Protokoll der Sitzung vom 12.07.2013

Liebe Kolleginnen und Kollegen, richtig bedenklich wird es aus meiner Sicht in Ihrer Begründung, wenn Sie auf die Zahl der anhängigen Klagen abheben. Sie beziehen sich hierbei ausdrücklich auf die Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag in der Drs. 17/9335. Dann berichten Sie von mehr als 300 000 Klagen, die in den Jahren 2010 und 2011 in Bezug auf das SGB II bei den Sozialgerichten eingegangen sind. 300 000 ist eine gigantische Zahl.

Aber, Kollegin Dirlich, Sie verschweigen dabei geflissentlich, dass von diesen 300 000 Klagen nur ca. 4 bis 5 % auf Sanktionen zurückzuführen sind. Wenn ich es richtig gelesen habe, geht es in Ihrem Antrag aber um Sanktionen und um nichts anderes. Nun könnte man sagen: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

(Herr Scheurell, CDU: Ja!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch eines grundsätzlich festhalten: Die Sanktionierung einer erwerbsfähigen und nach SGB II leistungsberechtigten Person erfordert die gesetzlich genau definierte Pflichtverletzung seitens des Leistungsberechtigten. Eine solche Pflichtverletzung kann beispielsweise die Ablehnung einer zumutbaren Arbeit, die Nichterfüllung einer in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Verpflichtung oder die unterlassene Wahrnehmung eines Meldetermins im Jobcenter sein. Das hatten Sie erwähnt, Kollegin Dirlich.

Wenn eine solche Pflichtverletzung vorliegt, so hat das Jobcenter nach erfolgter ordnungsgemäßer Rechtsfolgenbelehrung über die Verhängung einer Sanktion zu entscheiden, deren finanzielles Ausmaß von Art und Häufigkeit der Pflichtverletzung abhängt. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dabei handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern um eine gebundene Entscheidung des Grundsicherungsträgers.

(Zuruf von der CDU)

Grundlage dieser Entscheidung ist immer auch die Prüfung, ob ein wichtiger Grund vorliegt, der die Pflichtverletzung rechtfertigt und somit den Eintritt einer Sanktion ausschließt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein diese Tatsache belegt, dass mit dem aus meiner Sicht leider noch notwendigen Instrument der Sanktion in den meisten Fällen verantwortungsvoll umgegangen wird.

(Zustimmung von Herrn Schröder, CDU)

Wir sollten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern ihre ohnehin schon schwierige und emotional belastende Arbeit nicht noch dadurch erschweren, dass versucht wird, sie wirksamer Instrumente zu berauben und ihnen zu unterstellen, sie würden Fehlverhalten mit Mangelernährung und dergleichen bestrafen. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Rotter. - Für die Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN spricht jetzt die Abgeordnete Frau Lüddemann. Bitte schön, Frau Lüddemann.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Das Existenzminimum ist unantastbar, Sanktionen sind unwürdig und dem Sozialstaatsgebot völlig unangemessen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir schließen uns dem Antrag der LINKEN vollumfänglich an. In mehreren Anträgen - zuletzt, glaube ich, im Frühjahr dieses Jahres - hat unsere grüne Bundestagsfraktion immer wieder versucht, das sicherlich - das muss man zugeben - im Zuge der Hartz-IV-Reform entstandene Unrecht in Deutschland zu revidieren. Wir haben ganz klar gesagt, dass der Grundbedarf und die Kosten für Unterkunft und Heizung von Sanktionen auszunehmen sind. Das heißt im Klartext: Das Existenzminimum ist nicht pfändbar.

Herr Kollege Rotter, ich habe mir den Antrag der Fraktion DIE LINKE jetzt noch einmal genau angeschaut, weil Sie sich auf den letzten Satz darin bezogen haben. Ich finde, das ist überhaupt keine Frage der Quantität. Genau darum geht es doch. Selbst wenn es nur ein Mensch wäre, der bis auf null sanktioniert wird - es ist eine Frage der Menschlichkeit, es ist eine Frage der Gerechtigkeit, es ist eine Frage des Menschenbildes. Das geht einfach nicht.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das geht erst recht nicht in einem so reichen Land wie Deutschland. Ich finde, das ist überhaupt keine Diskussion, bei der man sich auf Quantitäten einlassen kann.

Im Übrigen hat die Kleine Anfrage, die ich im Jahr 2011 gestellt habe, ergeben: In Sachsen-Anhalt gab es allein im Jahr 2011 380 Fälle, in denen die ALG-II-Leistungen vollständig eingestellt wurden. Das ist eine immens hohe Zahl für unser kleines Land - da Sie so sehr großen Wert auf Quantität legen. Der Nebeneffekt ist, finde ich, nicht zu unterschätzen.

Die Möglichkeit von Sanktionen schwebt als Drohung - Kollegin Dirlich hat mit Beispielen ausgeführt, wie sie tatsächlich realisiert werden - immer über den Betroffenen. Das ist demütigend, das ist entmündigend und das ist, finde ich, unserer Gesellschaft völlig unwürdig.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Sie sagten, dass es für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Jobcentern gut sei und eine Unterstützung sei, dass sie ein Sanktionsmittel haben. Ich sage Ihnen: Ich glaube nicht, dass es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut ist, sich in die Rolle einer Sozialpolizei begeben zu müssen; denn dann werden sie dem, wofür sie eigentlich da sind, überhaupt nicht mehr gerecht. Eigentlich sollen sie mit den Betroffenen arbeiten und Perspektiven erschließen, Weiterbildungsmaßnahmen anbieten und die Eingliederungsvereinbarung wirklich individuell gestalten. Es ist traurig genug, dass es so weit gekommen ist, dass man hier noch einmal klarstellen muss, dass die Eingliederungsvereinbarungen eher als Druckmittel funktionieren und als Erpressung empfunden werden.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Bis auf Bayern sind alle Länder beim Asylbewerberleistungsgesetz dazu übergegangen, Geldleistungen und nicht Sachgutscheine auszureichen, weil in verschiedensten Studien umfänglich dargelegt wurde, welche psychologische Wirkung das hat. Gestern haben wir umfänglich über Kinder, Kinderrechte und Ermächtigungen von Kindern gesprochen. Was denken Sie, wie sich die Kinder fühlen, welche Wirkung das auf die Kinder in den 1 300 Bedarfsgemeinschaften allein in SachsenAnhalt hat - das hat auch die Kleine Anfrage ergeben -, deren Familien sanktioniert werden? - Das können Sie sich vielleicht vorstellen.

Gerade bei jungen Menschen ist das unheimlich gefährlich; denn durch Sanktionierungen verlieren wir sie für unsere Gesellschaft. Die Kollegin Dirlich hat schon einige Beispiele aus der Stellungnahme des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zitiert. Ich möchte ein weiteres Zitat anbringen, das die jugendlichen Leistungsempfänger betrifft: Bei jugendlichen Leistungsempfängern können die schwerwiegenden Rechtsfolgen ein Entgleiten begünstigen. So kann der Wegfall des Arbeitslosengeldes II bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung prekäre Wohnsituationen

und/oder den Kontaktabbruch zum Jobcenter bedingen.

Lassen Sie mich abschließend ein weiteres Beispiel anführen, um das zu untersetzen. Ein junger Erwachsener, Anfang 20, wehrt sich gegen ein Praktikum. Sein Regelsatz wird für drei Monate gestrichen und er soll sich mittels Gutscheinen notdürftig ernähren. Ein Dreivierteljahr nach dem Ablauf der Sanktion lehnt er ein Bewerbungstraining ab. Jetzt werden ihm neben dem Regelsatz auch Miete, Kosten der Unterkunft und Krankenkassenzuschuss gestrichen. - Ich frage mich: Wie soll ein solch junger Mensch leben? Wie soll er motiviert werden, sich wieder für unsere Gesellschaft zu engagieren?

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ich glaube, hier ist die Gefahr groß, dass wir ihn für immer verloren haben.

Gestatten Sie mir folgenden - sicherlich polemischen - Schlusssatz: Die paar Euro werden unser Land finanziell auch nicht retten. Wenn wir so am Boden sind, dass wir uns das nicht mehr leisten können, dann ist das traurig.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Danke, Frau Lüddemann. - Für die Fraktion der SPD spricht jetzt der Abgeordnete Herr Steppuhn. Bitte schön, Herr Steppuhn.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass DIE LINKE - bei den GRÜNEN ist das Verständnis ein bisschen geringer - kurz vor der Bundestagswahl noch einmal an das Thema Hartz IV erinnert.

Aber ich denke, man muss schon die Meldung von dieser Woche - sie ist also ganz frisch - zur Kenntnis nehmen, dass - das halte ich für etwas Positives - die Anzahl der Sanktionen zurückgegangen ist, und zwar gerade die Sanktionen, die aufgrund der Tatsache verhängt worden sind, dass Meldungen nicht stattgefunden haben. Das zeigt, dass offensichtlich auf dem Arbeitsmarkt eine Menge Bewegung ist und dass es auch gelingt, Langzeitarbeitslose entsprechend zu integrieren.

Ich glaube aber, Frau Dirlich, Sie haben sich hiermit eine Stelle ausgesucht, die etwas anders zu bewerten ist. Wenn wir über das Meldeverfahren reden, dann muss man die Frage stellen: Wie soll denn ein System, das einmal geschaffen worden ist, um zu fordern und zu fördern, funktionieren, wenn sich Menschen, die langzeitarbeitslos sind, nicht mehr melden müssen? Ich glaube, das würde

dazu führen, dass man gerade an die Menschen, die wir fördern wollen, nicht mehr herankommt, sondern wir würden wahrscheinlich nur noch das Geld überweisen. Deshalb glaube ich schon, dass wir eine Meldepflicht brauchen.

Man hat natürlich auch Verantwortung. Das Leistungssozialrecht sieht vor, dass langzeitarbeitslose Menschen mitzuwirken zu haben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zur Bestimmung der Regelbedarfe, dem sogenannten Regelsatzurteil, dem Mitwirkungsgebot für erwerbsfähige Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine erhebliche Bedeutung zugemessen.

Deshalb glaube ich schon, dass wir die Meldepflicht beibehalten müssen. Ich halte es auch erst einmal nicht für schlimm, dass man sich irgendwo melden muss, wenn man eine Leistung bezieht. Ich sehe auch die Alternative dazu nicht. Aber vielleicht können Sie, Frau Dirlich, das in Ihrer Erwiderung noch deutlich machen.

Es gibt übrigens nach dem Prinzip des Förderns und Forderns einen Nachrang der staatlichen Sozialleistung und einen Vorrang der Selbsthilfe, der in besonderer Weise betont wird. Was die Eingliederung gerade von Langzeitarbeitslosen angeht, so ist es, glaube ich, ein erklärtes Ziel, auch arbeitsmarktpolitischer Art, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, was gerade bei dem jetzt noch aufnahmefähiger gewordenen Arbeitsmarkt gilt. Ich glaube, diese Zielsetzung sollten wir nicht aufgeben.

Recht gebe ich Ihnen darin, dass man darüber reden muss, in welche Arbeitsverhältnisse vermittelt wird. Es kann, glaube ich, nicht richtig sein - dazu besteht sicherlich Nachbesserungsbedarf -, dass Menschen immer in niedrigschwelligere Arbeitsverhältnisse vermittelt werden, sowohl was die Qualifikation als auch was die Entlohnung angeht. Ich glaube, dabei besteht ein Nachsteuerungsbedarf - darüber kann man sicherlich reden -, damit die Menschen auch eine Chance haben, aus dem Hartz-IV-System herauszukommen. Das ist eine Stelle, an der ich Ihnen durchaus beipflichten kann.

Da es sich aber insgesamt so darstellt, dass wir das Meldeverfahren nicht zur Disposition stellen wollen, muss ich Ihnen leider erklären, dass wir Ihren Antrag ablehnen werden und auch darauf verzichten werden, darüber im Ausschuss zu beraten. - Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Herr Gallert, DIE LINKE: Ja, ja!)

Vielen Dank, Herr Steppuhn. - Für die Fraktion DIE LINKE kann Frau Dirlich jetzt erwidern. Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sollen sich Leute melden müssen? - Na klar. Warum denn auch nicht? Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann sehen wir: 97 % der Leute tun es andauernd. Sie rennen zu jedem Termin, der ihnen vorgeschlagen wird. Inzwischen werden die Termine, um die Leute in Bewegung zu halten, auch immer zahlreicher.

(Zuruf von der CDU: Das ist eine Unterstel- lung!)

Die Leute gehen dorthin. Das muss man doch bitte einmal bedenken. Wenn sie aber einmal einen Termin versäumt haben - nur darum geht es -, dann werden sie mit Essensentzug bestraft.

(Widerspruch bei der CDU - Zuruf von der LINKEN: Natürlich!)

Sie werden ohne Abendbrot ins Bett geschickt.

Worüber reden wir hier? - Sie haben von den Zahlen geredet. Natürlich, wir reden über 3 % der Leute. Wenn man sich die Zahl der Arbeitsverweigerer anschaut, dann sieht man, dass das noch 1 % der Leistungsberechtigten ist. Dass es in einer Gesellschaft Menschen gibt, die vollkommen abwesend sind, die sich durch keine Sozialleistung, durch kein Angebot, durch gar nichts in die Gesellschaft integrieren lassen, das ist nun einmal so. Ich finde, das kann eine Gesellschaft aushalten. Sie muss diese Leute nicht bestrafen; das muss sie nicht.

(Zustimmung von Frau Frederking, GRÜNE)

Das eigentlich Schwierige ist, dass durch die ständig steigende Zahl von Sanktionen - im Jahr 2012 hat sie sich an manchen Stellen nahezu verdoppelt - der Eindruck vermittelt wird, man müsse die Leute zur Arbeit prügeln, man müsse sie bestrafen bzw. müsse ihnen Strafe androhen, damit sie bereit seien, eine Arbeit aufzunehmen. Das ist ein Eindruck, der nicht entstehen darf. Das ist das Falsche an den Sanktionen.