Protokoll der Sitzung vom 20.10.2006

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne die 9. Sitzung des Landtages der fünften Wahlperiode. Ich begrüße Sie dazu recht herzlich.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Meine Damen und Herren! Zwei Mitglieder des Landtages haben heute Geburtstag. Herr Hardy Güssau, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses und wünsche Ihnen viel Erfolg und Schaffenskraft.

(Beifall im ganzen Hause)

Da Herr Güssau heute noch nicht 50 Jahre alt wird, ist er anwesend. Herr Detlef Radke, der heute seinen 50. Geburtstag feiert, hat sich wegen der Feierlichkeiten beim Präsidenten entschuldigt. Auch ihm wüschen wir aus der Ferne alles Gute.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Vereinbarungsgemäß beginnen wir unsere heutige Sitzung mit dem Tagesordnungspunkt 21 - Aktuelle Debatte. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 9 und 4.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Aktuelle Debatte

Es liegen zwei Beratungsgegenstände vor. Zum einen geht es um das Thema „Soziale Spaltung der Gesellschaft - Gefahren für die Zukunftsfähigkeit Sachsen-Anhalts“, zum anderen um Kindesmisshandlung und Kindestötung. Für jedes Thema in der Aktuellen Debatte sind zehn Minuten Redezeit je Fraktion vorgesehen. Auch die Landesregierung hat eine Redezeit von zehn Minuten.

Ich rufe das erste Thema auf:

Soziale Spaltung der Gesellschaft - Gefahren für die Zukunftsfähigkeit Sachsen-Anhalts

Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS - Drs. 5/295

Die Redereihenfolge ist wie folgt festgelegt: Linkspartei.PDS, CDU, FDP und SPD. Zunächst hat die Antragstellerin das Wort. Bitte sehr, Frau Bull.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man könnte nach dem Medienecho und den Entrüstungsritualen glauben, das Thema und auch die Diagnose seien neu. Ob es aber der letzte Armuts- und Reichtumsbericht ist, ob es der Bericht zum Stand der deutschen Einheit ist, ob es die letzten Studien des DIW sind - es ist bekannt, und zwar seit langem.

Die Zahl derjenigen, die sich abgehängt fühlen, wächst. Zu der bitteren Wahrheit gehört ebenso: Sie ist auch unter Rot-Grün gewachsen. Sie ist im Osten höher als im Westen und sie wächst im Osten stärker als im Westen. In den neuen Ländern scheint es ein immer stärker männliches Phänomen zu werden. Der Abstand, meine Damen und Herren, zwischen Arm und Reich nimmt im

mer weiter zu. Das mündet in eine soziale Spaltung, die das Fundament der Gesellschaft brüchig werden lässt.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Das ist eine reale Gefahr und keine Horrorvision. Ich würde gern vier Probleme dazu aufzeigen.

Erstens. Nun hat sich bei den ersten Meldungen der Ärger darauf konzentriert, dass die Begrifflichkeiten nicht stimmen. Das ist nachvollziehbar, das will ich gern zugeben. Der Begriff „Unterschicht“ ist stigmatisierend, meine Damen und Herren. Aber die Aufregung über die Begriffe geht ein riesiges Stück am Leben vorbei.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Begriffe stigmatisieren sehr wohl. Aber sie können nur dann stigmatisieren, wenn sie mit Leben erfüllt sind. Oder würde sich jemand von Ihnen darüber erregen, dass er zur Oberschicht gezählt würde? - Wohl kaum.

(Zuruf von der CDU: Doch!)

Sich über den Begriff „Unterschicht“ trefflich und laut zu erregen, so berechtigt es auch sein mag, wenn man doch selbst ein Stück dazu beigetragen hat - sei es durch Tun oder durch Unterlassen, meine Damen und Herren -, das finde ich dann schon ein Stück weit zweifelhaften Ärger.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Armut ist nicht gottgewollt, geschweige denn gottgemacht. Sie ist kein Naturgesetz, sondern sie ist von Menschen gemacht. Sie ist ein reales Ergebnis von Politik. In den Verhältnissen liegt das Problem, meine Damen und Herren, und weniger in den Begriffen.

Zweitens. Wie entsteht Armut? Was ist Armut? - Ich fand es schon erstaunlich, wie schnell verkündet wurde, das alles habe gar nichts mit Geld zu tun, die Frage der finanziellen Transferleistungen sei davon nicht berührt, - Klammer auf - die Regelsätze stimmen - Klammer zu.

Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich ist Armut keineswegs nur eine Frage des Geldes. Einkommensarmut führt zum Beispiel nicht zwangsläufig zu Bildungsarmut, zu Armut an Gesundheit oder zu anderen Mangelerscheinungen.

Um einen Fakt aber kommt man nicht herum: Geld hat nun einmal in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft den höchsten Konvertierungsgrad. Das heißt, der Zugang zu hochwertigen Bildungsangeboten ist auch eine Frage des Geldes. Der Zugang zu nachhaltiger gesundheitlicher Prävention ist auch eine Frage des Geldes.

Meine Damen und Herren! Ich habe das Wort „auch“ in meinem Manuskript beide Male unterstrichen. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, aber auch.

(Herr Borgwardt, CDU: Das stimmt!)

Deshalb empfinde ich es sehr wohl als unredlich, so zu tun, als hätte das Einkommen von Langzeitarbeitslosen, das Einkommen von Alleinerziehenden, das Einkommen von Sozialhilfeempfängern, das Einkommen von Niedriglohnempfängerinnen usw. usf. rein gar nichts mit Armut zu tun. Als noch unredlicher, meine Damen und Herren, empfinde ich es, immer mal wieder die Kürzung des Eckregelsatzes zu fordern und sich gleichzeitig über Armut und Unterschicht zu empören.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Ich will nur einige Splitterthemen nennen. Der Regelsatz ist von der Preisentwicklung abgekoppelt. Er ist an die Rentenentwicklung gekoppelt. Wie sich die Renten in den letzten Jahren entwickelt haben, wissen wir alle. Die Steigerungsrate ist gleich null. Die Festsetzung des Regelsatzes ist ein Zirkelschluss; denn dabei orientiert man sich an dem Einkommen der unteren 20 %. Gerade bei ihnen hat sich seit Jahren einkommensmäßig nichts getan.

Der besondere Bedarf von Kindern wird nicht berücksichtigt. Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt: Die Abteilung 10 - Bildung - wird im Eckregelsatz gar nicht berücksichtigt.

So lautet die Diagnose in den Expertisen der Wohlfahrtsverbände: Die Regelsätze sind zu 20 % unterfinanziert. Deswegen ist es sehr wohl angebracht, die Forderung an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen. Um eine Grundsicherung zu entwickeln, die diesen Namen auch verdient, ist der Regelsatz zu erhöhen, und zwar mindestens um 20 % auf mindestens 420 €.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Denn Fakt ist nun einmal, meine Damen und Herren: Einkommensarmut ist eine zentrale, wenn auch nicht die einzige Ursache bei der Entstehung von vielfältigen Mangelerscheinungen.

Zum Dritten. Armut hat mit mangelnder Bildung zu tun - ja. Bildung wiederum hat die höchsten Potenziale dafür, dem Kreislauf der Armut zu entkommen - auch richtig. Mangelnde individuelle Bildung ist die Ursache und die Folge zugleich. Deswegen, finde ich, ist Bildungspolitik neben der Frage der Schaffung einer angemessenen Grundsicherung, die ein Mindestmaß an sozialer und kultureller Teilhabe für alle sichert, das Kerngeschäft von versorgender Sozialpolitik.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS und bei der SPD)

Wie sieht es nun in Sachsen-Anhalt aus? - Wir haben mit 9 % bundesweit die höchste Schulabbrecherquote, und zwar mit Abstand. Nun gehört zur Wahrheit, dass diese Quote unter dem jetzigen Kultusminister erstaunlich abgebaut wurde. Wir waren ursprünglich bei 14 %. Sieht man aber genau hin, dann gehört auch zur Wahrheit, dass die Summe die Schulabbrecher und die Summe der Hauptschulabsolventinnen konstant geblieben ist, und das auf einem sehr, sehr hohen Niveau.

Nun kann man sagen, die Hauptschule ist besser als gar nichts - sicherlich. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns dennoch ehrlich sein: Der Hauptschulabschluss kann getrost - im Übrigen auch nach der Definition des Pisa-Konsortiums - als Bildungsarmut bezeichnet werden.

Sachsen-Anhalt hat den niedrigsten Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, die in integrativen schulischen Angeboten lernen, also nicht in der Sonderschule. Dieser Anteil liegt bei 2,6 % und er liegt bundesweit bei sage und schreibe 12,7 %. Respektive, wir haben mit fast 8 % die höchste Sonderschulquote. Bundesweit lag sie im Jahr 2003 bei 4,8 %.

Warum sage ich das? - Ich sage das, weil der Löwenanteil an Sonderschülerinnen und -schülern Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen sind. Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen sind nicht etwa wegen einer vermeintlichen körperlichen Schädigung behindert, sondern im Wesentlichen ist die Behinderung in

einer sozialen Benachteiligung begründet - Tendenz steigend.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Ich will an dieser Stelle auch nicht verschweigen, dass man abwarten muss, was das Förderschulkonzept bringt. Das will ich an dieser Stelle keineswegs in Bausch und Bogen verdammen. Die Erfahrung sagt aber, wenn sich die Lernatmosphäre und die Lernbedingungen in der Regelschule nicht verändern, wird es keine erfolgreiche, keine ernst zu nehmende erfolgreiche schulische Integration geben.

Wir haben, meine Damen und Herren, in Sachen Bildungsarmut in Sachsen-Anhalt richtig was zu tun. Aus unserer Sicht sind es drei zentrale Fragen des Risikomanagements:

Wollen wir die Kindertagesstätte als Lernherausforderung gestalten oder lassen wir bereits dort die Selektion nach sozialer Herkunft zu? Wollen wir ein Lernumfeld, welches mit der Vielfalt hinsichtlich der Leistungen und Kompetenzen nicht nur umgehen kann, sondern sie auch nutzen kann? Oder wollen wir ein gegliedertes, differenzierendes Schulsystem, welches zumindest große Potenziale - ich sage es sehr vorsichtig - hat, Schülerinnen und Schüler unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu stigmatisieren?

An dieser Stelle wird es sehr spannend sein, welche Ergebnisse der Bildungskonvent hervorbringen wird bzw. welche man ihn hervorbringen lässt.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS - Herr Borg- wardt, CDU: Leute!)