Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Zunächst erhält die Antragstellerin, die Fraktion DIE LINKE das Wort. Es spricht der Fraktionsvorsitzende Herr Gallert.

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich ausdrücklich für die ungewöhnliche Einführung zu diesem Tagesordnungspunkt, Herr Präsident. Aber ich glaube, es ist richtig, auch das am Anfang zu sagen.

Dass wir für heute eine Aktuelle Debatte zu einem Thema beantragt haben, das bereits bei der letzten Landtagssitzung auf der Tagesordnung stand, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Umstand. Allerdings - das sage ich mit aller Deutlichkeit - zwingen uns die Vorgänge in der Ortschaft Insel und die gesellschaftliche Debatte dazu, uns erneut zu positionieren.

Der Auslöser für diesen Antrag ist die Ortschaftsratssitzung in Insel am letzten Donnerstag, insbesondere das Verhalten des Ortsbürgermeisters, allerdings auch das Agieren der Vertreter der Landesregierung und das Nichtagieren des Oberbürgermeisters.

Dabei geht es eben nicht einfach nur um die Dinge, die schon vor vier Wochen eine Rolle gespielt haben. Ich zitiere dazu Herrn Greye von der „Mitteldeutschen Zeitung“:

„Nein, in Insel geht es schon längst nicht mehr nur um die beiden Straftäter. Es geht um die Werte in unserer Gesellschaft, um Rechtsstaatlichkeit, um Würde, um Toleranz und um Humanismus. Wenn Demagogen die Straße beherrschen, dann gute Nacht.“

Ja, wir stimmen dieser Aussage ausdrücklich zu. Inzwischen geht es tatsächlich um die Verfassung unserer Gesellschaft und im wortwörtlichen Sinne auch um die Verfassung unseres Landes. Es geht um Artikel 4 unserer Verfassung und um Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Dort heißt es jeweils:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Ich glaube nach wie vor, dass wir in der letzten Landtagssitzung eine sehr gute gemeinsame Position bezogen haben, die dieser Norm unserer Verfassung gerecht wird. Eines möchte ich hier noch einmal ganz klar sagen, weil es inzwischen leider wieder gesagt werden muss und weil es keine Selbstverständlichkeit ist: Die Würde eines jeden Menschen heißt auch die Würde zweier ehemaliger Straftäter, die mehr als 25 Jahre nach ihren Straftaten - übrigens auf Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - wieder in Freiheit gekommen sind.

In der Präambel unserer Landesverfassung steht als erstes das Ziel, die Freiheit und die Würde des Menschen zu sichern. Wir müssen heute leider feststellen, dass diese selbstverständlichen Grundlagen unseres Gemeinschaftsverständnisses infrage gestellt werden.

Jeder von uns weiß, dass das Thema Umgang mit ehemaligen Sexualstraftätern objektiv schwierig ist und dass es sich darüber hinaus hervorragend dazu eignet, Feindbilder aufzubauen. Nicht umsonst bedient sich die extreme Rechte gern dieses Themas.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir jetzt damit anfangen würden, die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten zu relativieren, zum Beispiel in Bezug auf ehemalige Straftäter, dann würden wir einen Prozess auslösen, der irgendwann nicht mehr zu stoppen wäre. Das ist übrigens auch ein Prozess, der einmal in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte geführt hat.

Deshalb muss am Anfang einer jeden Debatte zum Umgang mit ehemaligen Straftätern, auch mit denen, die jetzt in Insel leben, folgender Satz stehen: Diese Menschen sind nach rechtsstaatlichen Prinzipien freie Bürger dieses Landes und niemand ist befugt, ihnen die Freiheit streitig zu machen. Niemand ist legitimiert, ihnen zu sagen, wo sie leben dürfen und wo nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall im ganzen Hause)

Das mag in einzelnen konkreten Fällen durchaus mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, weil die Angst der anderen genauso real ist. Nur haben gerade diesen beiden Personen seit ihrer Freilassung überhaupt keinen Anlass zur Besorgnis gegeben. Gerade deshalb ist die dortige Kampagne zur Vertreibung der beiden zutiefst inhuman und verlogen.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Kommen wir nun aber zu der Frage, wie die staatliche Gewalt ihrer Verpflichtung nachkommt, die

Würde eines jeden Menschen zu achten und zu schützen. Da die kommunale Ebene Teil unseres Staatsaufbaus ist, müssen wir uns diese zuerst anschauen. Dabei geht es natürlich um den dortigen Ortsbürgermeister Herrn von Bismarck.

Wenn man noch irgendwelche Illusionen über die Ziele dieses Mannes gehabt haben mag, dann wurde spätestens am letzten Donnerstag klar, dass er das Zentrum und der Organisator der Vertreibungskampagne ist. Er ist derjenige, der es sich zum Ziel gesetzt hat, im Interesse dieser Vertreibung Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu beugen, den Rechtsstaat vorzuführen, ja, ihn zu erpressen:

Wenn ihr als Landesregierung nicht bereit seid, gegen eure eigene Landesverfassung zu verstoßen, dann werden wir eben weiter demonstrieren. Wenn ihr als Landesregierung nicht bereit seid, gegen die Landesverfassung zu verstoßen, dann begrüßen wir die Rechtsextremen eben wieder als Gäste. Wenn ihr nicht bereit seid, gegen die Landesverfassung zu verstoßen, dann können wir irgendwann nicht mehr garantieren, dass nicht doch einmal irgendjemand die Dinge selbst in die Hand nimmt.

Das sind die Botschaften des dortigen Ortsbürgermeisters; nicht erst seit dem letzten Donnerstag, sondern seit Monaten.

Wie agieren die Vertreter der Landesregierung vor Ort? - Sie lassen sich von diesem Herrn von Bismarck in eine Statistenrolle drängen, in einem Umfeld, das er selbst organisiert hat, ohne selbst agieren zu können, so wie man leider schon von Anfang an nicht agiert hat.

Man lässt zu, dass diejenigen, die versuchen, die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten, auf übelste Weise beschimpft werden, auch oder gerade von eben diesem Ortsbürgermeister. Man ist in dieser Situation nicht einmal mehr in der Lage, sie zu verteidigen. Ich habe die größte Hochachtung vor dem Bewährungshelfer, der dort an den Pranger gestellt worden ist. Er ist nicht verteidigt worden; das muss man auch ganz klar sagen.

Auch an diesem Tag wird wieder deutlich, welch ein inhaltlicher Fehler das Agieren der Landesregierung war, über das schon beim letzten Mal debattiert wurde, nämlich das Signal auszusenden: Jawohl, eure Vertreibungsstrategie setzt sich durch.

Zwar wird dann der Staatssekretär im Justizministerium noch einmal sagen dürfen, dass es sich eigentlich um freie Männer handelt, aber den Rest des Abends betont er genauso wie der Vertreter des Innenministeriums, dass man sich um eine schnelle Lösung bemühe, also die Forderung des Ortsbürgermeisters, die beiden fortzuschaffen, zu

erfüllen. Dieses zentrale Problem, das in der Aktion des Innenministers schon beim letzten Mal bewertet wurde, entfaltet jetzt seine volle Wirkung.

Ja, die Atmosphäre war aufgeheizt, extrem aufgeheizt. Und ich habe wirklich menschliches Verständnis dafür, dass sich auch Vertreter der Landesregierung davon haben beeindrucken lassen. Aber genau deshalb hätte man sich nicht in die Hände dieses Ortsbürgermeisters und in diese Situation begeben dürfen. Denn es war leider abzusehen. Ich sage es noch einmal: Vertreter meiner Fraktion haben den Vertretern der Landesregierung vorher gesagt, dass es genau so ablaufen würde. Aber leider gab es keine Reaktion.

Ja - auch darauf werde ich heute zu sprechen kommen -, dieser Ortsbürgermeister, der es sich offensichtlich zum Ziel gesetzt hat, den Rechtsstaat zu beugen, die Würde und die Freiheit Einzelner zu relativieren, der sich also zum Ziel gesetzt hat, gegen die Verfassung des Landes zu agieren, ist Mitglied der CDU.

Wir sind keineswegs so arrogant zu behaupten, uns könnte so etwas nie passieren. - Nein, das stimmt nicht. Die Frage ist aber tatsächlich, wie eine Partei mit einem solchen Funktions- und Amtsträger umgeht. Dazu erreichten uns nun in den letzten Tagen durchaus ermutigende Signale.

Aber ich sage ganz deutlich: So wie man die Glaubwürdigkeit meiner Partei mit jedem einzelnen Mitglied verbindet, genauso wird es in diesem Fall mit der CDU geschehen. Der Umgang mit diesen Funktionsträgern wird die Glaubwürdigkeit der CDU als Landespartei insgesamt beeinflussen.

(Zuruf von der CDU: Er ist kein Funktions- träger! - Weitere Zurufe von der CDU)

Aber kommen wir zu weiteren Vertretern der staatlichen Gewalt. Zu dem Oberbürgermeister der Stadt Stendal. Wie hat er bisher agiert? - Darauf ist die Antwort ganz klar: In den wesentlichen Forderungen hat er Herrn von Bismarck zugestimmt. Er hat sich mit der Forderung nach Vertreibung identifiziert. Er hat an der einen oder anderen Stelle möglicherweise nicht alle Elemente, nicht alle Details, nicht alle Instrumente akzeptiert, aber er hat zu keinem Zeitpunkt den Mut gehabt aufzustehen und zu sagen: Nein, die Forderung nach der Vertreibung der beiden ist falsch. Das hat er nicht getan.

(Unruhe bei der CDU)

Aber man kann es vor Ort tun. Vertreter der SPD, der LINKEN und der GRÜNEN im Stadtrat von Stendal sowie einige Vertreter der CDU im Hauptausschuss haben es getan. Der Oberbürgermeister hat es nicht getan. Er hat an keiner Stelle gesagt: Nein, Herr Bismarck, das ist falsch; die Vertreibung zu fordern, ist falsch. Das war nirgends eine Aktion dieses Oberbürgermeisters.

Leider - das ist das Problem - haben sowohl der Landrat als auch der Ministerpräsident dieses Landes keinen Ton dazu gesagt. Es handelt sich hierbei um einen Angriff auf die Landesverfassung, auf die Grundlagen unserer Demokratie, und Sie, Herr Haseloff, haben bis heute dazu geschwiegen. Warum? Warum haben Sie bis heute dazu geschwiegen?

(Zuruf von der CDU: Das ist nicht seine Auf- gabe!)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Verteidigung der Verfassung ist die elementare Aufgabe des Ministerpräsidenten dieses Landes.

(Starker Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zuruf von Herrn Leimbach, CDU)

- Wenn die Verfassung angegriffen wird, dann muss er sie verteidigen und darf nicht schweigen, Herr Leimbach.

(Herr Leimbach, CDU: Sie übertreiben maß- los! - Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

Ich sage aber ausdrücklich auch: Es ist nicht nur ein Problem der Politik; es ist auch ein Problem der Gesellschaft. Wir haben beim letzten Mal darüber diskutiert, welche Rolle die Kirche, Superintendent Kleemann, in diesem Zusammenhang gespielt hat. Das ist hier bewertet worden. Ich kann bis heute keine öffentliche kritische Reflexion dazu erkennen, auch dort nicht.

Aber es geht auch um andere, etwa um die Medien, die diese Dinge dargestellt haben. Am Anfang haben vor dem Hintergrund der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit alle Medien versagt. Inzwischen ist es unterschiedlich. Man braucht nur die Berichterstattungen der „Mitteldeutschen Zeitung“ und der „Volksstimme“ an diesem Donnerstag miteinander zu vergleichen. Es scheint so zu sein, dass selbst Vertreter von Medien, je näher sie dran sind, umso weniger bereit sind, Zivilcourage zu zeigen. Es scheint so zu sein, dass selbst sie der Mut verlässt.

Es ist dann besonders glaubwürdig, wenn wir demnächst in den gleichen Medien, die hierzu nicht Position beziehen, wieder lesen oder hören, wie man sich voller Energie über Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern oder in der Vergangenheit aufregt. Das ist dann auch nicht glaubwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Medien. Das möchte ich ganz klar sagen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Ich komme zum Ende. Ja, wir haben vor vier Wochen eine hervorragende Position beschlossen. Das Problem ist nur, dass sie kaum gesellschaftliche Wirkung entfaltet hat. Lassen Sie uns bitte gemeinsam damit beginnen, die demokratischen Prinzipien, die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, von Würde und Toleranz, jetzt gemeinsam und ge

schlossen so zu vertreten, wie wir sie damals aufgeschrieben haben.

Wenn wir es so weiterlaufen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann werden wir bald sehr viele Inseln haben und dann werden wir die Legitimation unserer demokratischen Institutionen, des Landtages und auch der Landesregierung, infrage stellen. Dazu darf es nicht kommen. Deswegen lassen Sie uns endlich gemeinsam agieren im Sinne dessen, was wir beim letzten Mal beschlossen haben. Es ist fünf vor zwölf. Wenn wir dies nicht tun, organisieren wir uns die Erosion von Demokratie und Rechtsstaat in unserem Land selbst, und das darf nicht passieren. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Als Nächster in der Debatte spricht der Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben gerade den Jahrestag des Mauerfalls begangen. Es war in diesem Jahr kein rundes Jubiläum und andere Themen haben das Gedenken an den 9. November überlagert. Dennoch sei aus gegebenem Anlass noch einmal daran erinnert, warum die Menschen in der DDR im Herbst 1989 auf die Straßen gingen.

Sie hatten genug von staatlicher Willkür und von Bevormundung. Sie forderten Menschenrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Sie verlangten nach einer unabhängigen Justiz, die sich nicht als Erfüllungsgehilfe einer undemokratischen Regierung versteht. Sie wollten ein Land, in dem niemand stigmatisiert wird, in dem jeder die gleichen Chancen hat.