Protokoll der Sitzung vom 20.10.2006

Natürlich, meine Damen und Herren, kennt jeder von uns aus dem persönlichen Umfeld die erschütternden Beispiele dafür, wie Langzeitarbeitslosigkeit zur Zerstörung einstmals vollwertiger Persönlichkeiten führt, wie Selbstwertgefühl, Leistungswilligkeit und zum Schluss wahrscheinlich sogar auch die Leistungsfähigkeit verloren gehen.

Aber in gewissen Grenzen ist nicht das materielle Lebensniveau entscheidend, sondern das Finden der Persönlichkeit. Es ist in meinen Augen viel wichtiger, dass diese Persönlichkeit ihren Platz in der Gesellschaft findet. Derjenige, der sich in der Gesellschaft verhaftet weiß, der sich angenommen weiß, sucht persönliche Hilfe auch nicht bei Extremisten. Darüber haben wir heute noch nicht diskutieren müssen. Aber ich glaube, auch diesbezüglich gibt es Zusammenhänge, die wir nicht übersehen dürfen.

Wir müssen es erreichen, dass die Menschen Hoffnung haben. Ich glaube, ein Schlüsselbegriff, um diese Hoffnung zu vermitteln, besteht darin, dass wir ihnen entsprechend ihrer jeweiligen individuellen Situation den Zugang zu Bildung eröffnen. Ich denke, Bildung ist der Schlüssel, um die Menschen aus ihrer prekären Situation herauszuführen.

Die Teilhabegerechtigkeit hat verschiedene Aspekte. Intakte Familien hat Herr Dr. Haseloff zu Recht als einen Aspekt bereits herausgestellt. Das wird auch ein Schlüsselbegriff für die Zukunft sein. Des Weiteren gehören intakte Nachbarschaften dazu.

Nach meiner Auffassung gehört zur Teilhabegerechtigkeit aber auch, dass die Unternehmer ihrer Aufgabe gerecht werden. Sie haben auch ein eigenes Interesse daran, für Teilhabegerechtigkeit zu sorgen; denn ein funktionierendes Unternehmen, in dem sich die Leute angenommen fühlen, wird eine bessere geschäftliche Tätigkeit haben als ein Unternehmen mit unmotivierten Mitarbeitern.

Zum anderen wird jedes Unternehmen davon profitieren, wenn es gelingt, die Identität mit dem Unternehmen zu stärken, die Unternehmenskultur zu entwickeln und damit auch die Effizienz- und Renditeerwägungen zu optimieren, meine Damen und Herren.

Wenn wir in das Land Sachsen-Anhalt sehen und betrachten, was wir mit den Instrumentarien, die wir beeinflussen können, wirklich erreichen können, dann kommen wir sofort auf das Feld der Bildung zurück. Wir sind deshalb absichtlich mit der Stärkung der vorschulischen

Frühförderung im Kindergarten, mit der Stärkung der Kernkompetenzen in der schulischen Bildung und mit der Herausbildung von Schulprofilen einen Weg gegangen, um der Teilhabegerechtigkeit auf dem Gebiet der Bildung zu einem größeren Durchbruch als bisher zu verhelfen.

Ich muss an dieser Stelle Frau Bull etwas korrigieren. Es ist schon richtig und wichtig, dass es uns gelungen ist, die Anzahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss zu verringern. Ich möchte es nicht entwerten, wenn jemand einen Hauptschulabschluss geschafft hat. Er hat einen richtigen Abschluss geschafft. Ich denke, für die Persönlichkeitsentwicklung desjenigen, der aufgrund seines Intellekts wirklich nur einen Hauptschulabschluss erreichen kann, ist das eine wichtige Hürde.

Wenn wir als Politiker dies klein machen und sagen, er habe eigentlich gar keinen richtigen Abschluss, dann tun wir diesem Menschen, denke ich, wirklich nichts Gutes. Das machen wir nicht.

(Zustimmung bei der CDU und von der Regie- rungsbank - Zuruf von Frau Bull, Linkspartei.PDS)

Wenn wir es geschafft haben und es wahrscheinlich in diesem Jahr auch wieder schaffen, jedem ausbildungswilligen und jedem ausbildungsfähigen Jugendlichen in Sachsen-Anhalt einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, ist dies, denke ich, auch ein wichtiges Gut und ein wichtiger Schritt, die Teilhabegerechtigkeit an Bildung zu realisieren.

Zur Kinderbetreuung. Natürlich ist alles optimierbar und steigerbar. Aber Herr Dr. Haseloff hat zu Recht darauf hingewiesen - Sie werden es alle gelesen haben -, dass dem hochverschuldeten Berlin eine weitere Hilfe, die es gesetzlich erzwingen wollte, nicht gewährt wird. Das heißt, wir alle müssen es verantworten, dass wir die Ressourcen, die wir zur Verfügung haben, optimal verwenden. Dazu gehört, dass wir es in Sachsen-Anhalt geschafft haben, das beste Kinderbetreuungssystem in Deutschland zu etablieren und es trotzdem bezahlbar zu halten. Das gehört zusammen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Wenn Sie von der Linkspartei.PDS diesen Zusammenhang immer wieder bewusst auseinander reißen, ist dies in meinen Augen keine ehrliche Politik. Die Auseinandersetzung werden wir dann mit aller Härte und Deutlichkeit - ich vermute, im Rahmen der weiteren Fortführung der Haushaltsberatungen - führen, meine Damen und Herren.

Aber wenn wir uns die Menschen anschauen, die in schwierigen Lebenslagen sind, so gehört auch immer dazu, dass wir die Verantwortung des Individuums einfordern müssen. Wer das Recht auf Teilhabe einfordert, muss sich zugleich auch dazu verpflichten, die ihm gegebenen Chancen zu achten und entsprechend den eigenen Möglichkeiten zu nutzen. Wir müssen die Menschen auch wirklich fordern.

Deshalb treten wir für eine unmittelbare und transparente Verknüpfung staatlicher Leistungen und individueller Pflichten ein. Dies dürfen wir nicht auseinander reißen lassen, meine Damen und Herren. Nur über den unmittelbaren Bezug zwischen Rechten und Pflichten kann eine dauerhafte, belastbare Teilhabegerechtigkeit gelingen.

Bei aller Diskussion über soziale Ungleichheit sollten wir uns immer dessen bewusst sein, dass Deutschland nach wie vor im globalen Maßstab gesehen ein sehr hohes Wohlstandsniveau hat.

Ich will noch einmal sehr deutlich sagen: Die Ausgrenzung ist das Entscheidende. Wenn sich die Menschen in der Gesellschaft nicht mehr angenommen fühlen und ihren Platz nicht mehr finden können, dann geht etwas schief. Aber wir müssen auch sehen: Wir bewegen uns zum Glück alle auf einem materiellen Lebensniveau, das den meisten Generationen vor uns und das auch den meisten - man kann sagen, nicht allen - Bürgern zu DDR-Zeiten verschlossen gewesen ist.

(Zustimmung bei der CDU)

Das löst unsere Probleme nicht, aber wir müssen einfach sehen, was wirklich erreicht ist, und dürfen uns die Erfolge auch nicht kleinreden lassen, meine Damen und Herren.

Wir sind als Parlamentarier im Land Sachsen-Anhalt aufgerufen, diese gewiss notwendige gesellschaftliche Debatte aufzunehmen, sie zu führen. Aber wir müssen den Menschen auch Hoffnung geben und ihnen vermitteln, dass wir auf dem Weg, den wir in einer demokratischen Gesellschaft im gemeinsamen Ringen um die besten Lösungen eingeschlagen haben, auch Lösungen finden werden, die die Chance eröffnen, dass jeder seinen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen kann. Dafür stehen wir ein. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD und von der Regierungsbank)

Danke sehr, Herr Scharf. - Für die FDP-Fraktion spricht die Abgeordnete - - Es gibt eine Nachfrage. Ich hatte Frau von Angern nicht gesehen. Herr Scharf, Sie antworten darauf?

Ja, gern.

Bitte sehr, Frau von Angern.

Herr Scharf, ein bisschen vom Thema weg. Sie sprachen davon, dass wir - Sie sprachen uns dabei an - Änderungen in der Kinderbetreuung im Land SachsenAnhalt erzwingen wollten. Beziehen Sie das auf die Änderungsanträge, die wir in die Ausschüsse und in das Parlament eingebracht haben? Oder beziehen Sie das auf den Volksentscheid als plebiszitäres Mittel in Sachsen-Anhalt?

Die Mittel, die Sie eben genannt haben, sind alle legitim und erlaubt. Ich weiß nicht, was Sie demnächst beantragen werden. Ich habe nur eine kurze Information dazu gelesen, was Sie wahrscheinlich demnächst im Rahmen der Haushaltsberatungen beantragen werden. Daraufhin habe ich einmal die Gegenfinanzierung überflogen. Dazu muss ich sagen:

(Herr Gürth, CDU: Fehlanzeige!)

Sie müssen sich noch etwas anstrengen, um seriös zu sein. Wenn das auf uns zukommt, dann wird es nichts.

(Lebhafter Beifall bei der CDU)

Danke. - Ich wollte nicht wissen, wie Sie unsere Änderungsanträge oder mögliche Gesetzentwürfe bewerten. Mir ging es darum, dass Sie das Wort „zwingen“ oder „Zwang“ verwendet haben. Deshalb wollte ich einfach einmal nach Ihrem demokratischen Verständnis fragen.

(Unruhe bei der CDU)

Ich fühle mich von Ihnen nicht unter Zwang gesetzt. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Wenn Sie Ihre demokratischen Rechte durch Anträge, meinetwegen auch durch Volksinitiativen, Volksbegehren oder was immer wir in der Verfassung als Palette vorhalten, wahrnehmen wollen, dann sage ich: Das sind die Rechte, die Sie haben, die jeder Bürger hat, auch die Linkspartei.PDS. Da werden wir nie herummaulen. Wir werden nur argumentativ dagegenhalten. Ich denke, das wird die Gesellschaft auch verstehen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Frau Bud- de, SPD, und von Herrn Bischoff, SPD)

Danke, Herr Abgeordneter Scharf. - Für die FDP-Fraktion wird die Abgeordnete Frau Dr. Hüskens sprechen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Folgt man dem französischen Soziologen Balandier, so gibt es keine Gesellschaft ohne Macht und keine Macht ohne Hierarchie. Oder einfacher formuliert: Solange es menschliche Gesellschaften gibt, gibt es auch Hierarchien und Abstufungen. Gesellschaften ohne jede Differenzierung gibt es bisher nicht. Auch die großen sozialistischen Feldversuche zu diesem Thema

(Heiterkeit und Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

haben keine Gesellschaft geschaffen, die ohne Binnendifferenzierung ausgekommen wäre. Ich persönlich gehe davon aus, dass das ein starkes Indiz dafür ist, dass egalitäre menschliche Gesellschaften nicht funktionieren.

Als Liberale habe ich mit derartigen Binnendifferenzierungen kein Problem, solange diese auf der Leistung der Bürger und nicht auf Geburt oder anderen nicht leistungsorientierten Parametern beruhen.

(Frau Bull, Linkspartei.PDS: Solange sie in be- stimmten Grenzen bleiben!)

Es beunruhigt mich nicht, wenn Menschen eher handwerkliche Fähigkeiten haben oder keine Neigungen zum wissenschaftlichen Studium. Es beunruhigt mich nicht, wenn Menschen materiellen Anreizen wenig abgewinnen können und ihr Leben nicht nach herkömmlichen wirtschaftlich motivierten Mustern führen wollen.

Es wird immer Menschen geben, die innerhalb einer Gesellschaft nach Anerkennung streben - davon sitzen hier einige -, die entscheiden wollen. Es wird immer Menschen geben, denen es weniger wichtig ist und die sich

nicht wohlfühlen, wenn sie Entscheidungen für sich oder gar für andere treffen sollen. Es wird immer Menschen geben, die mehr Hilfe brauchen, und Menschen, die mehr Hilfe geben können.

Dies alles kann ich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft als normal akzeptieren und die unterschiedlichen Lebensentwürfe respektieren. Ich halte es für richtig, dass im Grundsatz die eigenen persönlichen Entscheidungen und die persönlichen Leistungen über den Lebensweg eines Menschen entscheiden sollen.

Wir müssen uns aber - völlig unabhängig von tagespolitisch motivierten Diskussionen oder mehr oder weniger wissenschaftlichen Studien - immer fragen, ob diese Grundbedingungen noch gewährleistet sind. Hat jedes Mitglied unserer Gesellschaft annähernd gleiche Chancen, seine Potenziale umzusetzen? Denn es geht um Chancengleichheit. Welche Bedeutung haben die wirtschaftliche Situation und der Bildungsgrad der Eltern heute für die Zukunft eines Kindes?

Wir alle wissen, dass Intelligenz und andere Fähigkeiten allein nicht ausreichen, um das eigene Leben eigenverantwortlich führen zu können. Mindestens ebenso wichtig ist die Einstellung zu Leistung, die Bereitschaft, sich anzustrengen und die eigenen Fähigkeiten auszuschöpfen. Daran soll es inzwischen einem Teil unserer Gesellschaft mangeln.

Diese Eigenschaften zu vermitteln ist aber außerhalb des Elternhauses deutlich schwieriger, als Bildungsinhalte zu vermitteln. Die Einstellung, dass Leistung nicht lohnt und nicht erforderlich ist, um das eigene Leben zu bestreiten, breitet sich aus - so eine landläufige Auffassung.

Warum ist das so? - Viele Menschen, gerade in unserem Land, haben die Erfahrung machen müssen, dass ihre Arbeit, ihre Fähigkeiten nicht mehr gefragt sind. Andere haben sich in ihrer sozialen Nische eingerichtet, die ihnen die Gesellschaft finanziert. Wir haben zunehmend Bürger, die nicht in der Lage sind, ihr alltägliches Leben zu regeln, und die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, Menschen, die in einem solchen Maße vom Staat Fürsorge erwarten, dass sie ihre Probleme nicht bewältigen, obwohl sie die Fähigkeiten dazu hätten.

Wir müssen uns fragen: Kann ein Staat Menschen wirklich aus dieser Frustration holen? Können wir Menschen motivieren, sich eigenverantwortlich für ihren Lebensunterhalt einzusetzen?

Dafür, Frau Bull, ist, glaube ich, die Erhöhung von Regelsätzen keine Lösung. Die Menschen wollen keine Almosen vom Staat, die Menschen wollen Zukunft. Vor allem: Können wir verhindern, dass diese Lebenseinstellung, egal ob Frustration oder Bequemlichkeit, auch der Kindergeneration die Zukunft verbaut? Dann habe ich nämlich keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr.