Für die Aussprache zur Großen Anfrage wurde die Debattenstruktur „D“, also eine 45-Minuten-Debatte, vereinbart. Die Reihenfolge der Fraktionen und ihre Redezeiten: SPD acht Minuten, DIE LINKE neun Minuten, CDU zwölf Minuten und GRÜNE vier Minuten.
Gemäß § 43 Abs. 6 der Geschäftsordnung erteile ich zunächst der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dem Kollegen Herbst, das Wort. Doch bevor er reden kann, begrüßen wir Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Seien Sie herzlich willkommen!
Da Sie alle gut vernetzt sind, würde ich darum bitten, dass noch einige Kollegen hereingerufen werden. Sonst macht das einen sehr eigenartigen Eindruck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es, ehrlich gesagt, für ein ziemlich schwieriges Zeichen, gerade auch in der Gegenwart von Geflüchteten, die Gegenstand der heutigen Debatte sind, dass das Haus großenteils leer ist.
liebe große Koalition, das ist ein Armutszeugnis. Es zeigt, wie wichtig Ihnen das Thema letztlich ist.
Meine Damen und Herren! Am Samstag vor zwei Wochen durfte ich auf Gleis 2 des Bahnhofs von Saalfeld Zeuge eines historischen Ereignisses werden. Um 20.53 Uhr erreichte ein Zug der österreichischen Bundesbahn den Bahnhof, und 570 vorrangig syrische Geflüchtete stiegen erleichtert aus, darunter viele Kinder.
In den Gesichtern der meisten Menschen zeichneten sich deutlich die Müdigkeit und die Strapazen der Flucht ab. Doch das überwiegende Gefühl war das großer Erleichterung, Freude und Dankbarkeit. „Thank you, Germany“-Schilder wurden hochgehalten. Es war ein phantastischer Anblick, wie die Menschen, die oft nur noch ihre Kleidung und vielleicht einen Beutel bei sich hatten, von Hunderten Menschen jubelnd in Empfang genommen wurden, bevor sie in Busse auch nach Sachsen-Anhalt gestiegen sind.
An diesem Abend auf dem Saalfelder Gleis 2 wurde tatsächlich Geschichte geschrieben. Dieser Moment entfaltete eine unglaubliche Kraft, die sich auf alle Beteiligten übertrug, gleich ob Polizisten, Sanitäter, freiwillige Helfer, Journalisten oder die Hunderte Menschen vor dem Bahnhof. In diesem Moment war allen klar, dass in diesem Moment das thüringische Saalfeld das Zentrum der gelebten Grundwerte Europas war, meine Damen und Herren.
Wie sich doch die Bilder gleichen. Vor 26 Jahren, am 19. August 1989, wurde beim Paneuropäischen Picknick bei Sopron ein Grenztor für einige Stunden geöffnet. Zehntausende Menschen aus der DDR strömten in den folgenden Tagen nach Ungarn, in der Hoffnung, von dort aus nach Westdeutschland gelangen zu können.
Am 10. September löste dann der ungarische Außenminister Horn Begeisterungsstürme aus, als er den DDR-Flüchtlingen die Ausreise gestattete, die daraufhin und am Folgetag mit Zügen über Österreich nach Westdeutschland ausreisten.
„Der Zustrom von DDR-Flüchtlingen über Österreich und Ungarn hält an. Von Donnerstag bis Freitag früh trafen nach Angaben des Bundesgrenzschutzes wieder 313 Übersiedler in Bayern ein. Damit hätten seit Öffnung der ungarischen Grenzen am 11. September insgesamt 51 138 DDR-Flüchtlinge die Notaufnahmelager durchlaufen.“
Nie wieder, meine Damen und Herren, rückte Europa so stark zusammen wie in diesen Tagen damals. Nie wieder wurden die europäischen Grundwerte von Freiheit, Frieden und Solidarität so sichtbar. Und nie wieder - das schworen die Bürgerinnen und Bürger Europas - sollten Grenzen die Menschen trennen.
Deswegen war es so besonders, als ein Zug mit Geflüchteten aus Syrien über Ungarn und Österreich zu uns nach Ostdeutschland kam. Hier auf Gleis 2, 26 Jahre nach dem Paneuropäischen Frühstück, wurde für einen kleinen Moment die Einheit Europas Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren! Ich möchte an diese Bilder anknüpfen, weil sie insbesondere uns Ostdeutschen doch einen Spiegel vor Augen halten.
Und noch etwas ist wichtig an Saalfeld. Dieser Abend hat gezeigt, dass eine andere Politik ganz real möglich ist. Er hat gezeigt, dass Menschlichkeit und gelebte Solidarität nicht nur leere Worthülsen sein müssen, dass sie vielmehr ganz konkret zur Richtschnur konkreten politischen Handelns werden können.
Dieser Paradigmenwechsel im Denken, meine Damen und Herren, ist notwendig. Wir müssen aus der gesamten Debatte endlich die Problembehaftung herausnehmen. Es muss Schluss sein mit der Katastrophenrhetorik, mit der Alarmstimmung und dem Angstgeschrei.
Wir haben keine militärische und keine Naturkatastrophe. Also brauchen wir auch nicht solche Mittel zur Bewältigung, meine Damen und Herren.
Deutschland und damit Sachsen-Anhalt erleben einen Einwanderungsprozess, der uns herausfordert, ja. Diese Herausforderung ist anzunehmen, und sie ist zu bewältigen.
Aber eines, meine Damen und Herren, ist doch dafür Grundvoraussetzung: gutes Regierungshandeln, das Recht und Verfassung einhält und nicht beugt, wenn es um das Asylrecht geht. Gutes Regierungshandeln, das vorausschauend plant und Ressourcen unseres Bundeslandes richtig einsetzt, damit niemand unter menschenunwürdigen Bedingungen leben muss. Gutes Regierungshandeln, das endlich anerkennt, dass die Einwanderung nach Sachsen-Anhalt in erster Linie eine gigantische Chance darstellt.
Seit 25 Jahren, Kollege Borgwardt, reden wir in diesem Land über Abwanderung. Ganze Wohnviertel wurden abgerissen. Der ländliche Raum dünnt aus. Bahnlinien werden stillgelegt. Diese Regierung hat fliegende Stände auf die Marktplätze westlicher Städte geschickt und dort Leute aufgefordert, ihre Existenz aufzugeben und nach Sachsen-Anhalt zu ziehen. Sie haben Urlaub in der Heimat gefordert, haben Heimatschachteln gebastelt und Kinderprämien gezahlt. Kein Vorschlag war verrückt genug, als dass Sie ihn nicht umgesetzt hätten - aber natürlich erfolglos.
Nun, meine Damen und Herren, steht SachsenAnhalt vor einer historischen Chance, der größten Chance seit der Wiedergründung unseres Bundes
landes. Wir brauchen Einwanderung. Ohne kompensatorische Maßnahmen wird nicht nur die Bevölkerungszahl weiter sinken, sondern auch die Zahl der Menschen, die in der Lage sind, Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen.
Und was tut die Landesregierung in dieser Situation? Sie betreibt politisches Krisenmanagement. Ihre Landesregierung, lieber Herr nicht anwesender Ministerpräsident, lässt die größte Zukunftschance verfliegen, weil sie der falschen Grundannahme unterliegt, dass diese Chance eigentlich eine Bedrohung ist. Diese gravierende Fehleinschätzung ist schlecht für die Menschen in unserem Land.
Herr Minister, niemand wirft Ihnen vor, was Sie zum Beispiel in der ZASt gemacht haben. Ich habe die Einrichtung in den letzten Jahren auch mehrfach und in den letzten Wochen wiederholt besucht. Ich habe sie auch schon besucht, als 200 Menschen, Familien mit Kindern, auf dem Fußboden in der Turnhalle lagen, mit zwei Toiletten und ohne Waschmöglichkeiten. Da war alles, was jetzt da ist, noch nicht da.
Wissen Sie eigentlich, wann diese Turnhalle zum Mal belegt wurde? Nicht vor ein paar Monaten, sondern im Oktober 2013. In diesem Monat gab es nämlich dort 389 Erstanträge. Ich habe die Zahlen hier.
Das sind unsere Erhebungen, amtlich. Und was haben Sie getan? - Sie haben zu diesem Zeitpunkt eine Planung für die Renovierung eines Blocks in Auftrag gegeben, die die oberen beiden Etagen unberücksichtigt ließ. Das sind 200 Plätze, die uns bis heute fehlen.
Genau ein Jahr später, im Oktober 2014, hatten wir 800 Erstanträge, also genau doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Was tat die Landesregierung? - Nichts. Jeden Monat stiegen dann die Zugangszahlen weiter an, alles amtlich erfasst. Spätestens zum Jahreswechsel 2014/2015, als die Zahlen die Marke von 1 000 pro Monat überstiegen, hätten Sie endlich aus Ihrem Tiefschlaf erwachen und erkennen müssen, dass eine einzige Erstaufnahmeeinrichtung nicht ausreicht.
Weil Sie jetzt immer auf die fehlerhaften Prognosen des Bundesamtes verweisen: Meines Erachtens ist das die Suche nach einem Sündenbock für die Tatenlosigkeit. Die Zahlen, die ich genannt