Hiermit eröffne ich die 76. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode. Ich begrüße alle Mitglieder des Hohen Hauses und die Gäste herzlich und stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.
Wir setzen nunmehr die 37. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 19; danach folgt der Tagesordnungspunkt 5.
Ich erinnere daran, dass sich Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff und Staatsminister Herr Robra wegen der Ministerpräsidentenkonferenz ganztägig sowie Minister Herr Stahlknecht entschuldigt haben.
Es passiert nicht sehr häufig, eher sehr selten, dass alle im Landtag vertretenen Fraktionen die Beratung über ein Thema gemeinsam beantragen. Das Thema der heutigen Aktuellen Debatte erklärt selbst, warum dies erfolgte. Und das ist auch gut so.
Die Redezeit je Fraktion und der Landesregierung in der Debatte beträgt zehn Minuten. Es wurde folgende Reihenfolge vereinbart: SPD, GRÜNE, CDU und DIE LINKE. Als erste Rednerin spricht die Vorsitzende der Fraktion der SPD Frau Abgeordnete Budde.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute Morgen, als ich hergefahren bin, bin ich hinter einem blauroten - das ist also politisch völlig unverfänglich - Transporter hinterhergefahren. Auf diesem stand „Zur richtigen Zeit das Richtige tun!“.
Vorgestern vor 25 Jahren fand die zweite große Montagsdemo statt. Überall in der DDR sind Tausende Menschen auf die Straße gegangen: in Leipzig, in Halle, in Stendal, in Magdeburg, in Halberstadt. Die Diktatur, das Unrecht, die Willkür, der wirtschaftliche Niedergang hatten die Menschen in die Kirchen und auf die Straßen getrieben.
Eingesperrte, entmündigte Bürgerinnen und Bürger begehrten auf. Die Losung war „Wir sind das Volk!“, nicht die herrschende Klasse, die nichts mehr zu bieten hat, die in Bezug auf die Probleme im Land sprachlos war.
Diese Losung „Wir sind das Volk!“ war nicht nur Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, sie war auch ein Akt der Emanzipation, sie war auch eine politische Forderung.
Es war eine Befreiung, das laut zu sagen. Hätten wir damals geahnt, was wir heute wissen, nämlich die Angst und die Ohnmacht des Systems gegenüber den Menschen, hätten wir die Losung früher und lauter gerufen.
Die Menschen, die im Herbst 1989 in die Kirchen und auf die Straßen gegangen sind, waren sehr verschieden. Es waren Gläubige und Atheisten. Es waren Kapitalismuskritiker, aber auch Freunde der sozialistischen Marktwirtschaft. Es waren Regimegegner. Es waren Mitglieder der SED-Blockparteien.
„Wir wollen raus!“ - “Wir bleiben hier!“. Viele Menschen riefen „Wir sind das Volk!“, erst einige und dann immer mehr „Wir sind ein Volk!“
Aber ungeachtet dessen, welche Hoffnung der Einzelne mit dem verband, was kommen sollte, teilten wir alle damals doch die Gewissheit: Das, was ist, muss zu Ende sein.
Ich sage „wir“, weil ich das darf. Ich bin - wie sehr viele in diesem Saal - dabei gewesen. Ich war eine von denjenigen, die auf dem Domplatz gestanden haben und in den Dom gegangen sind, die zunächst nicht wussten, was passiert, wenn sie wieder herauskommen. Das war am 9. Oktober 2014. Ich spreche deshalb hier und heute nicht nur als Vorsitzende meiner Fraktion, ich spreche auch ein Stück als friedliche Revolutionärin. Ich bin stolz darauf, dass ich damals dabei war und dass ich auf dieser Seite der Revolution stand.
Meine Damen und Herren! Ich bin auch stolz darauf, was daraus geworden ist. Wir sind damals auf die Straße gegangen, weil wir von einem System genug hatten, das den Stacheldraht zur Staatsdoktrin erhoben hatte, weil Mauer, Panzer und Stacheldraht das Einzige waren, das dieses System am Ende noch zusammenhielt.
Gegen Mauer und Stacheldraht haben wir aufbegehrt und gegen die Panzer hatten wir eine vernichtende Waffe: Kerzen und Gebete. „Keine Gewalt!“ - das war unsere Doktrin.
Horst Sündermann, zu DDR-Zeiten Präsident der Volkskammer, hat dazu später den entlarvenden und so oft zitierten, aber sehr treffenden Satz gesagt: Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.
nur mit Waffengewalt Menschen in ein System zwingen kann, der kann sich nicht vorstellen, dass sich Menschen ohne Waffen daraus befreien können.
Ich weiß noch, wie erleichtert ich am 9. Oktober 1990 war, als wir aus dem Dom kamen und eben nichts passierte.
Ich habe die folgende Geschichte schon einmal erzählt, als es um das Thema „20 Jahre friedliche Revolution“ ging: Mein Vater war in Leipzig; mein Mann und ich waren hier. Meine Mutter hat damals gesagt: Ich bleibe zu Hause; einer muss euch suchen. - Sie musste uns nicht suchen. Das war gut so.
Ich weiß heute nicht mehr, zu welchem Zeitpunkt aus der Erleichterung Hoffnung und wann aus der Hoffnung Gewissheit wurde. Aber irgendwann war klar: Weil die Panzer schwiegen, war die Revolution gewonnen.
Mahatma Gandhi, der Vater aller friedlichen Revolutionen, hat die Ereignisse um das Ende der DDR schon viel früher in prophetischer Weitsicht zusammengefasst. Er sagte:
„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“
Ja, wir haben gewonnen. Gegen einen bis an die Zähne bewaffneten Staat, einen ziemlich perfekten Überwachungsstaat, ist uns eine friedliche Revolution gelungen. Am Ende blieb und bleibt diese friedliche Revolution deshalb ein kleines Wunder.
Meine Damen und Herren! Die Machthaber hätten es besser wissen können, ja, wissen müssen; denn sie hatten es ja selbst gelehrt.
Lassen Sie mich - das ist vielleicht etwas untypisch für das Thema - vortragen, was Lenin als die drei objektiven Merkmale einer revolutionären Situation definiert:
erstens die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; diese oder jene Krise der „Spitzen“, Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss erzeugt, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht,
zweitens Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das gewohnte Maß hinaus und
drittens beträchtliche, aus den angeführten Ursachen sich herleitende Steigerung der Aktivität der Massen, die durch die Verhältnisse der Krise zur selbständigen historischen Aktion herangezogen werden.
Wir alle, viele - manche waren zu jung - haben das freiwillig und nicht wie wir unfreiwillig gelernt.
„Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“
Ein guter Freund hat mir neulich, als wir über 1989 gesprochen und festgestellt haben, dass wir damals wohl auf verschiedenen Seiten waren, erzählt - er war übrigens, soweit ich das einschätzen kann, einer, der von der Richtigkeit des Sozialismus überzeugt war; ich gebe zu, die meisten dieser Menschen habe ich vor dem Jahr 1989 geschätzt -: Als er Anfang Oktober 1990 mit seinem Sohn in einem Café in Leipzig saß und beide von oben sahen, wie Volkspolizisten Demonstranten einkassierten - nicht gerade gewaltfrei -, sagte sein Sohn: Aber Papa, Volkspolizisten sind doch unser Freund und Helfer. Darauf hatte er keine Antwort mehr. Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte, und hat gemerkt, dass etwas passiert.
Meine Damen und Herren! Neben dem Mangel an Freiheit - Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Entscheidungsfreiheit - trieb uns auch der Mangel an Wohnraum, Lebensmitteln und Medikamenten in die Kirchen und auf die Straßen.
Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, hat das wirtschaftliche Elend im Jahr 1989 schriftlich festgehalten: Es gipfelte in verfallenen Altstädten und einer ruinierten Umwelt.
Dieser mit Händen zu greifende Staatsbankrott der DDR, der übrigens nicht durch den mangelnden Fleiß der arbeitenden Werktätigen verursacht wurde - nein, die Menschen haben hier genauso fleißig gearbeitet wie anderswo; daran lag es nicht; das wirtschaftliche Elend der DDR war Ergebnis einer systembedingte Misswirtschaft -, dieses Elend war mit Sicherheit Teil dieser günstigen historischen oder eben auch revolutionären Situation.
Aber es hat das Ende der DDR nur befördert, nicht herbeigeführt; denn Revolutionen passieren nicht, sie müssen gemacht werden. Revolutionen müssen von Menschen gemacht werden, die für ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen.
Deshalb, meine Damen und Herren, fehlt mir jegliches Verständnis für die Äußerungen Helmut Kohls, der als Kanzler die Einheit mitgestalten durfte.
„Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert“, sagte Kohl. Vielmehr sei die Schwäche Moskaus für den Zu
sammenbruch der kommunistischen Diktatur in der DDR ursächlich gewesen. Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am „Arsch des Propheten“ war und das Regime nicht halten konnte. Die Vorstellung, die Revolutionäre im Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regimes erkämpft, sei „dem Volkshochschulhirn von Thierse entsprungen“ - so weit Kohl.
Ich will jenseits meines Unverständnisses über so viel Geringschätzung überhaupt nichts weiter sagen; denn ich denke, dieses Unverständnis teilen hier viele. Das spricht für sich.