Protokoll der Sitzung vom 12.12.2013

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich will mit einem Dank beginnen. Ich will Ihnen bei allen politischen Differenzen - manchmal in der Ideologie, manchmal im Detail, meistens in beidem -

(Herr Scheurell, CDU: Was?)

ausdrücklich dafür danken, dass Sie die Themen Migration, Integration und Willkommenskultur als politisch wichtige begreifen und seit Beginn der Legislaturperiode hier durchaus Impulse gesetzt haben, die wir in Teilen ausdrücklich begrüßt haben und begrüßen.

Ich denke dabei beispielsweise an die Feststellung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, an Ihre Äußerungen zur Optionspflicht oder auch an die Anerkenntnis, dass es ein Problem darstellt, über Jahre hinweg im prekären Status der Duldung zu leben.

Bitte sehen Sie es nicht als vermessen an, wenn ich sage, dass diese Impulse wie auch manche Worte, die Sie in der Vergangenheit und in Teilen auch heute gefunden haben, nicht unbedingt dem entsprechen, was viele Menschen von einem CDU-Innenminister und erst recht nicht von einem Innenminister Stahlknecht erwartet haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das will ich nun in keiner Weise beklagen, im Gegenteil: Ich will ihre Worte sehr ernst nehmen. Ihre Worte ernst zu nehmen heißt zu schauen, inwieweit Wort und Tat zusammenpassen und inwieweit Regierungserklärung und Regierungshandeln übereinstimmen und wie die Situation für Zugewanderte im Land Sachsen-Anhalt tatsächlich ist.

Spätestens an dieser Stelle enden - wenig überraschend - die Einigkeit und der Dank. Herr Minister, Sie selbst haben darauf verwiesen, dass Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen, Asylsuchenden und Geduldeten auch gelebt werden muss. Das ist richtig. Denn wenn wir von Willkommenskultur sprechen, reden wir einerseits von Strukturen, von gezielten Angeboten, von Beratung und Informationen, von Möglichkeiten der Lebensgestaltung jeder und jedes Einzelnen. Es

geht andererseits aber auch um eine gesellschaftliche Stimmung und Atmosphäre, mit der Zugewanderten in Sachsen-Anhalt begegnet wird. Diese unterscheidet nicht danach, ob jemand einen deutschen Pass hat oder bekommen könnte, ob jemand mit Visum oder visumsfrei eingereist ist bzw. ob jemand als politisch oder anderweitig Verfolgter hier Schutz sucht.

Gesellschaftliche Stimmung und Atmosphäre, die für den Alltag Zugewanderter entscheidend sind, funktioniert nach anderen, und wie ich finde, weitaus schwieriger zu fassenden Kriterien. Leider müssen wir feststellen, dass wir allzu oft von so etwas wie Willkommenskultur weit entfernt sind. Allzu oft schlägt Zugewanderten prinzipielle Skepsis entgegen, wird die Frage nach ihrer Berechtigung gestellt, überhaupt hier sein zu dürfen, wird ihnen pauschal unterstellt, anders und fremd zu sein, und werden Konflikte vermutet und stilisiert, bevor sie überhaupt entstanden sind.

Ausgangspunkt dafür ist zumeist die - manchmal vielleicht auch nur gefühlte - Grundannahme, dass es erstens einen prinzipiellen Wesensunterschied zwischen Angehörigen verschiedener Nationalitäten und verschiedener Kulturkreise gibt und dass zweitens Zugewanderte per se nicht dieselben Rechte haben wie diejenigen, die als Deutsche geboren wurden.

Daraus erwächst eine Vielzahl von Konflikten und alltäglichen Diskriminierungen, bis hin zu offen artikuliertem Rassismus. Beim Schlagwort „Rassismus“ denken viele an organisierte Neonazis und schreiben das Phänomen diesem vermeintlichen gesellschaftlichen Randbereich zu. Es ist tatsächlich eine kleine Minderheit, die rassistische und fremdenfeindliche Gewalttaten verübt, aber es ist eine wirkungsmächtige Minderheit. Wir müssen feststellen, dass statistisch nach wie vor alle zwei bis drei Tage ein Mensch Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt wird und dass insbesondere die Zahl rassistisch motivierter Gewalttaten im letzten Jahr noch einmal zugenommen hat.

Migrantinnen und Migranten und alle, die als Nichtdeutsche wahrgenommen werden, sind damit besonders häufig Betroffene und Opfer rechter Gewalt und brauchen neben professioneller Hilfe und Beratung vor allem gesellschaftliche Solidarität.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Genau diese Solidarität bedeutet aber auch, Rassismus und Xenophobie nicht als Phänomene gesellschaftlicher Randgruppen zu begreifen, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem, das uns in allen gesellschaftlichen Schichten, Altersgruppen und Bereichen begegnet.

Aktuell belegen die entsetzlichen Hetzkampagnen gegen die Unterbringung von Asylsuchenden, die

wir gegenwärtig in verschiedenen Orten beobachten müssen, dass Rassismus ein Problem der Mitte ist. Wer denkt, Hellersdorf sei weit weg und habe mit der Willkommenskultur in Sachsen-Anhalt nichts zu tun, der irrt. Auch in Sachsen-Anhalt können solche Kampagnen beginnen, zum Teil haben sie es bereits.

Seit November 2013 gibt es beispielsweise im sozialen Netzwerk Facebook die Seite „Wolfen wehrt sich - kein Asylheim am Krondorfer Gymnasium!“, die innerhalb weniger Stunden nach Einstellung der Seite bereits 700 Unterstützerinnen und Unterstützer gefunden hat.

Natürlich ist es schwierig, auf gesellschaftlichen Rassismus eine politische Antwort zu finden. Natürlich sind es auch langwierige Prozesse und natürlich ist es eine menschliche Herausforderung, auf rassistische Äußerungen und Vorurteile zu reagieren. Je privater der Rahmen, desto schwieriger wird es - keine Frage. Ich mache mir auch keine Illusionen darüber, dass es immer einen Teil geben wird, auf den wir, auf den Politik, auf den Bildungsangebote und interkulturelle Wochen keinen Einfluss haben werden.

Aber die gesellschaftliche Stimmung hängt auch und entscheidend davon ab, welche politischen Signale gesetzt werden und wie der Staat und seine Behörden mit Zugewanderten umgehen, welche Rechte sie qua Gesetz haben und wie politische Debatten zu dem Thema geführt werden.

In den Augen meiner Fraktion beginnt eine Debatte über Zuwanderung dann nicht hilfreich zu sein, wenn sie zwischen Guten und Schlechten, zwischen Nützlichen und Unnützen, zwischen Bereichernden und Zur-Last-Fallenden unterscheidet.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Um es ganz klar zu sagen: Für uns ist es nicht hinnehmbar, die Entscheidung darüber, ob jemand hier willkommen ist, an der Frage seiner wirtschaftlichen Nützlichkeit festzumachen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Ich bin sicher, niemand in diesem Hohen Hause würde postulieren, dass jemand, der verfolgt wird, hier nicht willkommen wäre. Die entscheidende Frage ist doch aber, wer als verfolgt gilt und wie der Alltag der Menschen aussieht, die mit einem ungesicherten Status hierher kommen und hier leben.

Insbesondere im Hinblick darauf, aus welchen Gründen Menschen nach Deutschland kommen dürfen, erleben wir in den letzten Monaten eine Debatte um sogenannte Armutsflüchtlinge aus Balkanländern, aus Rumänien, Serbien, aus dem Kosovo, aus Mazedonien, Montenegro oder auch Bulgarien, die in fataler Weise an die verheerende

„Das Boot ist voll“-Rhetorik zu Beginn der 90erJahre erinnert.

Diese Menschen - oftmals Angehörige der Minderheit der Roma - werden als Sozialschmarotzer diffamiert, die sich lediglich persönlich bereichern wollen, die gar keine realen und vor allem keine gültigen Gründe hätten, ihre Heimat zu verlassen, und die massenhaft die deutschen Sozialsysteme bedrohten.

Roma sind in vielen Ländern - darunter die genannten Länder - von systematischer Diskriminierung und Benachteiligung betroffen. Natürlich sind Roma keine homogene Gruppe und natürlich gibt es überall Arme und Reiche, Sichere und Prekäre, Akzeptierte und Nichtakzeptierte. Fakt ist aber auch, dass die Roma im gesamten Südosteuropa etwa ein Zehntel der Bevölkerung stellen, damit die größte Minderheit Europas darstellen, gesellschaftlich aber marginalisiert sind.

Der Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt ist eine große Hürde. Sowohl in der öffentlichen Verwaltung als auch in der Privatwirtschaft sind Roma deutlich unterrepräsentiert. Im öffentlichen Dienst kommen sie nahezu nicht vor. Die Arbeiten, die ihnen bleiben, sind die, für die sich niemand anderes findet. Sie sind oftmals schwer, teilweise gefährlich, schlecht bezahlt und am unteren Ende der Ansehens- und Einkommenshierarchie angesiedelt.

Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, zum Bildungssystem, zum regulären Wohnungsmarkt und zu Infrastrukturen wie dem Kanalisationssystem sind weitere grundlegende Probleme, mit denen Roma umgehen müssen und die ihr Leben erschweren.

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Berichten internationaler Delegationen, die diese katastrophalen Lebensbedingungen schildern und belegen. Gleichzeitig gelten aber Länder wie zum Beispiel Serbien als sogenannte sichere Herkunftsländer. Sie sind übrigens auch Hauptzielort für Abschiebungen, auch aus Sachsen-Anhalt.

Meine Fraktion kann und will es Menschen nicht verdenken, die versuchen, sich in einem anderen Land, zum Beispiel in Deutschland, ein anderes Leben zu schaffen. Menschen sind in der Geschichte immer dort hingegangen, wo sie sich gute oder bessere Existenzbedingungen erhofften. Wir sehen es im globalisierten 21. Jahrhundert als die normalste Sache der Welt und als ihr gutes Recht an, die Chancen, die da sind, zu nutzen.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)

Das Asylrecht der Bundesrepublik erkennt Armut aber nicht als Fluchtgrund an. Auch gesellschaftliche Marginalisierungen und Diskriminierungen sind keine anerkannten Fluchtgründe, die einen sicheren Aufenthaltsstatus zur Folge haben.

Damit sind wir bei den Details des Asylrechtes, die für den Alltag der von ihm Betroffenen von entscheidender Bedeutung sind. Wenn ich soeben davon sprach, dass für die Offenheit einer Gesellschaft und die in ihr gelebte Willkommenskultur die Frage ein Gradmesser ist, welche Rechte Zugewanderte haben oder eben nicht haben, dann müssen wir feststellen, eine Fülle von Sondergesetzen, die nur für Asylsuchende gelten, manifestiert eine politisch mehrheitlich gewollte und juristisch legitimierte Ungleichheit von Deutschen und Zugewanderten.

Der Alltag von Menschen, die nicht mit fertig erarbeiteter Perspektive und nachweislich gesichertem Lebensunterhalt hierher kommen, ist geprägt von Ungewissheit und permanenter Abhängigkeit von behördlichen Entscheidungen.

Der Minister sprach soeben die Frage der Kooperationsbereitschaft von Asylsuchenden an und eröffnete zumindest die gedankliche Möglichkeit, denen, die gut ausgebildet sind und die als kooperationswillig gelten, weil sie die sogenannten Mitwirkungspflichten erfüllen, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Das klingt zunächst recht fortschrittlich. Wie wenig das aber mit Willkommenskultur zu tun hat, wird relativ schnell deutlich, wenn man sich die sogenannten Mitwirkungspflichten näher anschaut.

Denn den Mitwirkungspflichten nicht nachzukommen, ist der wohl am häufigsten erhobene Vorwurf gegenüber Asylsuchenden und Geduldeten und auch der häufigste Grund zum Ausschluss von theoretisch möglichen Verbesserungen ihrer Lebenssituation. Insbesondere mangelnde Mitwirkung bei der Passbeschaffung und der Identitätsklärung führt dazu, dass Menschen der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Unterbringung in Wohnungen und die Möglichkeit eines dauerhaften Aufenthaltstitels verweigert wird.

Derlei Ausschlussgründe gelten für die meisten Maßnahmen, auf die der Minister eingegangen ist. In den Augen meiner Fraktion sind dies Gründe, die eben nicht an der Realität von Geflüchteten orientiert sind. Es entspricht nicht der Realität, dass man auf der Flucht vor Krieg, vor Vertreibung, vor staatlicher Verfolgung, vor Elend und Armut in jedem Fall seine Dokumente wohlgeordnet bei sich führen kann, sie beschaffen kann, sie mitnehmen kann, sie abstempeln lassen und hier vorlegen kann.

(Oh! bei der CDU)

Die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft wird oftmals auch daran festgemacht, dass jemand nicht bereit ist, in die Botschaft oder das Konsulat des Landes zu gehen, aus dem er geflohen ist, um sich dort Identitätspapiere zu beschaffen.

Insbesondere im Fall politischer oder staatlicher Verfolgung oder dann, wenn - was ebenfalls nicht selten ist - Familienangehörige noch im Heimatland leben und potenziell ebenfalls von Verfolgung bedroht sind, liegt es auf der Hand, dass dies eine realitätsferne Regelung ist, die nicht im Sinne der Betroffenen ist und deren Erfüllung verheerende Konsequenzen haben könnte.

Doch solche Details sind nicht und nicht zuerst Ergebnis von Bürokratieversessenheit. Ausschlussgründe wie diese sind Ergebnis und konsequente Fortsetzung des Asylkompromisses und einer Zuwanderungspolitik, die in ihrer Grundlinie auf die Reduzierung der Zahl von Anspruchsberechtigten abzielt.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich ist klar, dass wir hier über Entscheidungen auf der Bundesebene und über Bundesgesetze reden. Aber natürlich hat das Land einen Einfluss darauf. Wir haben in dieser Legislaturperiode mehrfach über Initiativen im Bundesrat beraten und abgestimmt und haben das auch als unser Aktionsfeld begriffen. Auch an anderer Stelle wird der Minister nicht müde, auf sein bundespolitisches Engagement, beispielsweise beim NPDVerbot, zu verweisen.

In den Augen meiner Fraktion braucht es eine grundsätzlich andere Aufenthalts- und Bleiberechtspolitik, die eben nicht auf die Reduzierung der Zahl der Anspruchsberechtigten, sondern auf dauerhaften Aufenthalt in Würde, in Sicherheit und in Freiheit abzielt. Es wäre unehrlich, über Wege zu einer Willkommenskultur zu sprechen und diese Ebene auszublenden.

Aber selbst wenn Sie diese grundsätzliche Kritik nicht teilen - wovon ich ausgehe und wovon nach der Regierungserklärung des Ministers wenig überraschend auszugehen ist -, dann müssen Sie doch zumindest anerkennen - der Minister hat es in Teilen auch getan -, dass die Konsequenz aus dieser politischen Grundentscheidung ist, dass zahlreiche Sonderregelungen, Stichtagsregelungen und Optionen für eng definierte kleine Gruppen bestehen, die in sich unübersichtlich sind, die mehr Menschen aus- als einschließen und die insgesamt alles andere als eine Willkommenskultur verkörpern, von Willkommensstrukturen ganz zu schweigen.

Wenn wir auf die Situation im Land und den unmittelbaren Wirkungsbereich der Landesregierung schauen, ist aus der Sicht meiner Fraktion Folgendes zu konstatieren: Zwar haben wir einen Innenminister, der das Thema Zuwanderung und insbesondere auch die Unterbringung Asylsuchender offenbar als wichtig begreift. Viel geändert hat es aber nicht.

Mit Blick auf die Erstaufnahmeeinrichtung ZASt in Halberstadt hat sich die Situation sogar erheblich