl von freien Trägern, die im Auftrag der örtlichen Träger den Täter-Opfer-Ausgleich durchführen.
Leider haben wir in den letzten beiden Jahren zunehmend Probleme feststellen müssen, weil der Täter-OpferAusgleich wegen einer Änderung des § 36a SGB VIII als freiwillige Leistung betrachtet wird. Das bedeutet, dass der Jugend-TOA immer dann, wenn die Landkreise in einer schwierigen Situation sind, unter Verwaltung stehen und nur noch Pflichtaufgaben durchführen dürfen, nicht mehr stattfindet, obwohl ihn ein Jugendrichter angeordnet hat.
Seit eineinhalb Jahren finden aktive Bemühungen auf Bundesebene statt, um die gesetzliche Regelung wieder so zu gestalten, wie sie ursprünglich einmal war, um den TOA in den Leistungskatalog mit aufzunehmen. Es gestaltet sich im Moment schwierig, dies umzusetzen, weil die notwendigen Mehrheiten für eine Änderung des SGB VIII fehlen. Ich versichere Ihnen aber, dass wir dabei nicht nachlassen werden. Wir werden uns auch in Zukunft auf Bundesebene dafür stark machen, um eine sichere finanzielle Grundlage für den Jugend-TOA zu haben.
Einen wesentlichen Schwerpunkt des Opferschutzes sehe ich in der Prävention. Das Wissen um rechtliche Zusammenhänge und die Aufklärung können vor allem bei Jugendlichen dazu beitragen, Straftaten zu verhindern. Ohne Täter gibt es keine Opfer.
Wir haben im Jahr 2007 die Idee der Teencourts aufgegriffen, die gleichzeitig auch von der FDP-Fraktion mittels eines Antrages in dieses Hohe Haus eingebracht worden ist, und haben ein kriminalpädagogisches Schülerprojekt initiiert. Das bedeutet, in Strafverfahren gegen Jugendliche werden bei geringfügigen Delikten so genannte Schülergremien tätig. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Sanktionen, die durch dieses Schülergremium ausgesprochen werden, besonders nachhaltig wirken. Die Meinung der Gleichaltrigen wird offenbar doch anders akzeptiert als die von Erwachsenen, wenn diese das machen.
Wir haben im April 2007 die Trägerschaft für dieses Projekt dem Verein „Anti-Gewalt-Zentrum Harz e. V.“ in Elbingerode übertragen. Das Schülergremium besteht aus Schülern verschiedener Schulen, mittlerweile nicht nur in Halberstadt, wo wir begonnen haben, sondern auch in Quedlinburg und in Thale.
Praktisch läuft es so, dass Polizei und Staatsanwalt im so genannten Diversionsverfahren geeignete Fälle heraussuchen und diese dem Schülergremium übermittelt werden. Die Schülerrichter sind natürlich entsprechend ausgebildet. Sie werden auf die jeweiligen Gespräche vorbereitet und führen intensive Gespräche mit dem Täter, der sich im Rahmen dieser Gespräche mit seiner Tat auseinandersetzen soll. Im Ergebnis wird eine Sanktion ausgesprochen, die dann von der Staatsanwaltschaft als Auflage bestätigt werden muss.