Protokoll der Sitzung vom 12.11.2010

Praktisch läuft es so, dass Polizei und Staatsanwalt im so genannten Diversionsverfahren geeignete Fälle heraussuchen und diese dem Schülergremium übermittelt werden. Die Schülerrichter sind natürlich entsprechend ausgebildet. Sie werden auf die jeweiligen Gespräche vorbereitet und führen intensive Gespräche mit dem Täter, der sich im Rahmen dieser Gespräche mit seiner Tat auseinandersetzen soll. Im Ergebnis wird eine Sanktion ausgesprochen, die dann von der Staatsanwaltschaft als Auflage bestätigt werden muss.

Es hat sich gezeigt - das weiß ich auch von den Kolleginnen und Kollegen der Staatsanwaltschaft, die das festgestellt haben -, dass die Jugendlichen viel kreativer bei der Festlegung von Sanktionen sind. Üblicherweise gibt es entweder gemeinnützige Arbeit oder einen TäterOpfer-Ausgleich. Die Sanktionen, die die Jugendlichen finden, sind hingegen wesentlich vielfältiger.

Ich weiß auch durch viele Gespräche in den Schulen, in denen Schülerrichter tätig sind, dass diese in die Schulen hineinwirken, dass es hierbei sowohl zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Strafverfahren als auch mit dem Rechtsstaat allgemein kommt. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass mit einem solchen Projekt auch viele mittelbare Prozesse ausgelöst werden können, die dazu führen, dass sich Jugendliche stärker mit der Idee des Rechtsstaates auseinandersetzen.

Wir haben im Jahr 2005 gemeinsam mit dem Kultusministerium begonnen, einen jährlichen Schülerwettbewerb durchzuführen. Unter dem Motto „Alles Rechtens?“ gibt es jährliche Schülerwettbewerbe zu unterschiedlichen Themen, die sich beispielsweise mit Fragen des Rechtsextremismus auseinandersetzen, sodass sich auch die Justiz, die eher im repressiven Bereich tätig ist, in den letzten Jahren sehr bemüht hat, auch im präventiven Bereich viel zu tun.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Sachsen-Anhalt braucht in Sachen Opferschutz den Vergleich mit anderen Bundesländern nicht zu scheuen. Eine Opferberatung und Zeugenbetreuung innerhalb des Sozialen Dienstes der Justiz gibt es in dieser Form in anderen Bundesländern nicht. Wir haben also hier in den letzten Jahren Pionierarbeit geleistet. Uns ist es gelungen, eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur des Sozialen Dienstes und ein tragfähiges Netzwerk mit vielen Partnern zu initiieren. Sie sehen im Opferschutzbericht eine Karte mit den entsprechenden Standorten. Wir können wirklich sagen: Opferschutz wird in Sachsen-Anhalt flächendeckend ausgeführt.

In den letzten Jahren haben wir darüber hinaus eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, um auch die Position, die Rechte des Opfers von Straftaten, zu stärken. Da die Betroffenen dies in erster Linie durch die engagierte Tätigkeit des Sozialen Dienstes der Justiz wahrnehmen, ist es uns wichtig, dass hier für die Beratung und Betreuung von Opfern und Zeugen besonders qualifiziertes Personal zur Verfügung steht.

Wir widmen aber auch der anderen Seite große Aufmerksamkeit; denn mittelbar wird auch durch Täterarbeit Opferschutz gewährleistet. In den Arbeitsgebieten der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht einschließlich der Forensischen Ambulanz kann durch die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen verhindert werden, dass die entlassenen Täter wieder rückfällig werden.

Charakteristisch für Sachsen-Anhalt ist ein duales System von freier und staatlicher Straffälligenhilfe mit den Vereinen der freien Straffälligenhilfe im Bereich des nachsorgenden Opferschutzes. Anfang Dezember werden wir das 20-jährige Jubiläum des Landesverbandes für Straffälligenhilfe feiern, das wird gemeinsam von Landesverband und Justizministerium veranstaltet wird.

Wir haben in den letzten Jahren versucht, die Angebote weiter zu konzentrieren, um möglichst an allen Standorten das gleiche Angebote vorhalten zu können. Deshalb gibt es jetzt zentrale Beratungs- und Anlaufstellen,

unsere so genannten Zebras, die Angebote sowohl für Opfer als auch für Täter vorhalten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von dem vorgelegten Opferschutzbericht erhoffe ich mir persönlich eine breit angelegte Diskussion. Ich bin mir wohl bewusst, dass das erst ein Anfang sein kann. Er enthält eine Bestandsaufnahme hinsichtlich der derzeitigen Aktivitäten des Ministeriums der Justiz und er bilanziert, was wir seit dem Jahr 2006 in Sachen Opferschutz unternommen haben. Er dokumentiert für die Öffentlichkeit, was bisher für die Interessen der Opfer von Straftaten getan wurde, aber auch - auch das ist wichtig - das, was noch getan werden muss.

Gerade im Dialog bestehen gute Möglichkeiten, Defizite zu benennen, auch neue Ansätze für die künftige Arbeit zu entwickeln. Dies wird unsere Bemühungen um einen verbesserten Opferschutz weiter vorantreiben.

Vor allem aber soll der Bericht die Bedürfnisse jener in den Mittelpunkt stellen, die selbst Opfer von Straftaten geworden sind und deshalb unsere Hilfe benötigen. Sie leben unmittelbar unter uns: Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannte. Ihnen gehört unsere Aufmerksamkeit. In einer Situation, die von persönlicher Not geprägt ist, kommt es zu gleichen Teilen auf Respekt und Fürsorge an. Genau dem wollen wir uns stellen.

Im vorliegenden Opferschutzbericht wird das Spannungsfeld zwischen den Interessen des Opfers auf der einen Seite und dem Beschuldigten und der Wahrnehmung des Gewaltmonopols des Staates bei der Durchführung eines Strafverfahrens auf der anderen Seite hauptsächlich aus der Opfersicht beschrieben.

Schon das ist aus meiner Sicht ein sehr wichtiger neuer Ansatz. Es ist wichtig, dass man diese Strafverfahren, was ausgehend von den rechtlichen Regelungen eher aus Tätersicht funktioniert, eben auch aus Opfersicht betrachtet.

Wenn man sich den ersten Teil des Opferschutzberichtes anschaut, stellt man fest: Das ist praktisch ein Handbuch geworden mit einer detaillierten Übersicht über Opferrechte und konkrete Ansprüche. Der Opferschutzbericht beschreibt, was im Strafverfahren und in der mündlichen Verhandlung passiert, was Opfer dort erwartet.

Damit verbinden wir eine klare Botschaft: Wir lassen Opfer nicht allein. Es gibt eine Vielzahl von Institutionen, Einrichtungen, Vereinen und Verbänden, die Hilfe und Unterstützung bieten. Wir wollen die Arbeit dieser Partner in Zukunft noch besser vernetzen.

Die Beschuldigtenrechte im Strafverfahren und die Gewährleistung der Fairness im Strafprozess sind Errungenschaften, die im Anwendungsbereich des deutschen Rechts weithin als selbstverständlich gelten dürfen. Die Erreichung eines hohen Schutzniveaus im Bereich der Beschuldigtenrechte ist aber in der Rechtsentwicklung noch nicht abgeschlossen. Wir haben einiges erreicht mit dem zweiten Opferrechtsreformgesetz, an dem auch die Länder aktiv mitgewirkt haben. Wir haben dabei aber nicht alle unsere Vorstellungen und Wünsche umsetzen können.

Ich habe im Zusammenhang mit dem Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch, an dem auch das Bundesjustizministerium beteiligt ist, gehört, dass die Bundesjustizministerin vor hat, ausgehend von den Erkenntnissen dieses runden Tisches, ein weiteres Opferrechts

reformgesetz vorzulegen. Wir werden auch hierbei die Möglichkeit nutzen, um unsere Forderungen konkret auf den Tisch zu legen und sie über den Bundesrat durchzusetzen.

(Zustimmung von Frau Fischer, SPD)

Lassen Sie mich abschließend noch einige Beispiele nennen, bei denen wir in Sachsen-Anhalt, ausgehend von den Neuregelungen, die Opferbelange stärker berücksichtigt haben. Hierbei geht es insbesondere um die stärkere Einräumung umfassender Informations- und Fragerechte. Das ist eine Entwicklung, die, auch aus europäischer Perspektive, stärker als bisher auf uns zurollt. Viele Opfer von Straftaten möchten erfahren, welchen Verlauf das Verfahren nach der Anzeige nimmt. Sie möchten auch wissen, was mit dem Täter passiert.

Besondere Bedeutung kommt hierbei der gesetzlichen Neuregelung über die Informationsrechte der Verletzten im Strafverfahren zu. Diese betreffen neben den verfahrensbezogenen Informationen auch solche in Bezug auf die Verletztenrechte. Unter anderem ist dem Verletzten auf Antrag mitzuteilen, ob gegen den Beschuldigten oder Verurteilten freiheitsentziehende Maßnahmen angeordnet oder beendet oder ob erstmalig Vollzugslockerungen oder Urlaub gewährt worden sind.

Aus meiner Sicht ist es mehr als legitim, dass das Opfer auch ohne Antrag - quasi automatisch - informiert wird, wenn der Täter aus der Haft entlassen wird, damit es sich darauf einstellen kann. Wir wissen, dass besonders in den kleinen Orten Sachsen-Anhalts die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass man sich wieder begegnet.

Wir haben in Sachsen-Anhalt die landesrechtlichen Möglichkeiten, die dazu bestehen, ausgeschöpft, um dem Opfer diese Information automatisch zukommen zu lassen.

(Zustimmung von Herrn Weigelt, CDU)

Von ihren Rechten können Opfer nur dann Gebrauch machen, wenn sie diese kennen. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig - diesbezüglich sehe ich nicht nur die Justiz, sondern auch viele andere Partner in der Pflicht -, möglichst frühzeitig zu informieren.

Wir können uns alle nicht vorstellen, was es bedeutet, Opfer zu werden. Wenn man Opfer ist, ist man traumatisiert. Dann helfen manchmal Formblätter oder Hinweisblätter nur wenig, weil es eine Fülle von Informationen ist, die verarbeitet werden muss. Das überfordert manchmal die Opfer.

Deshalb bin ich froh, dass wir beim Sozialen Dienst erfahrene Opferberaterinnen haben, die persönliche Hilfestellung und Unterstützung geben, die erklären, welche Ansprüche man hat, die die Betreffenden an die Hand nehmen und sie begleiten, sowohl vor dem Verfahren als auch im Verfahren, und die ihnen Hinweise geben, wo man weitergehende Unterstützung, beispielsweise psychologische Beratung und Behandlung, finden kann.

Dennoch sind Merkblätter wichtig. Es gibt in Deutschland ein bundesweit einheitliches Merkblatt über die Rechte von Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren. Dieser Inhalt ist in den letzten Jahren mit den anderen Bundesländern gemeinsam abgestimmt, aktualisiert und verändert worden.

Es ist natürlich schwierig, wenn man mit 16 Bundesländern diskutiert. Manchmal ist es nicht möglich, eigene Wünsche umsetzen. Deshalb haben wir in Sachsen-An

halt die Rückseite dieses Merkblattes dafür genutzt, die für Sachsen-Anhalt spezifischen Informationen aufzuschreiben. Das heißt, wir haben spezifische Informationen über Ansprechpartner, über Hilfsmöglichkeiten und über die Einrichtungen, die Opfern helfen, aufgenommen.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es dieses Merkblatt nicht nur in Deutsch gibt, sondern es ist bundeseinheitlich in insgesamt 18 Sprachen übersetzt worden.

Darüber hinaus gibt es beim Justizministerium und bei allen Gerichten eine Vielzahl von Faltblättern zum Thema Opferberatung, zum Angebot des Sozialen Dienstes in Sachsen-Anhalt, zum Täter-Opfer-Ausgleich des Sozialen Dienstes und zum Sozialen Dienst der Justiz.

Wir bieten darüber hinaus eine Vielzahl von Veranstaltungen an, die auch gemeinsam mit Partnern durchgeführt werden. Beispielhaft möchte ich nur die Ausstellung „Opfer“ des Weißen Ringes erwähnen. Wir sind mit vielen Veranstaltungen im Land unterwegs gewesen, um mittels einer solchen Ausstellung auf die Bedeutung von Opferbelangen hinzuweisen und auch deutlich zu machen, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Wir rufen dazu auf, auch im familiären und im gesellschaftlichen Umfeld, diejenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, zu unterstützen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bilanz der letzten fünf Jahre zeigt deutlich, es wurde viel getan. Die Rechte von Opfern sind mit dem Zweiten Opferrechtsreformgesetz gestärkt worden. Aber können wir mit dem Erreichten schon zufrieden sein?

Wir haben im Rahmen der Erarbeitung des Opferschutzberichtes im Oktober 2010 einen Workshop mit unseren Partnern durchgeführt. Wir haben erste Erfahrungen dahin gehend gesammelt, was man in der Zukunft tun kann, um den Opferschutz zu verbessern.

Hierbei wurde ganz deutlich der Wunsch nach einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Verbänden geäußert. Es wurde gefordert, Netzwerke zu bilden und die Schnittstellen zu optimieren. Die Partner wünschen sich eine Stärkung der Präventionsarbeit und eine weitere Sensibilisierung der Praxis im Hinblick auf die Berücksichtigung von Opferinteressen.

Dem Landespräventionsrat soll vorgeschlagen werden, den Opferschutz stärker in den Blick zu nehmen. Es gab weiterhin den Wunsch, die schon einmal bestehende interministerielle Arbeitsgruppe „Opferschutz“ wieder ins Leben zu rufen.

Diesen begonnenen Dialog werden wir fortsetzten. Wir werden uns Anfang des nächsten Jahres noch einmal treffen. Wir werden die Vorschläge, die zwischenzeitlich unterbreitet werden, und natürlich auch die heutige Debatte und deren Ergebnisse zusammenfassen. Wir werden ein Arbeitsprogramm erstellen und uns darin ganz konkrete Aufgaben stellen.

Die Entscheidung darüber, in welchem Umfang diese Vorschläge zur Optimierung des Opferschutzes aufgegriffen und umgesetzt werden, was man also praktisch in Sachsen-Anhalt tun kann, um den Opferschutz weiter zu verbessern, ist der Landesregierung in der nächsten Legislaturperiode vorbehalten. Aber ich denke, auch die nächste Landesregierung wird dem Opferschutz einen hohen Stellenwert einräumen.

Sie sehen, das sind erste Schritte auf einem langen Weg. Wir sollten ihn in Zukunft weiter gehen gemeinsam mit den vielen Kolleginnen und Kollegen, die sich für den Opferschutz einsetzen, mit unseren vielen Partner und auch mit den anderen Ressorts. Da ich mir sicher bin, dass ich für diesen Bereich die Unterstützung des Hohen Hauses habe, freue ich mich auch auf die entsprechende Diskussion über konkrete Vorschläge und Vorhaben in den Ausschüssen. - Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Danke sehr, Frau Ministerin Kolb, für die Regierungserklärung.

Bevor wir in die Aussprache zur Regierungserklärung eintreten, haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Haldensleben begrüßen zu dürfen. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2 b:

Aussprache zur Regierungserklärung

Der Ältestenrat schlägt die Redezeitstruktur E, also eine Debattendauer von 130 Minuten vor. Das heißt, DIE LINKE darf 24 Minuten sprechen, die CDU 37 Minuten, die FDP zehn Minuten und die SPD 23 Minuten.

Als erste Debattenrednerin hat Frau Tiedge für die Fraktion DIE LINKE das Wort.

Frau Präsidentin! meine Damen und Herren! Die Justizministerin Frau Professor Kolb sprach den Opferschutzbericht bereits an, den wir vor einigen Tagen vorgelegt bekommen haben. Darin zog die Ministerin in Bezug auf den Opferschutz eine positive Bilanz. Ich möchte daraus zitieren. Sie sagte in diesem Zusammenhang: