Protokoll der Sitzung vom 23.04.2015

Das gilt umso mehr in einem Land, das auf Zuwanderung angewiesen ist, einem Land, das, in der

Mitte Europas gelegen, vom Austausch mit anderen Nationen lebt. Zukunft gibt es nur gemeinsam. Das gilt für unser Zusammenleben in Sachsen-Anhalt ebenso wie für das Zusammenleben in Europa und der Welt. - Herzlichen Dank.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)

Danke schön, Herr Ministerpräsident. - Das war die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 b auf:

Aussprache zur Regierungserklärung

Als Erstem erteile ich dem Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE Herrn Gallert das Wort. Zuvor können wir weitere Gäste im Haus begrüßen. Wir heißen Schülerinnen und Schüler des Hegel-Gymnasiums Magdeburg herzlich willkommen.

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in Replik auf die Rede des Ministerpräsidenten zu unserem heutigen Thema voranschicken, dass ich im Grunde genommen sehr froh darüber bin, dass es heute diese Regierungserklärung gegeben hat. Ich habe bereits im Februar 2015 bei der Debatte zu unserem grundsätzlichen Antrag zu der Problematik gesagt, ich hätte die Regierungserklärung gern schon im Januar gehabt. Spät ist aber nicht immer zu spät.

Ich möchte auch vorwegschicken, dass ich froh darüber bin, dass der politische Konsens zu ganz grundsätzlichen Fragen von Zuwanderung bei uns im Land Sachsen-Anhalt offensichtlich deutlich breiter ist als zum Beispiel in Bayern oder in Sachsen. Damit haben wir deutlich bessere Voraussetzungen, um Zuwanderung wirklich als Chance zu begreifen und zu gestalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich werde noch zu politischen Differenzen kommen, aber das möchte ich zunächst vorwegschicken, weil es wichtig ist. Es geht bei dieser Frage, wie gestalten wir Zuwanderung, wie gestalten wir Migration, um ein ganz grundsätzliches Thema unserer Gesellschaft.

Es ist kein Zufall, Herr Ministerpräsident, dass wir beide als Debattengrundlage dieselben Zitate verwenden - Sie aus der Landesverfassung und ich

aus dem Grundgesetz -, nämlich den politischen Auftrag, der in dem Satz formuliert ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nicht: Die Würde des deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Und auch nicht: Die Würde der Menschen innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland ist unantastbar. Es gilt die universelle Aussage: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist der Auftrag, den uns allen gemeinsam das Grundgesetz gibt, dem wir uns auch und gerade in der Frage der Zuwanderung gemeinsam verpflichtet fühlen.

Wir haben es mit der Problematik zu tun - eigentlich nur mit einer Aufgabe, nicht mit einem Problem -, dass weit über das Thema Zuwanderung, weit über das Thema Migration hinaus die Grundlagen unserer Gesellschaft zur Debatte stehen. Wir können gern darüber diskutieren, ob dieser Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ innerhalb unserer Gesellschaft nicht schon vor langer Zeit zur Diskussion gestellt worden ist.

Gerade zu dem Verhalten gegenüber Menschen, die zu uns kommen, Flüchtlingen, Asylbewerbern, haben wir in den letzten Jahren eine Menge von Studien gelesen, in denen registriert wurde, dass es in breiten Teilen der Bevölkerung eine substanzielle Skepsis, Angst, Vorurteile und Abwehr gegenüber all dem gibt, was uns an Menschen und mit ihnen ihre Kultur, ihr Hintergrund hier in Sachsen-Anhalt und in der gesamten Bundesrepublik erreicht.

Neu ist - das muss man klar sagen -, dass mit den Wahlerfolgen der AfD, mit den Pegida-, Magida- und Legida-Debatten ein Tabu gebrochen wurde, nämlich das Tabu, dass es in dieser Bundesrepublik Deutschland nicht erlaubt ist, offen rassistisch und ausländerfeindlich zu diskutieren und sich so zu positionieren. Dieses Tabu ist gebrochen worden. Dieses Tabu ist seit wenigen Monaten nicht mehr existent. Deswegen haben wir eine zugespitzte Debatte in unserer Gesellschaft, wie wir die Gesellschaft insgesamt gestalten wollen.

Mir ist es wichtig, Folgendes zu sagen: Wer einmal die Universalität von Menschenrechten, wer einmal die Universalität des Satzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ infrage stellt, der tut das nicht nur bei Ausländern, bei Fremden, bei Flüchtlingen, der tut das auch bei jeder anderen x-beliebigen anderen Menschengruppe.

Wenn wir die Universalität der Menschenrechte bei einer Gruppe infrage stellen, dann stellen wir sie bei allen infrage. Dann können wir auch die Frage nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau infrage stellen. Dann können wir auch die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensentwürfe, zum Beispiel von gleichgeschlechtlichen Paaren, infrage stellen. Und viele, viele Themen schließen sich daran an.

Deswegen ist es übrigens auch nicht verwunderlich, dass diejenigen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, die ausdrücklich gegen Ausländer hetzen, die Hass schüren, die Ängste schüren, die gleichen sind, die sich auch bei anderen Gruppen in unserer Gesellschaft in ähnlicher Art und Weise diskriminierend positionieren. Das kann der Hartz-IV-Empfänger genauso sein wie derjenige, der krank ist, oder eben Frauen oder diejenigen, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben.

Wir müssen die Universalität der Menschenrechte gegenüber jeder Menschengruppe einklagen und verteidigen, ansonsten steht die Grundlage unserer gesamten Gesellschaft, und zwar für jeden, infrage.

(Beifall bei der LINKEN)

Für den, der das vielleicht noch nicht mitbekommen hat: Eine solche Gruppe können übrigens sogar Politiker sein, wie es in den letzten Wochen und Monaten verschärft deutlich geworden ist. Viele von denen, die in der Politik aktiv sind, haben erst in den letzten Wochen und Monaten selbst erfahren, was Aggressivität, was Ausländerfeindlichkeit, was Rassismus bedeutet. Sie machen jetzt die Erfahrung, die viele Menschen in der Bundesrepublik, die deutlich als Menschen, die zu uns gekommen sind, erkennbar sind, schon seit vielen Jahren machen.

Jetzt haben wir eine neue Erfahrung, nämlich dass es nicht nur Menschen mit Flüchtlingshintergrund, mit Migrationshintergrund trifft, sondern jetzt sind es auf einmal sogar Politiker. Das ist eine interessante Erfahrung, die auch die Chance zu einer neuen Debatte und Perspektivenübernahme bietet. Insofern ist es durchaus eine interessante Neuentwicklung.

Ich komme zum Nächsten. Sie haben völlig Recht, Herr Ministerpräsident: Die Debatte über die Abwehr von Zuwanderung ist unter den Bedingungen des Landes Sachsen-Anhalt an Absurdität und Dummheit nicht zu übertreffen. Wir brauchen diese Zuwanderung!

(Beifall bei der LINKEN - Herr Schröder, CDU : Gesteuert!)

- Ich komme gleich noch zu unseren Differenzen, Herr Schröder.

(Herr Schröder, CDU: Das habe ich nicht anders erwartet!)

Wir brauchen diese Zuwanderung. Dazu sage ich ganz klar: Hierin haben wir eine gewaltige Differenz. Unsere Position besteht nämlich darin, dass, wenn wir die Rahmenbedingungen richtig gestalten, sich die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes, das hier geboren wird, eben nicht von den Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes oder

eines Jugendlichen aus einer Roma-Familie, die aus Rumänien kommt, unterscheidet, oder einer Flüchtlingsfamilie aus Syrien oder von Menschen, die vor Armut, Hunger und Elend aus Afrika fliehen. All diese Menschen haben die gleichen Entwicklungschancen, wenn wir ihnen die gleichen Entwicklungschancen geben. Das ist eine der Grundlagen unserer Position.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen sage ich ganz deutlich, dass der Begriff der gezielten Zuwanderung - wir suchen uns die Rosinen heraus, die uns gerade in den Kram passen - für uns eine außerordentlich gefährliche Positionierung darstellt.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn damit wird in letzter Konsequenz auch wieder eine Abstufung vorgenommen, die wir nicht dulden wollen und die übrigens das Einfallstor für diejenigen ist, die die Würde des Menschen infrage stellen, wenn sie auf die Straße gehen.

(Herr Borgwardt, CDU: Warum picken wir uns die Rosinen heraus?)

Ich sage auch klar: Es fällt uns natürlich nicht ganz leicht, die gleichen Grundsatzpositionen immer wieder zu wiederholen. Ich möchte nur noch einmal sagen: Im September 2014 haben wir einen Antrag gegen die Verschärfung des Asylrechts eingebracht; er ist abgelehnt worden. Wir haben im Oktober 2014 die Problematik der Kriegsflüchtlinge aus Irak und Syrien in den Landtag gebracht. Wir haben im November 2014 den Abschiebestopp in Ebola-Gebiete im Landtag thematisiert. Im Februar 2015 haben wir die Grundsatzdebatte mit unserem Antrag zu Zuwanderung und Teilhabe realisiert und in der letzten Landtagssitzung haben wir den Antrag zu dem Thema Rassismus bekämpfen eingebracht. Zu all diesen Dingen haben wir unsere Grundposition bereits dargestellt.

Ich möchte jetzt noch einmal zu zwei ganz wesentlichen Dingen kommen, die aus unserer Sicht notwendig sind, um Zuwanderung und Migration als Chance zu gestalten. Erstens brauchen wir eine grundsätzliche Veränderung im politischen Herangehen an dieses Thema. Denn das grundsätzliche Problem besteht noch immer darin, dass wir - das merkt man an vielen, vielen Stellen - das Thema Zuwanderung noch immer als zu verwaltendes Problem und nicht als zu ergreifende Chance ansehen. Diese Perspektive müssen wir ändern! Es ist kein zu verwaltendes Problem. Es ist eine zu ergreifende Chance, die für uns alle wichtig ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte das kurz illustrieren. Warum ist für diese Thematik eigentlich ein Innenminister zuständig?

(Zustimmung von Herrn Striegel, GRÜNE)

Er hat zu unserem Grundsatzantrag im Februar 2015 geredet. Das ist falsch. Es ist kein durch den Minister zu exekutierendes Problem, der für Repression zuständig ist - und das ist er objektiv, weil er für die Polizei zuständig ist.

(Herr Borgwardt, CDU: Das ist aber sehr verkürzt! - Herr Schröder, CDU: Er ist auch für Sport zuständig! - Zuruf von Minister Herrn Stahlknecht)

- Also, dass der Innenminister mit seiner Polizei für Repression zuständig ist, dürfte jeder, der irgendwann einmal zwei Semester Staatsrecht - ach, was sage ich -, der zwei Schuljahre Politik unterrichtet bekommen hat, eigentlich wissen.

(Heiterkeit bei den GRÜNEN - Herr Borg- wardt, CDU: Und auch für Schutz!)

Dazu sage ich ganz deutlich: Nein, die Zuständigkeit muss anders verteilt werden. Wir brauchen auch in Sachsen-Anhalt, ähnlich, wie es jetzt in Thüringen ist, einen Integrationsminister; denn es ist etwas zu integrieren, nicht zu exekutieren.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Natürlich könnte es auch der Sozialminister sein oder der Bildungsminister, der dafür zuständig ist. Was wir hier haben, ist eine komplexe Aufgabe, die wir komplex angehen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Perspektivenwechsel auch für uns vornehmen. Wir brauchen erstens einen Integrationsminister, der für diese Aufgabe zuständig ist - nicht den Innenminister, der natürlich in erster Linie damit identifiziert wird, die Dinge zu verwalten oder natürlich auch Repressionsmaßnahmen zu realisieren. Das ist doch klar.

Zweitens. Wir brauchen eine Sprache in der Politik, die die menschenfeindliche, die menschenverachtende Positionierung vieler Menschen in unserer Gesellschaft nicht noch extra bestärkt. Ja, wir haben mit der AfD eine neue rechtspopulistische Partei, deren existenzielle Grundlage in Ostdeutschland Hass und das Schüren von Ressentiments ist. Punkt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber ich sage ganz klar: Das geht darüber hinaus. Und wenn in einer solchen aufgeheizten Situation, wie wir sie seit vielen Monaten haben, der Parteichef der CSU, Teil dieser Bundesregierung, Herr Seehofer, noch immer diesen Blödsinn quatscht, Deutschland dürfe nicht das Sozialamt der Welt werden, dann ist er genauso jemand, der Öl ins Feuer gießt und die Würde des Menschen zur Disposition stellt.