Protokoll der Sitzung vom 12.12.2013

Auch wenn ich mich heute in dem folgenden Teil meiner Rede mehr dem Thema Einwanderung und Zuwanderung zuwenden werde, will ich an dieser Stelle aus aktuellem Anlass deutlich sagen, dass wir das Thema Flüchtlingspolitik, auch ein Einzelthema im Bereich Asyl, nicht aus den Augen verlieren dürfen. Denn das, was gegenwärtig in Europa passiert, ist peinlich für Deutschland. Wir überlassen das Problem den Außenstaaten, und wir haben keine akzeptable Regelung gefunden, wie wir mit diesen Flüchtlingsströmen umgehen. Aber ein reiches Europa muss sich dem stellen und muss es tun, uns zwar mehr als heute.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU - Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Ich will uns alle bitten, auch nur den Anschein weit von uns zu weisen, dass wir eine AschenputtelPolitik machen nach dem Motto: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So wird beim Thema Zuwanderung, Asyl, Flüchtlingspolitik in einigen Bereichen ganz oft geredet. Das ist einfach so. Das ist auch gelebte Gesellschaft. So wird auch in der Gesellschaft darüber diskutiert, nicht bloß in der politischen Szene.

Ich halte das für falsch, weil ich glaube, dass niemand freiwillig sein Land verlässt. Und wir machen einen Unterschied, ob sie aus politischen Gründen kommen, weil sie religiös verfolgt werden, weil es dort Krieg gibt oder weil sie wegen der Armut oder aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Natürlich kommen wir sofort zueinander, wenn wir hier gemeinsam beschließen, das Problem muss zuallererst im Heimatland gelöst werden. Eigentlich muss man die Situation vor Ort lösen. Aber so einfach ist das nicht, weder bei den Trümmerflüchtlingen noch bei den Wirtschaftsflüchtlingen.

Deshalb müssen wir unsere Einstellung dazu verändern und dürfen gar nicht darüber reden, dass es eine gute oder schlechte Zuwanderung gibt, sondern wir müssen für beides eine Lösung haben, egal aus welchen Gründen die Menschen zu uns gekommen sind.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU - Beifall bei der LINKEN)

Trotzdem will ich in der heutigen Debatte auf diesen anderen Bereich stärker eingehen, auf das Thema Zuwanderung und Einwanderung, auch mit dem Hintergrund: Wir nützen uns gegenseitig etwas, um das ganz einfach zu formulieren. Aber auch da ist ein Paradigmenwechsel immer noch nötig. Auch das ist in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht allgemein anerkannt.

Dass es eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft ist, das sieht nicht jeder so, selbst bei diesem Teil, bei dem wir in diesem Hohen Hause überwiegend große Schnittmengen haben. So wie sich die Unternehmenskultur von einer Situation, die von einem Überangebot an Arbeitskräften zum Beispiel in Ostdeutschland geprägt war, zu einer anderen Unternehmenskultur bei dem Mangel an Fachkräften entwickelt hat - Mitarbeiterinnen- und Mitarbeitergewinnung, Mitarbeitermotivation sind nette Stichworte, die man Anfang der 90er-Jahre nicht gekannt hat; man hat sich aus dem Überfluss an Arbeitskräften die besten herausgesucht -, so müssen wir auch bei dem Thema Zuwanderung zu einem Paradigmenwechsel kommen, und wir müssen ihn als gewählte Politiker auch vorantreiben.

Ich will jemanden zitieren - am Schluss sage ich, wen -, den man als Stimme in dieser Debatte gar nicht sofort vermutet hätte.

(Frau Frederking, GRÜNE: Herrn Stahlknecht!)

- Nein. - Ich lese das Zitat vor:

„Ohne Zuwanderung müssten die Deutschen sich damit abfinden, langfristig in einer alternden Gesellschaft mit schrumpfender Bevölkerungszahl zu leben - mit allen Konsequenzen für Wirtschafts- und soziale Systeme. Dennoch wird das Thema Zuwanderung kontrovers diskutiert, leider oft wenig rational und ohne Kenntnis der Fakten. Mittlerweile scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Zuwanderung nicht nur wirtschaftlich notwendig, sondern auch gesellschaftlich wünschenswert sein kann.

Allerdings ist es keineswegs so, dass Fachkräfte in großer Zahl darauf warten, nach Deutschland gerufen zu werden. Gemäß einer Studie steht Deutschland auch im europäischen Wettbewerb um die besten Köpfe nur im Mittelfeld. Wenn Deutschland im Kampf gegen den drohenden Fachkräftemangel auf gesteuerte Zuwanderung setzen

will, gilt es, die Zuwanderungspolitik entsprechend zu gestalten. Das Land muss für qualifizierte Fachkräfte, die mit ihren Fähigkeiten die Wirtschafts- und Innovationskraft am Standort stärken können, attraktiver werden, unter anderem durch den Abbau rechtlicher und bürokratischer Hürden.

Durch administrative Maßnahmen allein wird das nicht passieren. Deutschland muss klar signalisieren, dass qualifizierte Zuwanderung erwünscht ist, und daran arbeiten, als attraktives Zielland wahrgenommen zu werden. Eine Willkommenskultur lässt sich weder verordnen noch monetär beziffern, sondern verlangt einen gesellschaftlichen Sinneswandel.“

Das, meine Damen und Herren, ist ein Zitat von McKinsey Deutschland aus der Studie zum Wettbewerbsfaktor Fachkräfte. Ich glaube, eindringlicher kann ein Appell der Wirtschaft an uns nicht sein, oder um es anders auszudrücken: Am Umgang mit den Migrantinnen und Migranten hängt auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft.

Nun mögen wir - lassen Sie mich noch einmal darauf zurückkommen - nicht alle Menschen mit dem humanitären Anliegen, das ich vorhin vorgetragen habe, erreichen oder überzeugen. Aber wir sollten doch zumindest versuchen, auch mit dem humanitären Anliegen mehr Menschen zu erreichen.

Wenn wir erst einmal mit etwas beginnen, was sich, wie dieses Zitat eben, in der deutschen wirtschaftlichen Realität beschreiben lässt, vielleicht schaffen wir dann auch den Sprung von der Einsicht in die Notwendigkeit hin zu dem zweiten Thema, dass das humanitäre Anliegen genauso wichtig ist wie wirtschaftliche Zahlen.

Meine Damen und Herren! Auch ich war bei dem Einbürgerungsfest. Wir streiten uns hier oft darüber, wie wir mit unserer Demokratie umgehen, wie viele Menschen noch zu Wahlen gehen, ob das eine Demokratie ist und wie schrecklich das alles ist. Die Männer und Frauen, die bei dem Einbürgerungsfest waren, haben in den Vordergrund ihrer Entscheidung, warum sie Deutsche werden wollen und geworden sind, den Gesichtspunkt gestellt, dass in der Bundesrepublik Deutschland ein demokratisches System herrscht, in das sie hinein wollen, in dem sie wählen wollen und bei dem sie mittun wollen. Das sind aktive Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sagen, die politischen Freiheiten, die wir hier haben, die journalistischen Freiheiten, die es hier gibt, und die Mitwirkungsrechte in einer Demokratie sind das Eigentliche, was uns interessiert, warum wir deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger werden wollen.

Es ist gut, dass das von außen so gesehen wird. Es ist ein bisschen so, als wenn man über Europa redet: Je weiter man weg ist, desto attraktiver wird

Europa. Je weiter man im Mittelpunkt steht, desto kritischer geht man damit um.

Im Koalitionsvertrag dieser Koalition steht das Ziel, Sachsen-Anhalt zu einem lebenswerten, weltoffenen, modernen und solidarischen Land zu machen. Eine Willkommenskultur ist dabei ein Teil des Ziels. Die heutige Debatte kann natürlich auch nur ein Baustein sein. Denn eine Willkommenskultur braucht einen großen gesellschaftlichen Konsens, eine gesellschaftliche Umrahmung.

Das zeigt sich im Kleinen, zum Beispiel in persönlichen Begegnungen im Verein oder in Unternehmen. Das zeigt sich aber auch im Großen, in der politischen Debatte, zum Beispiel in politischen Entscheidungen, die direkte Veränderungen für Betroffene nach sich ziehen. Dazu hat der Herr Minister einiges Gutes angekündigt, bei dem wir selbstverständlich gut zusammenarbeiten werden und das voranbringen werden.

Eine Willkommenskultur würde Sachsen-Anhalt noch attraktiver machen. Deshalb ist es für uns doppelt wichtig, so etwas hier zu etablieren; denn, meine Damen und Herren, Sachsen-Anhalt ist bisher eher ein Auswanderungsland. Auch das sollten wir uns deutlich vor Augen führen. Viel zu lange sind gut qualifizierte Fachkräfte abgewandert. Wir in Sachsen-Anhalt können es uns am wenigsten leisten, gut qualifizierte Migrantinnen und Migranten ziehen zu lassen.

An dieser Stelle möchte ich Folgendes ganz deutlich sagen: Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit sind das Gegenteil einer Willkommenskultur,

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

und zwar im Kleinen wie im Großen, da sie stark den Aspekt konterkarieren, den wir heute intensiver besprechen, nämlich das Thema Zuwanderung und Migration auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Entwicklung.

Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass Arbeitsplätze allein niemanden nach Sachsen-Anhalt holen werden. Der Arbeitplatz allein wird es nicht sein. Ich glaube, dass die Ausgestaltung einer guten Willkommenskultur von vielen Vorzeichen abhängig ist. Ich möchte drei aus meiner Sicht wesentliche Punkte benennen.

Erstens. Die Willkommenskultur muss bereits in den Herkunftsstaaten beginnen. Man kann den Zeitraum vor der Ausreise aus dem Herkunftsland effektiv nutzen, um präventive Integrationsförderung zu betreiben. Ich denke zum Beispiel an unsere deutschen Konsulate und Botschaften, die sehr viel dazu beitragen können.

Ich weiß, dass man im Auswärtigen Amt derzeit an Vorschlägen arbeitet, wie etwa im Bereich der Er

teilung von Visa Verbesserungen für zuwandernde Fachkräfte und deren Familien zu erzielen sind.

Darüber hinaus sollte man mit Blick auf einige definierte Staaten die Aufhebung der Visumpflicht auch für auf Dauer angelegte Aufenthalte prüfen und dieses bereits im Herkunftsland realisieren. Ich glaube, auch das wäre ein guter Einstieg, der möglicherweise Wege auf das Amt in Deutschland vermeiden ließe.

Zweitens. Eine Willkommenskultur muss in der Verwaltung beginnen. Frau Quade, Sie sind darauf bereits eingegangen. Die erste Anlaufstelle für Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind in der Regel Behörden und öffentliche Institutionen. Es stellen sich dabei zahlreiche Fragen, insbesondere auch in den Fällen, in denen Familien anreisen und es sich nicht nur um eine Einzelperson handelt.

Deshalb umfasst Willkommenskultur auch die interkulturelle Öffnung von Behörden und von öffentlichen Einrichtungen. Nur wenn es gelingt, diese Kultur zu entwickeln, dann können wir alle Potenziale, die sich für uns als Land bieten, nutzen. Wir brauchen eine Haltung, die zu einer kulturellen Vielfalt führt, sie anerkennt und die auch Zugangsbarrieren in den Behörden abbaut.

Das setzt natürlich kulturelle Kompetenz und Fremdsprachenkenntnisse auch auf unserer Seite voraus. Deshalb sehe ich es genauso wie Sie: Das Beispiel der Stadt Magdeburg, sich an dem bundesweiten Modellvorhaben zum Aufbau von Welcome-Centern zu beteiligen, ist zu begrüßen. Die Ausländerbehörde soll zu einer Willkommenseinrichtung weiterentwickelt werden. Man braucht ja immer Schlagworte, mit denen man das beschreibt. Es hört sich gut an und muss auch gut werden.

Derartige Initiativen sollten flächendeckend realisiert werden. Ich hoffe, dass dieses Modell, wenn es erfolgreich verläuft, auch auf andere Städte und Behörden übertragen wird und auch für unser Land Sachsen-Anhalt genutzt werden kann.

Drittens. Willkommenskultur muss sich stärker gesellschaftlich etablieren. Nicht nur das Willkommensgefühl bei der Ankunft soll vermittelt werden, sondern auch das Gefühl des Aufgenommenseins, des Angekommenseins. Dies ist ein wichtiges Element, wenn man Menschen eine erfolgversprechende Integrationschance geben will. Dabei spielen viele Orte, wie der Betrieb, die Kita, die Schule, die Universität, das Wohnen, die Freizeitangebote usw. eine große Rolle.

Wir müssen Deutschland und Sachsen-Anhalt so gestalten, dass die Menschen, die zu uns kommen oder die bereits hier sind, die hier arbeiten, hier lernen und hier leben, sich willkommen fühlen. Dabei geht es um die Orientierung in Behörden,

um Kontakte zu denen, die schon länger hier leben, zu der einheimischen Bevölkerung etwa in Vereinen. Nicht zuletzt geht es um das Einbringen von Potenzialen, die für unsere Gesellschaft essenziell sind.

Ich würde es gut finden, wenn man in SachsenAnhalt nicht mehr fragt, woher man komme - das ist auch interessant -, sondern dass man fragt, was man voneinander lernen könne, was man mitbringe und wie man dies gemeinsam zum Vorteil aller nutzen und fördern könne.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte noch den Bereich der Bildung ansprechen. Es ist wichtig, Zugewanderten bessere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe zu eröffnen. Denn die derzeitige Realität stellt sich oft so dar, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse haben, dass Migrantenfamilien im Durchschnitt häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen sind und dass aber oft auch hochqualifizierte Zugewanderte aufgrund der Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen unterqualifiziert beschäftigt werden.

Wir brauchen, wenn wir die Willkommenskultur ernst nehmen wollen, bessere Zugänge zum Spracherwerb, zu Bildung, zu Kultur, zu beruflicher Qualifizierung und zum Arbeitsmarkt.

Aber es stimmt nicht immer, dass Kinder aus Migrantenfamilien schlechtere Bildungsabschlüsse haben. Man findet bei Kindern aus Migrantenfamilien die gesamte Spannbreite an Bildungsabschlüssen, die man auch bei Kindern aus deutschen Familien findet.

Ich war am letzten Freitag in einer Grundschule in Magdeburg. Dort habe ich ein kleines rumänisches Mädchen getroffen. Sie ist erst vor wenigen Wochen in Deutschland angekommen und besucht die zweite Klasse. Sie ist, ohne vorher einen Sprachkurs zu belegen, in die Schule gekommen. Den Sprachkurs hat sie nämlich schon in Rumänien besucht. Ihre Eltern sprechen Englisch und Rumänisch, aber nicht Deutsch; sie sind aber dabei, das zu erlernen. Gott sei dank gibt es eine gute Englischlehrerin an der Schule, mit der man kommunizieren kann. Das Mädel hat mir stolz die Hefte gezeigt, in denen jemand in Rumänien, der das noch konnte, in altdeutscher Schrift mit ihr die deutsche Sprache geübt hat.

Damit will ich sagen, dass man an dieser Stelle keine Vorurteile haben darf und keine Pauschalierungen vornehmen sollte. So wie es bei uns Familien gibt, die bildungsfern sind und in denen es Kinder schwer haben, so gibt es nicht nur Kinder aus Migrantenfamilien, die bildungsfern sind. Es gibt auch viele Kinder aus Migrantenfamilien - an solchen Beispielen wird dies deutlich -, die sehr stark bemüht sind und die mit großer Sicherheit ei

nen guten Bildungsabschluss erreichen werden. Deshalb ist es wichtig, auch in diesen Bereich aktiv zu sein.

Ich möchte einige Punkte hervorheben, die sich in dem derzeit noch heiß diskutieren Koalitionsvertrag auf der Bundesebene - bis heute können die SPD-Mitglieder noch abstimmen - zum Thema Migration und Zuwanderung wiederfinden werden. Darin steht, wir wollen bessere Chancen für Eltern mit Kindern mit Migrationshintergrund erreichen; es soll ein Bundesprogramm „Eltern stärken“ aufgelegt werden, mit dem Eltern mit Migrationshintergrund direkt in die Arbeit von Kitas und Schulen einbezogen werden.

Eigentlich müsste es bei uns allen klingeln. Das ist nämlich kein besonderes Thema, das Migrantinnen und Migranten betrifft. Vielmehr versuchen wir, dies auch in sozial schwierigen Umfeldern, die Kinder zum Teil in Deutschland haben, an den Kitas mit den Eltern-Kind-Zentren zu realisieren.

Es ist der richtige Weg, dass man das, was bei uns genutzt wird, um Bildungsherkunft und soziale Herkunft auszugleichen, genauso selbstverständlich überträgt. Das ist eine gute Formulierung im Koalitionsvertrag auf der Bundesebene.

Wir haben in Sachsen-Anhalt möglicherweise bessere Voraussetzungen, dies umzusetzen, da wir bereits solche Eltern-Kind-Zentren an unseren Kindertagesstätten haben und erkannt haben, dass das prinzipiell ein richtiger Weg ist und dass es ohne Elternarbeit nicht geht.