Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Sie hatten genug von staatlicher Willkür und von Bevormundung. Sie forderten Menschenrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Sie verlangten nach einer unabhängigen Justiz, die sich nicht als Erfüllungsgehilfe einer undemokratischen Regierung versteht. Sie wollten ein Land, in dem niemand stigmatisiert wird, in dem jeder die gleichen Chancen hat.

In einer Demokratie zu leben kann schwierig sein. Sie verlangt dem Einzelnen viel ab, zum Beispiel Toleranz und Geduld. In einer Demokratie geht es zuweilen beschwerlich zu. Es gibt keine einfachen Lösungen, die von oben per Dekret verkündet werden. Es gilt unterschiedliche Interessen genau abzuwägen. Es gilt das Recht jedes Einzelnen zu wahren.

Manch einen mag das überfordern, manch einer mag noch immer nicht in der Demokratie angekommen sein, und manch einer, der diese Demokratie repräsentiert, versagt in Bewährungssituationen und mutiert vom Demokraten zum Populisten.

Ein grundlegender Pfeiler der Demokratie ist die Rechtsstaatlichkeit. Vergehen gegen Recht und Gesetz werden nach für alle gleichen Kriterien von unabhängigen Gerichten geahndet. Wer seine Strafe verbüßt hat, besitzt die Chance auf einen

Neuanfang. Zu einem demokratischen Gemeinwesen gehört es, Menschen diese Chance auch einzuräumen.

(Zustimmung bei allen Fraktionen und von der Regierungsbank)

Ein grundlegender Pfeiler der Demokratie ist die Versammlungsfreiheit. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht, sich zu versammeln und ihre bzw. seine Meinung öffentlich kundzutun, solange dies in einer Weise geschieht, die unserem Verständnis von Demokratie entspricht und dem Versammlungsgesetz nicht zuwiderläuft. Eine Demokratie lebt davon, dass wir dies auch dann akzeptieren, wenn sich Menschen versammeln, deren Meinung wir nicht teilen können. Aber Versammlungsfreiheit heißt auch, von dieser Freiheit wie von allen Freiheiten einen verantwortungsvollen Gebrauch zu machen.

Ein grundlegender Pfeiler unserer Demokratie sind freie Wahlen. Das schließt ein, dass wir mit gewählten Volksvertretern leben müssen, auch wenn sie unsere Erwartungen enttäuschen. Seien es Bürgermeister oder Landtagsabgeordnete, niemand kann von einer höheren Instanz aus seinem Amt gedrängt werden, solange er nicht straffällig geworden ist oder solange die dafür sonst maßgeblichen Verfahren nicht durchgeführt worden sind. Wohl aber können mündige Bürger bei der nächsten Wahl anders entscheiden. Davon lebt Demokratie.

Zuweilen gibt es Entwicklungen in unserer Demokratie, die uns vor Bewährungsproben stellen. Dann können wir beweisen, wie ernst wir es mir ihr nehmen. Dann zeigt sich, ob wir Rechte nur für uns reklamieren oder sie auch anderen zugestehen. Wer in politischer Verantwortung steht, muss Ängste und Befürchtungen der Menschen ernst nehmen. Er sollte sie jedoch nicht schüren, sondern sollte aufklärend und deeskalierend wirken. Das Recht des vermeintlich Stärkeren ist ein untaugliches Mittel in einem Rechtsstaat.

(Zustimmung bei allen Fraktionen und von der Regierungsbank)

Manchmal erleben wir, dass Menschen in einer für sie schwierigen Situation ein Machtwort der Politik erwarten. Kein Politiker kann Recht und Gesetz außer Kraft setzen und Urteile nach seinem Gutdünken sprechen und kein mündiger Bürger kann sich solche Zustände wünschen.

Die Demokratie beweist sich dort, wo Bürgerinnen und Bürger vor Ort im Dialog miteinander und nicht in offener Konfrontation Lösungen für Probleme finden. Wir können sie dabei unterstützen. Das haben Mitglieder der Landesregierung in dem Fall, über den wir hier diskutieren, in den letzten Wochen mehrfach und intensiv getan und tun es noch.

Dass dies vorwiegend hinter den Kulissen geschieht und nicht nur in aller Öffentlichkeit, sollte im Sinne der Sache selbstverständlich sein. Jede Instrumentalisierung der schwierigen Lage schadet unserem gemeinsamen Anliegen.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich möchte daher in aller Deutlichkeit betonen: Man hilft den Betroffenen gewiss nicht, indem man Konflikte nutzt, um sein eigenes Süppchen darauf zu kochen.

(Beifall bei der CDU)

So beschädigt man die Demokratie. Aus eben diesem Grund sollten wir uns an die Entschließung „Staatliches Handeln und ziviles Engagement sind erforderlich“ erinnern, die alle Fraktionen im Oktober 2011 in seltener Einmütigkeit abgegeben haben. Ihr ist nichts hinzuzufügen. Hinter sie sollten wir nicht zurückfallen. Sie ist die Maxime des Handelns auch dieser Landesregierung. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. - Wir fahren mit der Debatte fort. Als Nächster spricht der Vorsitzende der Fraktion der CDU Herr Schröder.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Oktobersitzung des Landtages - es ist gesagt worden - wurde in einem bisher wohl einmaligen Vorgang eine gemeinsame Entschließung aller Fraktionen in den Landtag eingebracht und verabschiedet. Alle Seiten haben vor dem Hintergrund der zweifellos zugespitzten Situation in Insel daran gearbeitet und einen Konsens im Landtag von Sachsen-Anhalt herbeigeführt.

In dem Entschließungstext ist der Appell verankert, die Chancen auf Resozialisierung nutzen zu können. In dem Entschließungstext werden die Ängste und Sorgen aufgegriffen, denen man mit angemessener Kommunikation und Versachlichung entgegentreten muss. In dem Entschließungstext ist die Anerkennung des Anspruchs aller Bürgerinnen und Bürger, vor Gefahren geschützt zu werden, enthalten, und das Recht auf einen Neuanfang für die ehemaligen Straftäter wird betont. In dem Entschließungstext wird das Ringen um Lösungen dort begrüßt, wo dieses Recht auf einen Neuanfang eben nicht mehr realisierbar erscheint.

In dem Entschließungstext ist die Distanzierung zu den rechtsextremen Umtrieben fest verankert und deutlich markiert. Und in dem Entschließungstext ist das Streben nach einem akzeptierten Gesamtkonzept für die ehemals Sicherungsverwahrten mit möglichst bundesweitem Standard einschließlich Beratungsangeboten vor Ort als politisches Ziel

formuliert. Diese Entschließung zeigt, dass sich alle Fraktionen des Landtages der Bedeutung dieses Themas bewusst waren und - ich betone das - bewusst sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aufklärung und Information sind die einzigen Mittel zum Abbau von Ängsten und Vorurteilen. Nur durch diesen gemeinsamen Dialog vor Ort lässt sich die von der Landesregierung geforderte sachliche Auseinandersetzung tatsächlich führen. Denn neben der Gewährleistung des grundsätzlich geschützten Freiheitsanspruchs der Betroffenen stehen wir auch den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber in der Verantwortung, deren Sicherheit und deren Freiheit zu gewährleisten.

Das von den beiden Betroffenen in Sachsen-Anhalt gesuchte Leben ohne Vergangenheit, ein Leben auf dem Land, mit Arbeitsstätte, in Ruhe, mit sozialen Kontakten - ein solches Leben wird es in Insel wohl nicht mehr geben können. Die Betroffenen selbst bezeichnen mittlerweile den Wegzug als alternativlos. Ich gehe davon aus, dass die konkrete Hilfestellung wie angekündigt umgesetzt wird, und ich bin zuversichtlich, dass für die beiden eine angemessene Unterkunft und ein wirklicher Neuanfang, wie wir ihn uns auch alle wünschen, gefunden werden können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir auf keinen Fall tun dürfen, ist, Ängste und Verunsicherung in der Bevölkerung zu schüren und die Probleme und Sorgen der Menschen vor Ort für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren, ja, ich sage, zu missbrauchen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und von der Regierungsbank)

Indiskutabel sind die selbsternannten rechten Bürgerwehren, die Menschenjagd als Profilierungsfeld für ihre eigene Gesinnung sehen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD, bei der LINKEN und von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)

Da ist ein Ortsbürgermeister, dem ich zugestehen will, anfänglich auf die Sorgen seiner Bürger reagiert zu haben, dem aber die Dynamik der Entwicklung aus den Händen gleitet, wobei auch er selbst billigend die Missachtung der Grundrechte in Kauf nimmt.

(Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

Damit wird nicht nur die Problemlösung erschwert, sondern es wird auch die gemeinsame Wertebasis - das sage ich als Christdemokrat - infrage gestellt. Ich persönlich und wir - ich sage das für die Fraktion - distanzieren uns mit aller Deutlichkeit von allen Aktionen - ich betone: allen Aktionen - vor Ort, bei denen rechtsstaatliche Grundsätze missachtet werden.

(Zustimmung bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen aber Wert auf die Feststellung: Jede Instrumentalisierung der schwierigen Lage schadet dem gemeinsamen Anliegen der Entschließung. Politische Eskalation, das fortgesetzte Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, all das hilft uns nicht.

Ich frage mich: Was hat die in vielerlei Hinsicht denkwürdige Ortschaftsratsversammlung Anfang November 2011 an der Einmütigkeit unserer Landtagsentschließung, die immer wieder neu mit Leben zu erfüllen ist, an diesem Konsens im Landtag geändert? Der Text der Erklärung „Staatliches Handeln und ziviles Engagement sind erforderlich“ bleibt für meine Fraktion nicht nur gültig, ihm ist aus meiner Sicht auch nichts hinzuzufügen.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie, Herr Kollege Gallert, heute zumindest in Teilen bewusst überzogen haben. Der Verfassungsschützer nimmt die Landesregierung ins Visier. Ich möchte im Gegensatz dazu heute die Gelegenheit nutzen, mich auch im Namen meiner Fraktion in aller Form bei all denjenigen zu bedanken - ich meine, bei allen -, die mit einer professionellen Moderation vor Ort zu einer sachlichen Auseinandersetzung beigetragen haben und beitragen werden.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Dr. Späthe, SPD)

Auch ich möchte zum Abschluss die Gelegenheit nutzen, an das Hohe Haus, an alle und insbesondere an die Antragsteller der Aktuellen Debatte zu appellieren, nicht hinter die Entschließung, hinter ihren Text zurückzufallen, sondern sie als Maxime unseres gemeinsamen Handelns weiter zu bewahren. - Danke sehr.

(Zustimmung bei der CDU, von Frau Nie- städt, SPD, und von Herrn Erben, SPD)

Danke schön, Herr Kollege Schröder. Es gibt eine Anfrage. Der Abgeordnete Herr Herbst hat eine Frage an Herrn Schröder. Wären Sie bereit, diese zu beantworten, Herr Kollege?

Herr Kollege Schröder, Sie haben zum Ende Ihrer Ausführungen Bezug genommen auf die professionelle Moderation in Insel. Ich würde Sie gern fragen, welche professionelle Moderation Sie damit gemeint haben.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Sehr geehrter Herr Kollege Herbst, ich betrachte das als eine rhetorische Frage.

(Zustimmung bei der CDU - Zuruf von Frau von Angern, DIE LINKE - Herr Herbst, GRÜ- NE: Soll ich sie präzisieren?)

Es sind die Akteure der Kirche, auch die Akteure der Landesregierung und ihre Vertreter - ich meine auch den Sozialen Dienst - genannt worden. Es sind auch in der Rede von Herrn Gallert Personen genannt worden, die ich einschließe.

Ihre Frage deutet eher darauf hin - das nimmt im Übrigen der Entschließungstext auf -, wann die Kommunikation begonnen hat. Dazu räume ich ein, dass die Situation in Insel sich unter anderem auch dadurch zugespitzt haben mag, dass diese Kommunikation vor Ort anfänglich nicht in der Intensität stattgefunden hat, wie man sich das hätte wünschen können. Mittlerweile hat sich das deutlich geändert, und das kann ich nur begrüßen.

(Beifall bei der CDU)

Wir fahren in der Debatte fort. Als Nächste spricht für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Fraktionsvorsitzende Dalbert.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute hier im Hohen Haus erneut über Insel. Wir haben dies auch im Rahmen der letzten Landtagssitzung getan. Meine Emotionen haben sich seitdem gewandelt.