Protokoll der Sitzung vom 13.09.2013

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt bin ich ganz besonders auf Ihre Unterstützung angewiesen.

(Herr Wagner, DIE LINKE: Unsere haben Sie! - Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreten den Saal)

- Jetzt kommt auch die übliche Unterstützung. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben 80 Millionen Menschen. Davon haben 15 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Die Tendenz ist steigend. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und unser Bundesland SachsenAnhalt muss mehr dafür tun, dass wir es auch werden, weil wir mehr als andere Bundesländer auf Einwanderung angewiesen sind.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Meine Damen und Herren! Eine Willkommenskultur ist erklärtermaßen das Ziel aller hier im Haus vertretenen Fraktionen, aber in der Praxis sind die Herangehensweisen an dieses Ziel dann doch unterschiedlich. Dies zeigt - wenn ich damit einsteigen darf - schon der Alternativantrag der Fraktionen der CDU und der SPD zu unserem Antrag. Ich

finde, dieser Alternativantrag ist keine Alternative; schon die Überschrift lässt das erkennen.

Ich jedenfalls möchte mich heute in dieser Debatte ungern hinstellen und von den Menschen, über die wir sprechen, als „nicht dauerhaft aufenthaltsberechtigte Ausländer“ reden, weil damit rhetorisch von vornherein eine klare Linie gezogen wird. Ich weiß, dass das ein Fachterminus ist, aber ich möchte ihn hier, wenn wir über Menschen reden, nicht verwenden.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Deswegen sprechen wir bewusst von Flüchtlingen und von Migrantinnen und Migranten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir über unsere Verantwortung gesprochen, durch die Aufnahme von Flüchtlingen einen humanitären Beitrag zur Abmilderung der Folgen von Kriegen und bewaffneten Konflikten zu leisten.

Heute wollen wir uns mit der Situation von Menschen beschäftigen, die bereits hier bei uns in Sachsen-Anhalt leben - viele davon seit vielen Jahren. Ein Großteil davon ist in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Dies ist eine Bezeichnung, die ich für einen klaren Euphemismus halte; denn soziologisch ist eine Gemeinschaft eine kleine Gruppe von Mitgliedern, die durch ein starkes emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl eng miteinander verbunden sind. Dies ist bei Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, die von ganz unterschiedlicher Herkunft, Religion und kultureller Prägung sind, gar nicht der Fall.

Jedenfalls ist diese Art und Weise der Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten für deren allgemeine Lebensbedingungen ein sehr, sehr wichtiger Punkt und war immer wieder auch Gegenstand von Debatten hier in diesem Hohen Hause. Auch die Landesregierung hat sich zuletzt mit diesem Thema auseinandergesetzt. Sie hat auch Maßnahmen ergriffen, um Verbesserungen herbeizuführen. Ich führe an dieser Stelle die Leitlinien zur Unterbringung ins Feld, die seit einigen Monaten gültig sind.

Meine Damen und Herren! Ich sage aber auch ganz klar: Das darf jetzt nicht das Ende der Fahnenstange sein. Die Auseinandersetzung mit dem Thema muss weitergehen und wir müssen uns weiterentwickeln.

Herr Minister Stahlknecht, wir müssen weitermachen, gemeinsam. Sie hatten für diesen Sommer auch eine Regierungserklärung zu diesem Thema angekündigt. Ich frage Sie: Wo ist sie geblieben? - Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns gemeinsam diese fachlichen Auseinandersetzungen auch im Innenausschuss führen. Lassen Sie uns auch über den Antrag, den wir heute mit einer eigenen Idee einbringen, im Innenausschuss spre

chen und streiten und dann eine gemeinsame Lösung finden.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Aber nicht nur hier im Landtag, sondern auch in der öffentlichen Diskussion ist das Thema Flüchtlinge präsenter als noch vor einigen Monaten. Die Aufmerksamkeit ist gut. Wir sollten uns darüber klar sein, dass sie keine zeitlich begrenzte Episode ist, sondern einer gesellschaftlichen Entwicklung folgt, die dem zunehmenden Gedanken des Menschenrechtsschutzes Rechnung trägt.

Umso wichtiger ist es, dass wir als Bundesland uns neu aufstellen, diesen Bereich neu regeln, damit wir in dieser Debatte bestehen können und damit der Zug nicht an uns vorbeifährt.

Ein Grund für die Aufmerksamkeit ist aber auch, dass die Bedingungen in der Praxis sehr schlecht sind, in manchen Fällen skandalös schlecht. Ich möchte Sie an das Flüchtlingscamp in Bitterfeld erinnern, in dem Anfang August 2013 fünf Menschen aus dem Iran, die vor den dort herrschenden Bedingungen geflohen sind, in den Hungerstreik getreten sind. Sie sind, nachdem sie aus dem Iran geflohen sind, bei uns in Deutschland in den Hungerstreik getreten, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Dies tun sie nicht aus einer Leichtfertigkeit heraus. Sie haben sich diesen Schritt lange überlegt. Sie haben ihn sehr genau begründet, und sie haben auch sehr genau erklärt, welche konkreten Forderungen sie haben.

Ich bedauere sehr, dass das dortige Landratsamt diese Forderungen, über die man durchaus streiten kann, als Erpressungsversuch bezeichnet hat. Ich glaube, dass es kein Erpressungsversuch ist, wenn man Forderungen aufstellt. Vielmehr zeigt dies die dramatische Kluft, die zwischen dem Verständnis der Verwaltung und dem Erleben der Betroffenen in ihrer Situation liegt. Wir müssen daran arbeiten, diese Kluft zu schließen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

In einer solchen Situation zu vermitteln, ist natürlich nicht einfach. Aber ich freue mich, dass es Menschen gibt, die in einer solchen Situation vermitteln wollen. Ich bin der Integrationsbeauftragten des Landes sehr dankbar dafür, dass sie sich dieser schwierigen Aufgabe angenommen hat, dass sie es geschafft hat, die Beteiligten an einen Tisch zu holen, Gespräche zu ermöglichen und auch eine neue Vertrauensbasis zu schaffen. Diesen Aktivitäten war es letztlich auch zuzurechnen, dass der Protest abgebrochen wurde und sich die Situation nicht dramatisch zugespitzt hat.

Meine Damen und Herren! Dass die Bedingungen in den Unterbringungseinrichtungen so schlecht sind, liegt zum einen an den konkreten geogra

fischen, baulichen oder hygienischen Bedingungen in den Einrichtungen, zum anderen aber auch an den Auswirkungen einer längeren Sammelunterbringung als solche, unabhängig davon, wie sie konkret ausgestaltet ist.

Wir wissen - das lässt sich auch empirisch nachzeichnen -, dass das Risiko, beispielsweise psychisch zu erkranken oder suchtkrank zu werden, in Sammelunterkünften sehr hoch ist. Viele Betroffene berichten über zunehmende psychische und physische Probleme bei sich selbst oder bei anderen Bewohnern mit zunehmender Zeit der Unterbringung.

Das Leben in den Sammelunterkünften macht auf Dauer krank. Das ständige Zusammenleben von fremden Menschen mit unterschiedlichem Verhalten setzt alle Bewohnerinnen und Bewohner einem Stress aus, der gesundheitsschädlich ist. Kinder sind insbesondere davon betroffen und die haben in diesen Einrichtungen überhaupt nichts zu suchen.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Wir wissen auch von vielen Fällen, in denen Schulkinder darüber klagen, dass sie sich durch das Umfeld nicht auf die Hausaufgaben oder auf die Lerninhalte konzentrieren können. Das Problem der Familien und der Alleinerziehenden mit Kindern wurde durch die Landesregierung zwar erkannt und auch in den Leitlinien thematisiert, aber noch immer kommen zahlreiche Familien trotz mehrfacher Antragstellung jahrelang nicht aus Sammelunterkünften heraus. Dies ist die Realität im Land.

Hochproblematisch ist der Zustand der Unterkünfte selbst, was für so gut wie alle Landkreise und kreisfreien Städte gilt. Zuletzt hat vor wenigen Tagen das Landesverwaltungsamt die Notbremse bei dem Flüchtlingsheim in Zeitz gezogen, das komplett mit Ungeziefer verseucht ist. Dies ist keinesfalls ein Einzelfall.

Das Flüchtlingsheim in Bernburg im Salzlandkreis geriet im letzten Jahr ebenfalls in die Schlagzeilen, weil dort besorgte Eltern die Kakerlaken sogar aus Körperöffnungen ihrer Kinder entfernen mussten. Trotz des Ausbringens von Insektiziden leiden die Bewohner bis heute unter den gleichen Problemen. Dies ist auch logisch, weil der Schädlingsbefall in diesem heruntergekommenen Gebäude eben chronisch ist.

In Friedersdorf im Landkreis Anhalt-Bitterfeld wohnen die Menschen abgelegen in alten Baracken einer ehemaligen Tagebauarbeitersiedlung. Die dünnen Wände sind teilweise durchnässt. Im Winter frieren die Menschen; manche liegen nur auf Matratzen auf dem Boden.

Viele Sammelunterkünfte liegen abseits einer geeigneten Infrastruktur, in völlig randständigen La

gen. Manche liegen sogar versteckt im Wald, wie das Flüchtlingsheim Harbke im Bördekreis, Ortsteil Autobahn. Dort sind die Menschen völlig isoliert in einer alten Grenztruppenkaserne untergebracht. Diese kann man von der Autobahn aus sehen. Sie werden sie sicherlich alle kennen. Zum Supermarkt nach Helmstedt sind es von dort aus zwei Stunden zu Fuß. Der Empfang von Besuch ist quasi unmöglich. Einige Bewohner leben dort - ich habe sie selbst getroffen - seit 18 Jahren im Wald, so muss man es sagen.

In Stendal im Altmarkkreis liegt das Asylheim in einem tristen alleinstehenden Plattenbau auf einem Hügel vor den Toren der Stadt. Die Straße und der Fußweg enden vorher. Bei Regen müssen die Bewohner die letzten Meter über einen matschigen Feldweg laufen. Das Gebäude ist umzäunt. Die Besucher müssen sich ausweisen. Viele Fenster sind mit Brettern vernagelt. Das ist keine geeignete Unterbringungssituation für Familien mit Kindern, meine Damen und Herren.

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE, und bei der LINKEN)

Im Landkreis Wittenberg gab es mit der Schließung des Lagers Möhlau - anders kann man es nicht bezeichnen -,

(Herr Kolze, CDU: Aber, aber!)

die Chance für einen echten Neubeginn.

Der Nachbarlandkreis Dessau-Roßlau macht ausgesprochen erfolgreich vor, wie man Menschen dezentral in Wohnungen unterbringen kann und dadurch Integration überhaupt erst einmal ermöglicht.

Im Landkreis Wittenberg wurden die Bewohnerinnen und Bewohner stattdessen nach Vockerode gebracht, mit den Ihnen bekannten Folgen. Dieser Wohnblock dort wird als dezentrale Unterbringung in Wohnungen gezählt; er ist aber de facto einfach eine Sammelunterkunft light in einem Wohnblock. Das ist Etikettenschwindel, meine Damen und Herren.

Ein weiteres Problem der Sammelunterkünfte sind die Betreiber. Anders als es die Leitlinien unter anderem des Landes vorschreiben, verfügen die Betreiber eben häufig nicht über die geeignete Expertise, überhaupt eine soziale Einrichtung - nichts anderes ist eine solche Sammelunterkunft - zu betreiben.

In einigen Fällen handelt es sich um Familienunternehmen, die die Unterkünfte seit ihrer Einrichtung, oftmals wenige Jahre nach der Wende, als ihr eigenes und einziges Geschäftsmodell betreiben. Ich glaube, wir müssen infrage stellen, dass das wirklich in unserem Sinne ist.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Ich glaube, diese Betreiberform ist unvereinbar mit den Zielen einer progressiven Integrationspolitik. Sie erweist sich als Hemmschuh bei der Erreichung der Ziele, die wir uns selbst auch mit den Leitlinien gestellt haben. Denn es gibt für diese familiär geführten Betriebe überhaupt keinen Anreiz zu Investitionen. Das erklärt sich von selbst.

Die Gebäude sind in den meisten Fällen oder eigentlich in allen Fällen längst abgeschrieben und müssen bei möglichst niedrigen laufenden Kosten und möglichst hoher Auslastung lediglich erhalten werden. Wohnungsunterbringung wird daher logischerweise von den Betreibern als geschäftsschädigendes Modell, de facto als Konkurrenzmodell angesehen. Demnach ist es überhaupt nicht in deren Interesse. Es sollte aber in ihrem Interesse sein, wenn wir sie als Partner unserer Integrationspolitik begreifen.

Wenn dann einige Familien in den Unterkünften hartnäckig wirklich darauf bestehen, dass sie in Wohnungen untergebracht werden, dann wird gern auch in die Trickkiste gegriffen. In Burg im Jerichower Land stellte eine vierköpfige Familie aus dem Irak mehrere Anträge auf Wohnungsunterbringung. Daraufhin baute der private Betreiber der Unterkunft in deren Räume einfach eine Nasszelle und eine Küchenzeile ein und sagte: So, das ist jetzt eure Wohnung. Sie kamen aber überhaupt nicht aus dem Heim heraus. Der Landkreis hat dieses Vorgehen unterstützt. Zudem mussten sie diese Wohnung auch noch zu einem völlig marktunüblichen Preis anmieten.

In Friedersdorf wurden neben den alten Baracken, von denen ich eben gesprochen habe, neuere Bungalows errichtet, mit einem besseren Standard, aber auf dem gleichen Gelände. Diese werden dort als dezentrale Unterbringung in Wohnungen gezählt und die Leute werden dort nach einer Art Belohnungssystem untergebracht. Ich sage ganz ehrlich: Dies ist mit einer modernen Integrationspolitik nicht zu vereinbaren.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Der Betreiber verdient damit doppelt: bei dezentraler und bei zentraler Unterbringung. Solche Fälle müssen wir unterbinden.

Finanziert wird dieses, wie ich finde, krude System von uns, vom Land, von den Steuerzahlern, bei unzureichender Kontrolle und bei unzureichender Leistungserbringung aufseiten derer, die die Leistung erbringen sollen.

Die Landesregierung müsste zunächst einmal dafür sorgen, dass diese Missstände, die offensichtlich sind, wirklich konsequent abgestellt werden und dass die Leitlinien des Landes konsequent umgesetzt werden.