Wenn Sie sich die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit der Personen in der Altersgruppe bis 30 Jahre ansehen, dann wissen Sie, dass wir, wenn wir nicht eine Rückbindung auf die entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen hinbekommen, diese Personengruppen für die nächsten 30 Jahre außen vor lassen und dieses so genannte prekäre Personenpotenzial schlicht und einfach zu einem Dauerbrenner in einem Sozialstaat wird. Das ist nicht nur zwischenmenschlich fatal, das ist nicht nur haushaltspolitisch nicht tragbar, sondern das ist auch eine Aufgabe unserer sozialstaatlichen Prinzipien, die wir nicht zulassen dürfen.
Weil es im Osten aufgrund unserer Historie diese schwierige Situation gibt, müssen wir auch in der gesamtdeutschen Diskussion neben der allgemeinen Diskussionslage vor allen Dingen auf die Spezifika hinweisen - aber nicht im Sinne von larmoyanten Forderungen, sondern im Sinne von fachlichen und wissenschaftlichen Analysen - und deutlich machen, dass wir an dieser Stelle den Einigungsprozess in Deutschland schlicht und einfach noch zu vollenden haben. Diesbezüglich - darin gebe ich Ihnen Recht, Frau Bull - haben wir alle gemeinsam durchaus eine Solidarleistung zu erbringen im Sinne der öffentlichen Wahrnehmung.
Diese wendet sich aufgrund dessen, dass wir manchmal die falschen Themen setzen, von uns ab. Stattdessen reduzieren wir dies auf eine Diskussion zwischen Nehmer- und Geberländern, ohne darauf zu achten, was für eine einmalige historische Situation zu bewältigen ist, die mindestens noch bis zum Jahr 2030 anhalten wird.
Deswegen müssen wir auch moderat überlegen, welche Außenwirkung wir als demokratisches Gefüge, als Bundesland Sachsen-Anhalt und als ostdeutsche Bundesländer in diesem gesamtdeutschen Spiel abgeben, damit wir als seriöse Partner wahrgenommen werden, aber auch in dem Sinne, dass wir unsere Hausaufgaben in den anderen Bereichen machen und den Bogen nicht überspannen, nämlich Haushaltskonsolidierung und Ausgabenbegrenzung in den Bereichen, in denen wir uns mehr genehmigen als andere, die uns das Geld zur Verfügung stellen.
Demzufolge gibt es zum Konsolidierungsansatz dieser Landesregierung, zu dem, was wir uns bis zum Jahr 2011 vorgenommen haben, keine Alternative. Ansonsten werden wir die sozialen Ansprüche, die wir uns gemeinsam auferlegt haben, nicht erfüllen können. - Herzlichen Dank.
Herr Minister, zu dem ersten Teil Ihrer Gedanken will ich Ihnen gern sagen, dass ich darin sehr viel Nachdenkliches vorgefunden habe. Ich finde sehr wohl, dass wir auch ein entsprechendes politisches Erbe haben. Das wird deutlich, wenn man sich die Charakteristik der beiden „problematischen“ Gruppen in der besagten Studie ansieht. Allerdings teile ich auch nicht jede Schlussfolgerung, die Sie gezogen haben. Das scheint mir dann doch etwas einfach zu sein.
Ich habe aber auch eine grundsätzliche Frage. Sie haben darauf reflektiert und gesagt, dem Problem könne man beikommen; dazu müsse Wirtschaftswachstum mit Beschäftigungszuwachs her. Dahinter steckt die Philosophie: Wir müssen die Starken stärken, dann geht es auch den Schwachen besser.
Nun mag das eine Philosophie sein, die in den 60er- und 70er-Jahren funktioniert hat, aus dem einfachen Grund, weil zu diesem Zeitpunkt Wirtschaftswachstum und Beschäftigungszuwachs aneinander gekoppelt waren und damit Wirtschaftswachstum über die Arbeit quasi automatisch zu sozialer Sicherheit geführt hat.
Nun geht man aber in vielen Prognosen dahin zu sagen, das Arbeitsvolumen werde in einer Wissensgesellschaft so weit zurückgefahren werden, dass eben dieser Automatismus, Wirtschaftswachstum führe automatisch zu sozialer Sicherheit, nicht mehr funktioniere. Das heißt, es machen sich sehr viele im politischen und im wissenschaftlichen Raum darüber Gedanken, auf welche neue Basis soziale Sicherheit denn eigentlich gestellt werden muss. Ergo kann es nicht mehr so einfach reichen zu sagen, wir müssen das Wirtschaftswachstum stärken, dann wird es Beschäftigungszuwachs geben und dann wird es auch soziale Sicherheit geben.
Frau Bull, zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsaufwuchs gibt es nach wie vor einen eindeutigen Zusammenhang. Der ist nicht mehr so linear wie in den 50er- oder 60er-Jahren, aber er existiert.
Wir haben zurzeit ein gutes Wirtschaftswachstum. Sie wissen, dass das verarbeitende Gewerbe in den vergangenen Quartalen um mehr als 10 % gewachsen ist. Wir haben - wie auch heute in der „Volksstimme“ nachlesbar - erstmalig seit 16 Jahren einen leichten - aber immerhin! - Beschäftigungsaufwuchs bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Demzufolge merken wir, dass es dabei einen Zusammenhang gibt.
(Herr Krause, Linkspartei.PDS: Ein-Euro-Jobs! - Herr Kurze, CDU: Ach, so ein Quatsch! - Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)
- Ein-Euro-Jobs sind nicht sozialversicherungspflichtig, Herr Abgeordneter, sondern die entsprechenden Personen sind nach wie vor als Hartz-IV-Empfänger ganz normal in der Statistik.
Die andere Sache, die Sie ansprachen, geht in Richtung der Alternativen, die trotzdem noch notwendig sind. Für Ostdeutschland gilt im Unterschied zu Westdeutschland Folgendes: Die 4 %, die in den alten Bundesländern in dem so genannten Prekariat vorgefunden werden, sind zu großen Teilen Personen, von denen Arbeitsmarktler sagen, sie seien so gut wie nicht mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Von unseren 20 %, so sagen unsere Arbeitsmarktler ganz klar - ich habe dabei meinen eigenen Erfahrungshorizont -, seien mindestens 75 % bis 80 % bei einem vernünftigen Jobangebot auf jeden Fall integrierbar. Es ist also bei uns nicht so sehr ein Problem der Qualifikation - obwohl die Langzeitarbeitslosigkeit sicherlich zur Dequalifizierung führt; da muss qualifizierungsmäßig immer wieder nachgelegt werden. Letztlich sind diese Personen aber integrationsfähig. Also müssen wir dafür sorgen, dass Jobs herankommen, und zwar Jobs in allen Bereichen.
Es ist ein hohes Gut an sich, jede Arbeit, die verfügbar ist, für den Markt zugänglich zu machen und in den Markt zu implementieren, auch wenn es darum geht, gegebenenfalls niedriger bezahlte Jobs durch den Staat entsprechend aufzustocken. Das ist immer noch besser, als den Menschen gar keine Alternative zu bieten.
Wenn Sie sich die Sozialstruktur dieser Arbeitslosen ansehen, dann werden Sie nicht nur die klassischen Facharbeiter bzw. diejenigen ohne Berufsabschluss vorfinden, sondern inzwischen auch Akademiker, wie sie auch in den alten Bundesländern teilweise vorzufinden sind. Das heißt, wir haben einen Output aus Universitäten und Hochschulen, der in bestimmten Bereichen nicht mit der Marktaufnahmefähigkeit und der Nachfrage in der Wirtschaft korrespondiert. Das ist auch eine Frage der Studienberatung und der persönlichen Entscheidung, in welche Segmente man sich hineinbewegt, wenn man studiert. Letztlich kann es jeden treffen.
Sie finden, wenn Sie einmal in Sachsen-Anhalt in eine Kleiderbörse gehen, dort nicht so vorrangig Hartz-IVEmpfänger, sondern bis hin zu Akademikern Personen, die drei oder vier Kinder haben, möglicherweise zurzeit nicht arbeiten, weil sie in der Kinderbetreuung sind, bei denen der Ehepartner oder der Partner zwar arbeitet, aber insgesamt das Familieneinkommen durch andere Hilfsmöglichkeiten, unter anderem durch eine Kleiderspende bzw. durch die Kleiderbörse, aufgebessert werden muss.
Wir müssen auch daran denken, dass die eigentlichen Problemfälle Alleinerziehende oder Familien mit mehreren Kindern sind, die in bestimmten Grenzbereichen schlicht und einfach außen vor sind. Darauf sollten wir uns, so denke ich, konzentrieren. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern das ist eine Frage der Justierung in diesem System, dass diejenigen, die mehr zur gesellschaftlichen Fortentwicklung beitragen, auch honoriert bekommen müssen, was sie an persönlicher Leistung einbringen.
Ich hoffe, dass ich jetzt alle Stichworte aufgegriffen habe. Das Thema Bürgerarbeit haben wir schon im Sinne einer weiteren Alternative hier besprochen. Das möchte ich nicht noch einmal aufgreifen.
Sie wissen, dass wir uns trotzdem darüber hinaus über alles das, was in der Wirtschaft nicht stattfinden kann und sozusagen nur über Sozialleistungen auffangbar ist, sehr intensiv Gedanken machen und dass wir Vorreiter
sind beim Testen. Mit den Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, können wir auch die bundespolitische Diskussion befruchten, denke ich.
Ich denke, dass wir an dieser Stelle zumindest alles Menschenmögliche getan haben. Wenn Sie sich die Strukturierung des operationellen Programms bis 2013 ansehen, dann sehen Sie, dass wir genau diesen Themenfeldern dort deutlich Rechnung getragen haben.
Ich wollte nur einmal darauf hinweisen, dass der Ausgangspunkt dieser Diskussion die Studie der FriedrichEbert-Stiftung war, die für den Osten nicht nur von 20 % Prekariat spricht, sondern auch von 20 % als so genannte gefährdete Arbeitnehmermitte, die sich natürlich in derselben sozialen Situation befindet. Von diesen Personen sprachen Sie übrigens gerade. Das heißt, wir reden eigentlich über 40 % der ostdeutschen Bevölkerung.
Ich habe an Sie direkt eine Frage. Sie sagten in Bezug auf die Kinder insbesondere derjenigen, die in prekären Lebensverhältnissen leben, dass wir, um sie aus ihrem Umfeld herauszuholen - das empfinde ich als eine schlechte Formulierung; ich würde eher sagen, um die Familien zu unterstützen -, mehr Ganztagsschulen brauchen. Ich frage Sie: Warum reden Sie nicht von Ganztagskindergärten gerade für diese Gruppe?
Ich könnte Ihnen eine Liste mit Wünschen aufschreiben, bei deren Umsetzung wir das Paradies auf Erden bekämen.
Das Problem ist nur, die Abwicklung eines Paradieses habe ich hinter mir. Eines hat mir gereicht. Der Ansatz, den ich bereit bin mitzutragen, besteht darin, dass wir alles Menschenmögliche unter Akzeptanz der Möglichkeiten, die uns unsere Einnahmeseite gibt, tun.
Ich meine, es lastet auch ein moralischer Druck auf uns, die wir hier alle sitzen. Das gilt sowohl für uns hier vorn als auch für Sie. Wir nehmen jeden Monat 93 % an Gehaltshöhe gern entgegen, teilweise sogar 100 %, obwohl diejenigen, die uns ernähren, die uns alimentieren und teilweise in diesem Prekariat der 20 % mit unsicheren Lebens- und Arbeitsverhältnisse stecken, im Durchschnitt in Sachsen-Anhalt gegenüber den westdeutschen Durchschnittswerten 72 % verdienen. Haben wir uns darüber einmal Gedanken gemacht, dass wir dieses Wechselverhältnis einmal ausgleichen?
Haben wir daran gedacht, wenn es darum geht, dass die Arbeitnehmervertreter uns auf 100 % hochpushen, dass die meisten Erhöhungen bei Einzelposten des Haushalts im Personalhaushalt und in der Bezahlung dieses Personals vorgenommen werden und nicht so sehr bei Projekten, die wir zur Integration von besonders betroffenen Menschengruppen auflegen sollen?
Diese Diskussion wird zumindest halbherzig geführt, weil sie immer an der Stelle aufhört, an der einfach auf andere gezeigt wird, die dieses Problem letztlich zu lösen haben.
An dieser Stelle muss man ein größeres Diskussionsfeld aufmachen, das auch die Justierung unserer Gesamtsituation aufnimmt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass wir eine Eigendeckungsquote im Haushalt von rund 45 % haben und dass wir diese 45 % Eigeneinnahmen zu 90 % nur für den öffentlichen Dienst brauchen.
Alles das gehört letztlich in diese Diskussion mit hinein. Deswegen ist der Konsolidierungsansatz notwendig. Deswegen können wir nicht jeden sozialen Wunsch erfüllen, so gern ich das menschlich, Herr Gallert, machen würde. Sie würden das sicherlich auch gern tun. Aber wir sind nicht nur als Menschen da, sondern sind in unserer Funktion auch für die Gesamtgesellschaft verantwortlich. Ich denke, deswegen sollten wir uns auf das Menschenmögliche und auf das Realistische reduzieren.
Danke, Herr Minister. - Für die CDU-Fraktion wird jetzt der Abgeordnete Herr Scharf sprechen. Zuvor haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler des BismarckGymnasiums in Genthin zu begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der soziologische Befund ist, wie er ist. Er ist eindeutig. Die sozialen Unterschiede nehmen in Deutschland zu. Das betrifft insbesondere die Verteilung des materiellen Wohlstands.
Ich werde in meinen kurzen Ausführungen bewusst nicht von einer entstehenden oder von einer bereits existierenden Unterschicht sprechen. Die Begriffsbildungen - wenn wir schon soziologisch argumentieren - müssen stimmen. Ich denke, hierbei hat man sich vergriffen und damit auch viel Verwirrung gestiftet.
Schichten sind soziale Gruppe, die jeweils eine gewisse Anzahl von Merkmalen gemeinsam haben. Gemeinhin zählt man dazu den Bildungsstand, den normativen Hintergrund, den Lebensstandard oder die soziale Organisationsform. Es sind nicht einfach nur die materiellen Verhältnisse, die es zu beurteilen gilt.
Entscheidend für die Stellung und für die Entwicklung eines Menschen in der Gesellschaft sind individuelle Faktoren. Dabei spielen zum Beispiel der Wohnort, die Herkunft und das soziale Umfeld eine große Rolle. Aber auch die gesamte individuelle Persönlichkeit spielt eine entscheidende Rolle für den Weg, den ein Mensch in seinem Leben gehen kann. Eine soziale Ungleichheit definiert nicht automatisch, welchen Lebensweg eine Persönlichkeit letztlich finden wird.
Meine Damen und Herren! Wir als Volksvertreter sind natürlich in gewissen Grenzen mit dafür verantwortlich, die entscheidenden Bestimmungsfaktoren so zu entwickeln, dass sich die Menschen tatsächlich gut entwickeln können.
Deshalb werden wir als CDU immer wieder den nach unserer Auffassung wichtigen Schlüsselbegriff der Teilhabegerechtigkeit, der gerechten Teilhabe an den Institutionen unserer Gesellschaft in die Diskussion einführen. Derjenige, dem wir es ermöglichen, an allen Lebensformen in unserer Gesellschaft teilzuhaben, hat auch die größte Möglichkeit, sich zu entwickeln, meine Damen und Herren. Deshalb ist Teilhabegerechtigkeit herzustellen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, der wir uns politisch stellen.
Eine Grundüberzeugung besteht darin, dass diese Teilhabegerechtigkeit in stärkerem Maße als eine bloße Verteilungsgerechtigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das setzt voraus, dass sich jedes Individuum entsprechend den eigenen Möglichkeiten auf Leistung und Solidarität als Grundwerte der Gesellschaft verpflichtet weiß und auch danach handelt.
Natürlich, meine Damen und Herren, kennt jeder von uns aus dem persönlichen Umfeld die erschütternden Beispiele dafür, wie Langzeitarbeitslosigkeit zur Zerstörung einstmals vollwertiger Persönlichkeiten führt, wie Selbstwertgefühl, Leistungswilligkeit und zum Schluss wahrscheinlich sogar auch die Leistungsfähigkeit verloren gehen.