Protokoll der Sitzung vom 12.11.2010

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe das Gefühl, dass selten eine so hohe und breite Einigkeit in Debatten bestand, wie es heute Morgen bei diesem Thema deutlich wird.

Die Landesregierung hat unter der Federführung der Justiz zum ersten Mal für Sachsen-Anhalt einen Opfer

schutzbericht erarbeiten lassen. Frau Justizministerin Professor Kolb hat ihn uns in seinen Grundzügen im Rahmen ihrer Regierungserklärung eben vorgestellt.

Ich bin Ihnen, verehrte Frau Ministerin, dankbar für diese Initiative Ihres Hauses und von Ihnen persönlich. Sie rücken damit zum Ende der Legislaturperiode noch einmal ein Thema in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, das dieser Landesregierung und den sie tragenden Fraktionen der SPD einerseits und der CDU andererseits wichtig ist.

(Frau Grimm-Benne, SPD, lacht)

- Frau Grimm-Benne freut sich, weil ich zuerst die SPD genannt habe; ich hätte es auch anders herum machen können. - Denn es ist völlig richtig, dass die Bemühungen der Polizei, der Justiz und der Rechtspolitik wie auch das begleitende Interesse der Öffentlichkeit in aller Regel auf die Verfolgung und Verurteilung, also auf die Bestrafung oder Wiedereingliederung von Tätern, ausgerichtet sind. Die Opfer von Straftaten, die häufig ein Leben lang an den Folgen des Erlebten tragen, stehen allerdings selten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dorthin gehören sie aber nach Auffassung meiner Fraktion.

Opferschutz, meine Damen und Herren, ganzheitlich verstanden als Wahrung der Interessen von Opfern, als Bemühung um Wiedergutmachung von Schaden und als Begleitung im Verfahrensgang durch Psychologen und Seelsorger in Form von Vorsorge und Nachsorge ist eben viel mehr als nur ein Annex im Strafverfahrensrecht. Der Bericht der Landesregierung macht die Bedeutung des Themas und seiner Bandbreite in einem sehr umfassenden Sinne deutlich.

Opferschutz hat Vorrang vor Täterschutz. So steht es in der Koalitionsvereinbarung, die im Jahr 2006 abgeschlossen wurde. Meine Damen und Herren! Die CDUFraktion, die CDU in Gänze hat immer gesagt: Opferschutz geht vor Täterschutz.

(Beifall bei der CDU)

Der Bericht der Landesregierung zeigt, dass dies von uns auch umgesetzt worden ist und dass dies keine leeren Versprechungen gewesen sind.

In den vergangenen Jahren sind daraus viele konkrete Umsetzungsschritte erwachsen. Ich möchte nur einige nennen, weil Sie, denke ich, doch sehr umfangreich berichtet haben, Frau Ministerin. Auch Sie, sehr geehrte Frau Kollegin Tiedge, haben vieles schon aufgegriffen.

Ich denke, die Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten mit Opfern und ihren Interessenvertretern ist wesentlich besser geworden. Sie ist nach meiner Einschätzung auch vermehrt ins Bewusstsein aller Beteiligten gerückt. Hierbei haben Fortbildungen auf der einen und sicherlich auch Öffentlichkeitsarbeit auf der anderen Seite eine positive Wirkung entfaltet. Auch die Beratung und Betreuung von Opfern, die häufig zugleich Zeugen sind - besonders schwierig ist das in Vergewaltigungsprozessen -, ist besser geworden.

Hierbei leistet der Soziale Dienst der Justiz eine ganz wichtige Arbeit. Ich bin dankbar für das Engagement der Vereine der freiwilligen Straffälligenhilfe. In ihrer Arbeit zeigt sich ein wirklich beispielhaftes bürgerliches Engagement, meine Damen und Herren.

Die Landesregierung unterstützt den so genannten Täter-Opfer-Ausgleich - auch das ist von Ihnen gesagt worden - finanziell durch Zuwendungen für die entsprechenden Träger. Gerade im Jugendstrafverfahren ist dies ein für alle Beteiligten ganz wichtiger Ansatz, der weiter ausgebaut werden soll. Die Fallzahlen sind im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleiches seit Jahren erfreulich hoch, wobei der Rückgang im Jahr 2009 für mich noch einer Erklärung bedarf.

Zur Förderung von beschleunigten Verfahren, meine Damen und Herren, wurden in unserem Land erhebliche Anstrengungen unternommen, die während der Zeit des Justizministers Becker begonnen worden sind. Der Anteil der entsprechenden Anträge liegt inzwischen landesweit stabil über 10 %. Das muss - so hoffe ich auch - nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Jede und jeder von uns kennt Beispiele, wo eine schnelle Reaktion im Nachgang zu einem Delikt sehr hilfreich sein kann. Für das Gerechtigkeitsgefühl der Opfer, das mehr von dem archaischen Gedanken der Sühne als der Resozialisierung getragen ist, ist schnelles Recht gutes Recht. Auch diesem subjektiven Gerechtigkeitsgefühl der Opfer und auch der Gesellschaft, die mit den Opfern fühlt, ist rechtlich Rechnung zu tragen. Schließlich, meine Damen und Herren, urteilen Gerichte am Ende eines Strafverfahrens immer im Namen des Volkes.

Wir dürfen auch nicht vergessen - das haben Sie gesagt, Frau Tiedge -: Der beste Opferschutz ist Prävention. Eine wirkungsvolle Verhinderung von Straftaten sowie deren konsequente Verfolgung und Ahndung sind selbstverständlich - auch wir sehen das so - ein zentraler Bestandteil beim Opferschutz.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich die erfolgreichen Bemühungen der zurückliegenden Jahre herausstelle - ich könnte dies noch eine Weile fortsetzen -, dann tue ich dies, weil ich das Engagement der vielen Beteiligten in unserem Land sehr schätze. Ich tue dies aber nicht mit einem Gefühl der Genügsamkeit und Selbstzufriedenheit meiner Fraktion oder vor mir selbst. Dazu haben wir nämlich gar keinen Anlass.

An dieser Stelle - das will ich offen sagen - ist mir der Opferschutzbericht der Landesregierung noch etwas zu deskriptiv auf die Beschreibung des Status quo hin ausgerichtet. Er blickt noch zu wenig nach vorn. Ich habe heute auch von Ihnen, verehrte Frau Ministerin, noch zu wenig über künftige Herausforderungen gehört. Wir müssen uns aber heute schon über den Opferschutz von morgen Gedanken machen; denn gerade in diesen Bereichen läuft, meine Damen und Herren, die Entwicklung rasend schnell.

Ich will Ihnen dazu nur stellvertretend zwei Stichworte nennen: Datenschutz und Internetkriminalität.

Zum Datenschutz. Wenn ich sehe, in welchem Ausmaß heute in unserem Land Persönlichkeitsprofile erstellt, Daten erhoben oder preisgegeben werden, teilweise völlig unbedacht, dann halte ich das auch für ein Thema des Opferschutzes. Proaktiver Opferschutz versucht immer schon zu vermeiden, meine Damen und Herren, dass Menschen zu Opfern werden.

Ich will hier nichts verteufeln. Aber wir alle wissen, dass gerade junge Menschen in Datennetzwerken immer wieder zu potenziellen Opfern werden und viel zu lange überhaupt nichts davon merken. Wir müssen uns darüber verständigen, wie das Strafrecht hier stärker und zielgenauer abschreckend auf die Täter wirken kann.

Weiterhin müssen wir stärkere Anstrengungen unternehmen, um die Sensibilität für die Belange des Datenschutzes und der Identitätswahrung in die Gesellschaft zu tragen, insbesondere in unsere Schulen. Ich würde es, sehr geehrte Frau Ministerin Wolff, für angezeigt halten, wenn in den Schulen ein Pflichtfach Datenschutz eingeführt würde,

(Zustimmung bei der CDU und der SPD)

weil wir lernen müssen, damit umzugehen.

Mein zweites Stichwort hat ebenfalls etwas mit der technologischen Entwicklung zu tun: Internetkriminalität. Wir haben in den letzten Jahren eine enorme Verlagerung der Kriminalität erlebt, auf die wir viel zu wenige Antworten haben. Ein Leben ohne Internet können wir uns alle heute kaum noch vorstellen. Aber auch Kriminelle sind im Internet an vorderster Stelle mit dabei. Die Rechtspolitik und damit auch der Opferschutz müssen dieser Entwicklung folgen.

Ich denke zum Beispiel an das so genannte CyberGrooming, eine widerliche Form der Kontaktaufnahme zu Kindern über das Internet mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs. Die geltenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs reichen aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang zur Gewährleistung eines wirksamen präventiven Opferschutzes nicht aus. An dieser Stelle muss nachgebessert werden. Während wir Juristen noch höchst filigran über Datenspeicher und die Nachweisbarkeit von Einwirkungen streiten, fügen perverse Kinderschänder ihren Opfern schlimmsten Schaden zu, und das oft mit lebenslangen Folgen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang bereits deutliche Vorgaben für eine Neuregelung gemacht. Das können Sie in dem Urteil vom 2. März 2010 nachlesen. Die Bundesjustizministerin hat sie aber bisher nicht aufgegriffen. Daher fordere ich die Landesregierung auf, entsprechende Bemühungen in den Ländern zu unterstützen, gegebenenfalls auch mit dem Ziel einer Bundesratsinitiative.

Zum Schluss, meine Damen und Herren, noch ein Stichwort, mit dem wir uns heute Nachmittag noch beschäftigen werden: die Sicherungsverwahrung. Auch das Thema Sicherungsverwahrung, meine Damen und Herren, ist in erster Linie ein Thema des Opferschutzes.

Denn der Umgang mit einem Täter, der nach Verbüßung seiner Haftstrafe in Sicherungsverwahrung kommt, betrifft nicht allein ihn; er betrifft den Schutz der gesamten Bevölkerung, nicht zuletzt den Schutz seiner Opfer, die gegebenenfalls fürchten müssten, erneut in Gefahr zu geraten.

(Zustimmung bei der CDU)

Die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die ich in der Konsequenz für wenig sachgerecht halte - es gibt mittlerweile einen BGH-Beschluss von gestern, der das in Teilen infrage stellt -, stellt uns vor große Herausforderungen. Die CDU Sachsen-Anhalts tritt angesichts der nun eingetretenen Situation dafür ein, eine landesgesetzliche Grundlage zu schaffen, um Regelungslücken zu schließen - im Interesse der Gesamtbevölkerung und insbesondere im Interesse bisheriger wie potenzieller zukünftiger Opfer.

(Herr Kosmehl, FDP: Dafür fehlt aber die Kompe- tenz!)

Im Falle besonders gefährlicher Straftäter, die objektiv eine Gefahr für andere darstellen, darf es in SachsenAnhalt keine Nachlässigkeit geben.

(Herr Kosmehl, FDP: Damit haben Sie schon einmal vor dem Bundesverfassungsgericht verlo- ren!)

Diese Täter, Herr Kosmehl, stellen eine immanente Gefahr für die Bevölkerung dar,

(Herr Kosmehl, FDP: Ja!)

weil sie sich aufgrund einer krankhaften Persönlichkeitsstruktur nicht in die Lage der Opfer versetzen können

(Herr Kosmehl, FDP: Richtig!)

und ihnen unendliches Leid zufügen. Wenn wir in dem Wissen, dass diese Täter, wenn sie wieder herauskommen, aufgrund einer krankhaften Persönlichkeitsstruktur den Opfern unendliches Leid zufügen werden, diese Täter gleichwohl in die Gesellschaft entlassen, dann, denke ich, verkehren wir den Opferschutz.

Möchten Sie auf eine Zwischenfrage von Herrn Kosmehl antworten?

Ich reagiere am Ende meiner Rede auf Fragen. Aber es freut mich, dass Herr Kosmehl aufgewacht ist.

(Herr Dr. Schrader, FDP: Diese Arroganz ist schon erstaunlich! - Frau Dr. Hüskens, FDP: Die- se Eitelkeit ist unerträglich!)

Selbstverständlich müssen wir uns heute auch über den Vollzug und damit über alternative Unterbringungsmöglichkeiten, über soziale und therapeutische Angebote unterhalten. Das kostet Geld. Die Justizministerin muss an dieser Stelle bald konkrete Antworten für die Umsetzung in Sachsen-Anhalt geben.

Meine Damen und Herren! Ich komme zum Schluss. Ich bin dankbar für die Initiative der Ministerin, die mit dem Bericht und der heutigen Regierungserklärung Aufmerksamkeit für das wichtige Thema Opferschutz gewinnt. Ich bin dankbar für vieles, was in den vergangenen Jahren gemeinsam zur Verbesserung des Opferschutzes in Sachsen-Anhalt erreicht werden konnte, und ich danke allen, die dazu ihren Beitrag leisten.

Schließlich: Ich werbe dafür, bei diesem so wichtigen Thema den Blick nach vorn zu richten und sich auch auf neue Herausforderungen kraftvoll und engagiert einzustellen. Wir wissen, dass es, um die posttraumatischen Erinnerungen und die Situation der Opfer in ihrer Gänze zu begreifen, nicht genügt, wenn man nur die nüchterne juristische Aufarbeitung der Delikte kennt. - Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der CDU und von Minister Herrn Robra)

Herr Kosmehl, jetzt können Sie Ihre Frage stellen.

Sehr geehrter Herr Kollege Stahlknecht, ich bin schon etwas früher wach gewesen. Im Übrigen darf ich wieder

einmal feststellen, dass Sie in Ihrer Eigenschaft als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU vielleicht dafür sorgen sollten, dass alle Ihre Kollegen anwesend sind bei einer solchen Debatte.

(Beifall bei der FDP - Herr Gürth, CDU: Nun mal nicht so eine große Lippe, nur weil von Ihnen heute mal alle da sind! - Zuruf von Frau Dr. Hüs- kens, FDP)