Protokoll der Sitzung vom 20.10.2006

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS - Herr Borg- wardt, CDU: Leute!)

Mein viertes und letztes Problem berührt den Zusammenhang zwischen Demokratie und Armut. Zu Recht hat sich Professor Böhmer bei seiner Rede am 3. Oktober in Halle zum Tag der Deutschen Einheit mit Blick auf die Gefahren des Rechtsextremismus bei denen bedankt, die sich dem anstrengenden Diskurs über schwierige Problemlagen stellen, die den Weg der steinigen demokratischen Auseinandersetzungen verfolgen und die auf Heilsversprechungen verzichten.

Das sage ich an dieser Stelle ganz bewusst. Genau das, meine Damen und Herren, ist Demokratie. Sie erschöpft sich nicht in der Gewissheit darüber, dass Mehrheiten den politischen Weg bestimmen und dass alles, was nicht passt oder als nicht vorstellbar erscheint, als Populismus abqualifiziert wird. So erspart man sich nämlich den rationalen Diskurs. Nein, meine Damen und Herren, das sind reichlich schlichte Vorstellungen von demokratischen Spannungsfeldern.

Die Bekämpfung von Armut gehört zu den Geschäftsgrundlagen der Demokratie.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Die Bekämpfung vor Armut in all ihren unterschiedlichen Wechselwirkungen ist vor allem, aber eben nicht nur eine moralische und ethische Frage. In einer Gesellschaft, in der einem beachtlichen Teil der Menschen der Zugang zu sozialen oder kulturellen Ressourcen verwehrt bleibt, meine Damen und Herren, ist kein Platz für ein geistig und mental libertäres Klima, für Toleranz, für Mitmenschlichkeit, für differenzierte Meinungen, für einen aufgeklärten Diskurs. Eine Gesellschaft mit zunehmender Polarisation und wachsendem sozialen Sprengstoff ist der ideale Nährboden für autoritäre und fundamentalistische Wünsche und Gedankenspiele.

Meine Damen und Herren! Es ist eine verflucht hohe Anforderung an die Politik, die Menschen, die in diesen Konfliktlagen leben, die sich abgehängt fühlen, anzusprechen. Ich will auch sagen, dass es eine Herausforderung für alle demokratischen Parteien ist; denn das Gegenteil von rechtsextrem, meine Damen und Herren, ist nicht links, sondern ist immer noch Demokratie.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Für die Politik in Sachsen-Anhalt gilt deshalb, dass nicht nur die Schuldenentlastung über die Frage der Zukunftsfähigkeit des Landes Sachsen-Anhalt entscheidet. Eine schärfer werdende soziale Spaltung kostet uns künftig nicht nur das, was wir jetzt nicht investieren, sondern es kostet uns unter Umständen das demokratische, das soziale Fundament.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Danke sehr, Frau Bull. - Für die Landesregierung hat jetzt Minister Dr. Haseloff um das Wort gebeten. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Abgeordnete! Dieses Thema ist zu wichtig, als dass man es emotional behandeln darf.

(Zustimmung bei der CDU)

Trotzdem seien mir ganz am Anfang einige vielleicht auch persönliche Anmerkungen gestattet. Was eine Spaltung der Gesellschaft bedeutet, das wissen wir vor allem im Osten. Wir haben es bis 1989 erlebt.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP - Mi- nister Herr Dr. Daehre: Richtig!)

Dort hatten wir eine herrschende Klasse und eine beherrschte Klasse.

(Herr Heft, Linkspartei.PDS: Die haben wir heute auch!)

Die beherrschte Klasse bzw. die beherrschten Schichten waren in einer größeren Zahl vorhanden. Wenn wir uns heute die Statistik ansehen, über die wir ernsthaft diskutieren sollten, müssen wir uns fragen, warum in dem Modell „Bundesrepublik Deutschland alt“ 4 % der Bevölkerung - das sind zu viel - im so genannten Prekariat vorgefunden werden und bei uns 20 %. Ich glaube, das hat mit dieser Vergangenheit, aus der wir gekommen sind, zu tun.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich will keine Schuldendebatte führen, aber weil wir als DDR die Schulden nicht in den Griff bekommen haben,

(Herr Gallert, Linkspartei.PDS: Nein!)

haben wir uns auflösen müssen. Wissen wir das eigentlich noch?

Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit reden, sollten wir auch darüber nachdenken, dass das, was wir als Sozialstaat realisieren können, auch immer eine materielle bzw. finanzielle Basis benötigt, für die wir uns gemeinsam durch eine gute Wirtschaftpolitik einsetzen müssen.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Die 20 %, die sich - vor allen Dingen im Osten - aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen, sind unser Thema für

die Zukunft. Wenn wir dieses Thema nicht vernünftig lösen und nicht mit diesen Menschen eine Zukunft zu gestalten versuchen, dann - darin gebe ich Ihnen Recht - haben wir unsere Aufgaben nicht erfüllt, haben wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht. Deswegen müssen wir alle Kräfte daran setzen, dass wir diese aus vielen Altlasten entstandene Situation für das Land Sachsen-Anhalt zum Positiven wenden.

Ein Thema dabei ist, dass wir uns anschauen müssen, wie die realen Verhältnisse hinter solchen nackten Statistiken aussehen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass wir Anfang der 90er-Jahre mit einem Arbeitsplatzdefizit, das heißt mit ausgegrenzten Menschen, von 50 % der im Erwerbsleben Tätigen begonnen haben. Der Grund war die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze, die sie bis dahin innehatten.

Es war eine dramatische Situation, dass 50 % der Erwerbstätigen nicht in originärer Arbeit waren und dass wir uns von dieser Basis, von diesem Sockel, von dieser schier nicht zu bewältigenden Größe auf eine Situation hinarbeiten mussten, die sicherlich nicht befriedigend ist, die aber zumindest zurzeit bedeutet, dass wir eine Arbeitslosenquote von 17,5 % haben. Diese ist immer noch viel zu hoch. Aber wir haben etwas bewegt.

Wer sich die vergangenen Armutsberichte der Landesregierung ansieht - der erste ist im Jahr 1999 veröffentlich worden -, der weiß, dass damals ähnliche Situationen vorzufinden waren, wie wir sie in der von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiierten Studie auch vorfinden. An dieser Stelle hat sich im Wesentlichen nichts geändert, sondern es hat sich über die Jahre hinweg in der Statistik eine klare Nachweisführung der Ist-Situation ergeben. Diese ist zum Teil durchaus positiv, aber in wesentlichen Teilen - der Langzeitarbeitslosigkeit, der Doppelarbeitslosigkeit, die verblieben ist - für uns nach wie vor problematisch.

Die Zusammenführung der Zahlen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe für Sachsen-Anhalt hat in der Addierung keine zusätzlichen Leistungsempfänger zutage gefördert. Das heißt, hier hat Hartz IV - das muss man zur Ehrenrettung dieses Systems sagen - schlicht und einfach mathematisch für Klarheit gesorgt. Hartz IV hat dafür gesorgt, dass in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung das Thema Langzeitarbeitslosigkeit in einer anderen Weise als bisher ernst genommen wurde.

Der nächste Punkt, der mir an dieser Stelle wichtig erscheint, ist folgender: Wenn wir uns anschauen, welche Personen sich in dieser Gesellschaft ausgegrenzt fühlen - auch in unserem Land -: Das sind diejenigen, die auch in den alten Ländern vorzufinden sind, es sind Personen mit schlechter Qualifizierung bzw. mit einer schlechten Ausbildung. Diesbezüglich ist sicherlich auch der Staat gefordert, aber auch das jeweilige Individuum.

Diese Menschengruppe ist gekennzeichnet durch besondere Schicksalsschläge, durch in ihrer Berufsbiografie und ihrer Lebensbiografie aneinander gereihte Schwierigkeiten, die für sie nicht auflösbar waren. Dadurch, dass familiäre Zusammenhänge fehlen bzw. oftmals ein isoliertes Dasein geführt wird, ist hier keine persönliche Lösung absehbar gewesen. Es sind Menschen, die schlicht und einfach das Gefühl haben, dass sie keine Perspektive, keine Zukunft haben.

Das ist genau der Punkt, wie wir uns, die letztlich nicht zu diesem Personenkreis gehören und es besser getroffen haben, letztlich zu positionieren haben. Ich denke, diese Verantwortung, die in diesem Zusammenhang

auch die Landespolitik aufzugreifen hat, wird wahrgenommen. Ich kann Ihnen sagen, dass wir uns in allen Artikulationen, in allen Überlegungen Gedanken darüber machen, wie wir diesem Personenkreis eine konkrete Chance einräumen können.

(Beifall bei der CDU)

Das heißt konkret, dass wir für Wirtschaftswachstum sorgen müssen, dass wir für eine Ordnungspolitik sorgen müssen, die Wettbewerb zulässt, damit sich die Wirtschaft entwickeln kann. Wir merken an dieser Stelle, welches hohe Gut jeder Arbeitsplatz darstellt und dass es sich lohnt, um jeden Arbeitsplatz und um jede Investition zu kämpfen.

Es ist wichtiger, dass wir erst einmal Arbeit anbieten, als dass wir darüber nachdenken, welche Arbeit derzeit opportun ist, ob es der Niedriglohnbereich, der mittlere Bereich oder der besser qualifizierte und bezahlte Bereich ist. Wir müssen darüber nachdenken, dass Arbeit in jedem Fall dazu führt, dass sich der Status verbessert und dass sich die Einkommenssituation der Betroffenen insgesamt verbessert und damit eine Schiene in Gang gesetzt wird, die wiederum zur Integration ins Arbeitsleben und in das gesellschaftliche Leben führt.

Deshalb haben wir in der Koalitionsvereinbarung einen guten Maßnahmenmix vereinbart, der versucht, an all diesen Stellschrauben Bewegung hineinzubekommen. Das Entscheidende ist aber, dass sich alles daran festmacht, dass wir Wachstum und Beschäftigung im Land verbessern. Daran richten sich alle Punkte aus, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Bull?

Ich würde darum bitten, dass ich diese zum Schluss beantworten darf. - Die nächste Seite, die wir ebenfalls in den Blick nehmen müssen, ist, wie sich das für uns zahlenmäßig darstellt. Die große Sorge, die wir gemeinsam haben, besteht darin, dass 17,4 % aller Einwohner in der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren dem Hartz-IVRegelkreis zuzuordnen sind. Von diesen 17,4 % sind nur 50 % originär arbeitslos.

Das ist eine Botschaft, die man erst einmal interpretieren muss. Das ist kein Statistikeffekt; denn die Hartz-IV-Statistik ist eine ganz knallharte Analyse der gesellschaftlichen Realität. Dass 50 % der Menschen in Hartz IV arbeitslos sind und die anderen trotzdem im Regelkreis stecken, ist nicht nur eine Frage der Ein-Euro-Jobs, in denen sich diese Personen vielleicht befinden könnten, sondern vor allen Dingen der generellen Einkommenshöhe. Wir stellen fest, dass 25 % in der Größenordnung der Grundsicherung für eine Bedarfsgemeinschaft liegen, das heißt in dieser Größenordnung auch Einkünfte beziehen und damit jeden Tag arbeiten gehen, ohne dass sie sich deutlich vom Einkommen einer Bedarfsgemeinschaft mit mehreren Personen abheben.

Oftmals spielt auch die Motivationsfrage eine Rolle, inwieweit ein Anreiz vorhanden ist, Arbeit aufzunehmen, wenn man doch letztlich in diesem Leistungssystem, das nach wie vor zu den komfortabelsten in Europa gehört, aufgefangen wird. Die Konsequenz für diejenigen, die im Aufstockerbereich liegen, die also zusätzliche Leistungen benötigen, obwohl sie arbeiten gehen, besteht darin,

dass es sich hierbei um Personen handelt, die deswegen arbeiten gehen, weil sie für ihre Familie eine Perspektive wollen und weil sie über mehrere Kinder verfügen. Das ist auch der Hauptgrund, warum 31 % aller Kinder in Sachsen-Anhalt bis zum Alter von 14 Jahren in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben.

Sie finden demzufolge einen Rahmen vor, der sich für ihre persönliche Planung und ihre persönliche Entwicklung als Jugendliche, als junge Erwachsene durchaus erschwerend auswirken kann. Wir wissen auch aus den Armutsberichten der Landesregierung seit Ende der 90er-Jahre, dass es konkret diese Personen besonders schwer haben, sich in das normale Berufsleben einzufügen. Das ist deshalb der Fall, weil Vorbilder, die man als junger Mensch einfach braucht, nicht in der eigenen Familie vorzufinden sind.

Es besteht eine Ambivalenz zwischen faktischer Armut - immer relativ gesehen im deutschen System, nicht im internationalen Vergleich - und der Leistungsbezugsmöglichkeit, die trotzdem eine Grundsicherung ermöglicht. Diese Grundsicherung sorgt trotzdem nicht ausreichend dafür, wenn wir es über Schulen, über Sozialeinrichtungen und über entsprechende Ganztagsangebote schaffen, dass diese jungen Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld herausgenommen werden und mit einer Chance versehen werden, was in diesen Bedarfsgemeinschaften oftmals nicht möglich ist.

Wir haben also die Aufgabe, an diesen Punkten intensiv weiterzuarbeiten. Wir wissen, dass auch die Schule eine Aufgabe zu erfüllen hat. Wir haben das Thema gemeinsam mit dem Kultusministerium und mit dem Sozialministerium mit dem Ziel einer Senkung der Schulabbrecherquoten aufgegriffen. Wir hatten zusammen mit dem Wirtschaftsministerium und dem Kultusministerium das Thema der Ausbildungsabbrecher aufgegriffen. Das alles sind Punkte, die schlicht und einfach zur Problemlösung notwendig sind, damit wir jungen Menschen eine Chance - auch langfristig - einräumen. Der wesentliche Problemlösungsansatz - das kann ich an dieser Stelle sagen und das belegen auch Untersuchungen - liegt nicht im Bereich von Schule, von Jugendklubs und Sozialeinrichtungen, sondern im persönlichen Umfeld, in der Familie.

Wenn wir nicht eine ganz klare Familienförderung in den Vordergrund aller unserer politischen Überlegungen stellen und wenn wir nicht auch bis ins Steuerrecht hinein, auch in Erfüllung der Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts, an diesen Stellen klare Differenzierungen - nicht Privilegierungen - vornehmen im Sinne einer Gleichstellung von Familien mit Kindern gegenüber denjenigen, die ihren persönlichen Lebensentwurf zwar anders gewählt haben, die aber an der Reproduktion und an der Zukunftsfähigkeit der Gesamtgesellschaft nicht in dem gleichen Maße teilnehmen wie Familien, dann haben wir unsere politischen Hausaufgaben an dieser Stelle nicht erfüllt. Deswegen müssen wir an dieser Stelle noch einmal nachlegen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Eine letzte Bemerkung an dieser Stelle - das Thema ist so vielfältig und mit so vielen Fassetten versehen, dass man sich einen ganzen Tag lang darüber unterhalten könnte; das sollte man vielleicht auch -: Wenn wir darüber nachdenken, wie sich die Perspektive Sachsen-Anhalts vor dem Hintergrund dieser Gesamtthematik abspielt, dann müssen wir natürlich auch sagen, wie sich die demografische Komponente hierbei auswirkt.

Wir wissen, dass sich der Arbeitsmarkt, dass sich die Gesamtsituation bei der Integration von Problemgruppen in die Gesellschaft zumindest zahlenmäßig erleichtern könnte, wenn wir die demografische Entwicklung bis zum Jahr 2020 extrapolieren. Wir wissen aber, dass sich der Status, die Situation der Personengruppen, die konkret in diesen 20 % prekärer Lebensverhältnisse identifiziert sind, nicht verändern kann, wenn wir nicht jetzt schon dafür sorgen, dass die zahlenmäßig vielleicht frei werdenden Arbeitsplätze und Integrationsmöglichkeiten für sie persönlich auch infrage kommen. Deswegen müssen wir, so denke ich, in unseren Haushaltsdiskussionen auch darüber nachdenken, was wir mit den Personen der Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren machen. Es ist eben nicht bloß über das Schulsystem und über die Erstausbildungssysteme einfangbar.

Wenn Sie sich die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit der Personen in der Altersgruppe bis 30 Jahre ansehen, dann wissen Sie, dass wir, wenn wir nicht eine Rückbindung auf die entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen hinbekommen, diese Personengruppen für die nächsten 30 Jahre außen vor lassen und dieses so genannte prekäre Personenpotenzial schlicht und einfach zu einem Dauerbrenner in einem Sozialstaat wird. Das ist nicht nur zwischenmenschlich fatal, das ist nicht nur haushaltspolitisch nicht tragbar, sondern das ist auch eine Aufgabe unserer sozialstaatlichen Prinzipien, die wir nicht zulassen dürfen.